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Weiter wie bisher, aber mit Karacho

Von Elmar Altvater *


Ein rigider Sparkurs: Darauf haben sich beim Gipfeltreffen der EU-Staats- und RegierungschefInnen Ende vergangener Woche fast alle EU-Länder verständigt. Ihr Konzept unterhöhlt die Demokratie, schützt private Vermögen – und löst kein einziges Problem.

Es waren markige Sprüche, die am Ende des Eurogipfels fielen: «Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken», hiess es in der Schlusserklärung, und man werde für eine «rasche und energische Durchführung der bereits vereinbarten Massnahmen» sorgen. In allen Verfassungen der EU-Staaten werde künftig, so einer der Brüsseler Beschlüsse, eine Schuldenbremse verankert. Kontrollen durch die EU-Kommission und automatische Sanktionen gegen Defizitländer sollen dafür sorgen, dass die jetzt EU-weit beschlossene Sparpolitik – die bereits Irland, Griechenland, Portugal, Spanien und Italien aufgezwungen worden war – eine vertragliche Grundlage bekommt, die auch vor dem Europäischen Gerichtshof einklagbar ist. Und damit den privaten Finanzinstituten keine öffentliche Konkurrenz entsteht, wird der europäische Rettungsfonds (ESFS) nicht mit einer Bank­lizenz ausgestattet. Also weiter wie bisher, lautet die Losung, nur mit Karacho.

SchuldnerInnen müssen deshalb den Gürtel noch enger schnallen, eine «Beteiligung des privaten Sektors» an der Krisenbewältigung habe sich «strikt an den bewährten Grundsätzen und Verfahren des Internationalen Währungsfonds» zu orientieren. Und einen partiellen Forderungsverzicht des Privatsektors (wie im Fall Griechenland) dürfe es nicht noch einmal geben. Der Finanzsektor kann also weitermachen wie bisher, unbehelligt von politischen Auflagen.

Das ist sehr nobel von den Regierenden. Denn zeitgleich mit dem Eurogipfel hat die EU-Bankenaufsicht in einem sogenannten Stresstest festgestellt, dass Europas Banken etwa 115 Milliarden Euro Haftungskapital fehlen. Sie müssen in den nächsten Monaten viel Geld aufbringen, um die ihnen vorgegebene Kernkapitalquote von neun Prozent bis Ende 2012 zu erreichen. Die Banken sind also klamm. Kein Wunder, dass sie beim Kauf von Staatsanleihen zurückhaltend agieren, und zwar selbst im Fall von Ländern, die als solide gelten. Mit grossen Hebeln haben die Finanz­institute bisher die Eigenkapital­rendite auf zweistellige Prozentwerte und die Boni und Prämien für das Management in Milliardenhöhen getrieben.

Sogar die Banker sind frustriert

Nun ist «deleveraging» angesagt, die Aufnahme von Eigenkapital. Schliesslich fallen jetzt Staaten als «borrowers of last resort», als Schuldner der letzten Instanz, aus. Ihnen konnten die Banken bisher jenes Geld zu hohen Zinsen ausleihen, das sie billig bei der Europäischen Zentralbank als «lender of last resort» aufgenommen hatten. Damit fehlen die schönen Profite aus der Differenz von Soll- und Habenzinsen, das herrlich leistungslose Einkommen von «Leistungsträgern».

Die Ratingagenturen haben sich nämlich den Euroraum vorgenommen und verschonen kein Land, kein Finanzinstitut, keine Versicherung, keinen souveränen Fonds vor der Abwertung der Kreditwürdigkeit. Das gilt selbst für den Europäischen Stabilitäts­mechanismus, der jetzt «beschleunigt» eingerichtet werden soll. Mit diesem Down­grading steigen die Zinsen, also die Belastung von SchuldnerInnen (Pech gehabt) und die Renditen von FinanzvermögensbesitzerInnen (wie schön für sie). Die öffentlichen Kassen werden geplündert. Kein Wunder, dass die Staatsverschuldung trotz der Vorgaben der Maastricht-Kriterien in allen Euro-Ländern massiv gestiegen ist. Dabei werden die SchuldnerInnen wie in einem Pfänderspiel gezwungen, Kleider abzuwerfen, also sich des schützenden Sozialstaats zu entledigen.

Mit der brutalen Kürzung der Sozial­ausgaben verliert aber die Demokratie ihre soziale Substanz. Übrig bleibt (noch) die formale Demokratie der regelmässigen und freien Stimmabgabe. Für soziale Alternativen gibt es in der «verstärkten Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion», die die EU anstrebt, keinen Raum mehr. Aber was und wem nützt eine Demokratie, deren Substanz nicht mehr vorhanden ist? Neuer Raum für Alternativen kann nur geöffnet werden, indem er besetzt wird: «Occupy!» Kürzlich berichtete die «Financial Times Deutschland», dass selbst Frankfurter Banker, nachdem sie tagsüber ihren Geldgeschäften nachgegangen sind, am Abend bei Occupy mit­machen. Die Frustration über die Krise und die Art und Weise ihrer Bekämpfung ist selbst bei jenen gross, die das Finanzrad drehen.

Das ist verständlich. Denn die Krisen­bekämpfung ist nicht nur unsozial und un­demokratisch, sie ist obendrein unwirksam. Um das zu erkennen, reichen schon Grundkenntnisse in der volkswirtschaftlichen Saldenmechanik. Diese lehrt, dass in einem geschlossenen System nicht alle zugleich sparen können, dass die Überschüsse der einen die Defizite der anderen sind. Alle europäischen Länder können nur dann einen Haushalts- und Leistungsbilanzüberschuss erzielen, wenn ein neoliberales Wunder passierte oder realistisch unterstellt werden könnte, dass die USA und China oder Japan und andere Länder Defizite einfahren. Über diesen quacksalberischen Irrealismus lachen schon die Hühner.

Was getan werden könnte

Die jetzt vereinbarte Schuldenbremse soll die Defizite des öffentlichen Sektors senken und sogar Budgetüberschüsse erzwingen. Das ist nur möglich, wenn Defizite des privaten Sektors in Kauf genommen werden. Doch die dürfen nicht zu gross werden. Also sorgt die Sparpolitik dafür, dass beispielsweise Arme weniger konsumieren und Firmen weniger investieren. Auf diese Weise wird die Binnennachfrage gestutzt – mit der Folge, dass die finanziellen Instabilitäten, die sich zur Finanzkrise zugespitzt hatten, erst recht zunehmen werden.

Die Beschlüsse von Brüssel enthalten zudem – wohl auf deutschen Druck – noch nicht einmal die Perspektive eines «grünen» Investitionsprogramms. Und das, obwohl der EU-Gipfel zeitgleich mit der Uno-Klimakonferenz in Durban stattfand und die Internationale Energieagentur vor wenigen Tagen in ihrem «World Energy Report 2011» Investitio­nen von bis zu 2000 Milliarden Euro in den nächs­ten zwei Jahrzehnten angemahnt hat, um das Klima zu stabilisieren. Die Logik, die sich in Brüssel durchsetzte, ist schlicht: Rettung der Finanzvermögen um jeden Preis – durch Sparprogramme, die die Schulden­dienstfähigkeit der Staaten erhalten oder wiederherstellen. Da bleibt für grüne Investitionen kein Spielraum: Après nous le déluge.

Die Banken brauchen SchuldnerInnen, denn nur durch sie steigern sie die Finanzvermögen. Diese bringen nur dann eine Rendite, wenn die SchuldnerInnen ihre Schuld samt Zinsen auch begleichen. Bislang haben, wenn private SchuldnerInnen – wie etwa Banken – ausfielen, die Staaten die Schulden übernommen, um Privatvermögen zu retten. Das hat fast überall in Europa die öffentlichen Finanzen ruiniert, auch in Britannien. Im Mutterland der modernen Industrie trägt der Finanzsektor zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr als zehn Prozent zum britischen Sozialprodukt bei. Dieser Sektor produziert selbst jedoch nichts ausser finanziellen Forderungen («financial claims»), die mit real produzierten Überschüssen aus aller Welt, wo die Investmentbanken Anlagen halten, bedient werden müssen. Es bildete sich eine unproduktive Schmarotzerökonomie heraus, die zu schützen die vornehmliche Aufgabe der britischen Regierung zu sein scheint.

Das müsste nicht sein. Die von der deutschen Regierung strikt abgelehnten europäischen Anleihen, die sogenannten Euro-Bonds, würden die Zinsdifferenziale und daher die Spekulation schwächen. Die frei flottierenden Finanzpapiere müssten massiv reduziert werden, um die finanziellen Forderungen an die Leistungsfähigkeit der realen Ökonomie wieder anzupassen. Ohne einen beträchtlichen Vermögensschnitt gibt es keinen Ausweg aus der Krise. Die Frage ist nur: Wie? Durch eine Entwertung des Geldes, die alle trifft, vor allem jene, die sich vor den Folgen einer Inflation nicht schützen können? Oder durch eine Vermögensabgabe der Reichen, die aus Einsicht in die systemische Notwendigkeit selbst von manchen Spekulanten wie Warren Buffett oder George Soros vorgeschlagen wird?

Zu all diesen drängenden Fragen schwieg sich der Brüsseler Gipfel aus. Und deshalb kann bald die nächste Krisenrunde eingeläutet werden.

EU-Schacher

Vor dem Gipfel versuchte Britannien, den Widerstand gegen den EU-Sparkurs zu koordinieren. Zunächst kündigten auch Ungarn, Tschechien und Schweden ihre Opposition dagegen an. Schliesslich aber signalisierten die Regierungen von 26 EU-Staaten – teilweise vorbehältlich der Genehmigung durch die Parlamente – ihre Zustimmung zum Kurs und liessen Britannien mit dessen Veto allein.



* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 15. Dezember 2011


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