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Merkel setzt sich durch – Titanic hält Kurs

Von Peter Wahl *


Der EU-Gipfel am 8./9. Dezember stand unter hohem Erwartungsdruck. Vom „Schicksalsgipfel“ war die Rede und ein Durchbruch bei der Eurokrise wurde erhofft. Das Ergebnis ist ernüchternd. Das Rezept der Bundesregierung – Fiskalunion und Austeritätspolitik – hat sich durchgesetzt und wird durch eine Vertiefung der Integration institutionell zementiert. Die Krise wird damit jedoch nicht gelöst, schreibt Peter Wahl.

Fiskalunion, Schuldenbremse, automatische Sanktionen – was sich seit Monaten in Debatten und EU-Richtlinien, wie dem sog. Six Pack zur ökonomischen Governance abzeichnete, wird jetzt verbindlich umgesetzt. Dabei wird die Illusion erzeugt, dies sei der Weg aus der Krise. Aber so wie das bisherige Durchwursteln die Lage immer wieder verschlechtert hat, so werden auch die jüngsten Beschlüsse die Schuldenkrise, die ökonomische, politische und die Legitimationskrise der EU verschärfen.
Denn:
  • wenn alle gleichzeitig sparen, wird dies zu einem Nachfrageschock führen. Es droht eine deflationäre Abwärtsspirale. Es wird schwerer, aus den Schulden herauszuwachsen;
  • die Weltwirtschaft steht an der Schwelle eines konjunkturellen Abschwungs. Damit vermindern sich 2012 die Ausweichmöglichkeiten, z.B. an China und andere Schwellenländer zu exportieren;
  • viele europäische Banken sind noch - oder wieder - in einer prekären Lage und brauchen frisches Kapital. Da genügt eine kleiner Windstoß, um den nächsten Bankenkrach auszulösen;
  • es wird ein Typus von Integration fortgeschrieben, der Anfang der neunziger Jahre mit dem Binnenmarkt und Maastricht begonnen hatte: die einseitige Ausrichtung der EU an neoliberalen Konzepten und Kapitalinteressen;
  • demgegenüber werden als Resultat des Austeritätskurses deutsche „Errungenschaften“ wie Hartz IV, Rentenalter mit 67 und stagnierende Reallöhne jetzt auf die EU übertragen. Was als „die europäischen Werte“ gepriesen wird - Kooperation, Solidarität, Demokratie - findet dagegen weiterhin nur in Sonntagsreden statt. Harmonisierung als race to the bottom!
  • der automatische Disziplinierungsmechanismus und die Aufwertung der EUKommission, verstärken die undemokratischen, autoritären Züge der EU. Das Budgetrecht der nationalen Parlamente, ein Grundpfeiler der Demokratie, wird ausgehöhlt, ohne dass dem ohnehin kastrierten Europaparlament neue Rechte zugestanden würden.
Tiefer liegende Ursachen der Krise ausgeblendet

Die tiefer liegenden Ursachen der Krise wurden auch auf diesem Gipfel ausgeblendet. An erster Stelle die Ungleichgewichte in den Handels- und Zahlungsbilanzen zwischen den Überschussländern im Norden und den Defizitländern im Süden. Insbesondere der deutsche Exportvizeweltmeister, der sich dank sinkender Lohnstückkosten und der rot-grünen Agenda 2010 auch auf Kosten der deutschen Lohnabhängigen seit zehn Jahren Wettbewerbsvorteile verschafft, ist kein Thema.

Ebensowenig wurden der „verwilderte Finanzkapitalismus“ (Habermas) und die Abhängigkeit der öffentlichen Finanzen von der Anarchie der Märkte bei diesem Gipfel angepackt.

Hängematte für die Banken

Symptomatisch dafür ist, dass ein Haircut - im Rettungspaket für Griechenland noch als „freiwillige“ Schuldenreduzierung vorgesehen – ausdrücklich nicht mehr vorkommt. In der Abschlusserklärung wird der griechische Haircut geradezu servil als einmalige Ausnahme bezeichnet.

Stattdessen sollen für eine potentielle Gläubigerbeteiligung die Regeln des IWF gelten. Wer sich an das Management der Schuldenkrise der Entwicklungsländer 1982 ff. erinnert, weiß dass die Banken von dieser Seite nicht viel zu befürchten haben.

Allerdings, auch wenn man sich von Herzen wünscht, Ackermann mindestens einen Irokesenschnitt wenn nicht eine Vollglatze zu verpassen, unter den gegeben Umständen ist ein Haircut tatsächlich kontraproduktiv. Denn eine substantielle Regulierung der Finanzmärkte kommt nicht vom Fleck. Regeln, wie die EU-Direktive zu Hedge Funds oder zur europäischen Aufsicht sind Papiertiger. Andere, wie die neuen Eigenkapitalregeln (Basel III) sollen erst 2018 vollständig in Kraft treten oder riskieren, wie die Direktive zur Finanztransaktionssteuer unter dem Einfluss der Finanzlobby verwässert zu werden. Andere wiederum sind gerade mal im Ankündigungsstadium, wie die Regulierung von Derivaten, der Rating Agenturen oder der too big to fail Problematik. Fragen, wie die Trennung von Spekulation (vulgo: Investmentbanking) und Geschäftsbanken sind noch nicht einmal auf die Tagesordnung gekommen.

Solange dies so bleibt, ist man tatsächlich dem „Vertrauen der Märkte“ ausgeliefert und darf das scheue Reh nicht erschrecken. Es bleibt dann aber nur noch der Steuerzahler übrig, um die Schulden zu bezahlen.

EZB - Feuerwehr ohne Löschwasser

Keinerlei Zugeständnisse machte Merkel beim Thema Europäische Zentralbank. Sie beharrt darauf, dass die EZB auf keinen Fall das tun darf, wozu Zentralbanken erfunden wurden: im Notfall durch unbeschränkte Geldschöpfung den Staatsbankrott verhindern. Die USA machen das, Japan auch, selbst Großbritannien tut es. Die EZB ist die einzige Zentralbank, der dies per Statut verboten ist. Die Bundesregierung setzt alles daran, von diesem Sonderweg nicht abzuweichen.

Solange aber die EZB nicht die Rolle des lender of last resort übernimmt, werden die spekulativen Attacken gegen einzelne Länder weitergehen. Selbst die Niederlande, immerhin von einer europäischen Variante der amerikanischen Neocons regiert, müssen schon höhere Zinsen für ihre Staatsanleihen zahlen.

Im Verein mit den Rating Agenturen wird also das Ping-Pong zwischen spekulativer Attacke und Herabstufung der Bonität weitergehen. Bis der Euro zerbricht – oder Berlin doch noch zur Besinnung kommt.

Mehr Europa, oder mehr Deutschland?

Auch wenn die Gipfelbeschlüsse als Krisenlösung ein Flop sind, so könnten sich die europapolitischen Dimensionen dennoch als historisch herausstellen.

Am spektakulärsten ist das Ausscheren Großbritanniens. Von Cameron provoziert, aber auf dem Kontinent mit klammheimlicher Erleichterung aufgenommen, wird jetzt das vollzogen, was sich schon bei der Institutionalisierung der britischen Vorzugsbehandlung unter Thatcher abzeichnete: das Vereinigte Königreich schafft es nicht, sich nach zweihundert Jahren Empire einer Gemeinschaft einzufügen, wo man mit Froschschenkelfressern und Hunnen auf Augenhöhe verkehren muss. Die Widersprüche zwischen der Insel und dem Kontinent, von der in Deutschland besonders stark verbreiteten Euroromantik immer zugekleistert, brechen jetzt offen auf.

Dagegen ist die institutionelle Verankerung der Fiskalunion tatsächlich eine neue Qualität im Integrationsprozess. Der Transfer nationalstaatlicher Souveränität an die supranationale Ebene ist beträchtlich, wenn auch unter Demokratiegesichtspunkten inakzeptabel.

Traum von der Supermacht am Ende?

Dass all dies zumindest in Kauf genommen wird, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Merkozy sich verzweifelt die Option offen halten wollen, bei der machtpolitischen Neukonfiguration des internationalen Systems mitzuhalten.

Dass die EU so heftig von der Krise mitgerissen wurde und das Krisenmanagement bisher so kopf- und wirkungslos war, hat ihre internationale Stellung dramatisch geschwächt. Sowohl die USA als auch China und andere Schwellenländer nehmen Brüssel kaum noch ernst. Die Träume von der Supermacht Europa sind am zerplatzen.

Ob das unbedingt schlecht ist, ist nicht ausgemacht. Auf alle Fälle ist die Debatte darüber, welches Europa wir eigentlich wollen, überfällig.

Dieser Beitrag erschien im Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), 11-12/2012 (Titel: "Merkozy auf der Titanic: Volldampf voraus! Warum der jüngste EU-Gipfel die Krise nicht löst"). Mit freundlicher Empfehlung durch den Autor.


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