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Streitfrage: Welche Alternativen für die Europäische Währungsunion gibt es?

Beiträge von Kunibert Raffer, Wien, und Joachim Bischoff und Richard Detje (Hamburg) im "Neuen Deutschland"

Irland wurde noch vor einigen Jahren für sein beachtliches Wirtschaftswachstum als »keltischer Tiger« gefeiert. Vorbei sind die glorreichen Zeiten: Irland steckt in der Rezession. Es ist das erste Euro-Land, das unter den Rettungsschirm der EU mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro schlüpft. Mit einem rigorosen Sparprogramm will die Regierung in Dublin die Staatsfinanzen wieder in Ordnung bringen. Im Haushalt für das kommende Jahr sollen sechs Milliarden Euro eingespart werden. Das Parlament hat die Maßnahme bereits abgenickt. Mit der Verschärfung des Stabilitätspaktes und einem härteren Vorgehen gegen zu hohe Staatsschulden will die EU zukünftige Schuldenkrisen verhindern. Geldstrafen bei zu hohen Defiziten sollen früher greifen und schwerer von den EU-Finanzministern zu verhindern sein.

Griff in die Taschen der Allgemeinheit

Von Kunibert Raffer *

Falsche Behauptungen und Politikentscheidungen zugunsten der Krisenverursacher begleiten Europas Schuldenkrisen: Die Insolvenz eines Euro-Landes würde den Euro zerstören, oder Insolvenzen der Problemschuldner ließen sich abwenden. Im offenen Bruch des Lissabon-Vertrags zugunsten von Spekulanten ausgegebene, öffentliche Gelder dienen als »Argument« für Austerität (Sparsamkeit). »Wir« lebten »über unsere Verhältnisse«. Verzockten Sozialstützeempfänger Milliarden, nicht Banker oder Spekulanten? Gingen die Milliarden für Hypo Real Estate an Hartz-IV-Betroffene, wie auch die von der Bundesregierung verteidigten HRE-Boni?

Die Währungshysterie ist unbegründet. Die USA sind wirtschaftlich eine Währungsunion. Etwa zehn Mitgliedsstaaten sind mehr oder weniger bankrott, manchmal jahrelang. Kalifornien ist der bekannteste Fall. Die USA gibt es noch, den Dollar auch.

Die durch neoliberale Politik verursachte Krise »rechtfertigt« nun eine verstärkt neoliberale Politik. Man könnte den Austeritätskurs vielleicht akzeptieren, wären die Budgetprobleme durch öffentlich finanzierten Luxus (Champag-ner für Arbeitslose) entstanden. Wie gerade Irland zeigt, waren die Budgets gesund, sogar sehr gut bis zur Sozialisierung der Spekulationsverluste und Bankerboni. Die Austeritätspolitik dient der Umverteilung von der Allgemeinheit zu Spekulanten, wie sie der Ökonom James K. Galbraith in seinem Buch »The Predator State« beschreibt, ein Griff in die Taschen der Allgemeinheit. Außerdem werden nun Geldstrafen gegen Defizite gefordert, institutionalisiertes Bußgeld für Keynesianismus. Man ächtet das Modell, das nach 1945 eine historisch einmalige Ära breiten Massenwohlstands ermöglichte.

Die Analyse der Krisen zeigt ein differenziertes Bild. Griechenlands Krise entstand durch Betrug, offenbar mit Duldung oder Beihilfe Brüssels. Statistikfälschungen dieser Dimension bleiben Experten nicht verborgen. Griechenlands ungerechtfertigte Euromitgliedschaft ermöglichte zu billige Kredite und weiterhin extrem lasche Steuereinziehung. Erst die Sozialisierung privater Spekulationsverluste brachte Irland in Schwierigkeiten, nicht ausufernde Sozialleistungen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) dokumentiert, dass das Verhältnis Schulden/Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 25 (!) Prozent (2007) auf 64 Prozent (2009) anstieg. Logischerweise darf Irland auch unter EU-Diktat den niedrigen Steuersatz für Investoren behalten, um nicht die Falschen zur Kasse zu bitten. Der Bailout (Rettungsaktion) animiert gefahrlose Spekulation und setzt Marktmechanismen außer Kraft. Hohe Risikoaufschläge ohne Risiko. Die EU bezahlt alles – eine Einladung gegen weitere Länder zu spekulieren.

Die Sachlage ist klar: Eine Relation Schulden-BIP wie in Griechenland oder Irland ist nicht abtragbar. Als Argentinien 2001 die Zahlungen einstellte, war diese Relation fast Maastricht-konform, 63 Prozent. Als IWF-Mitarbeiter im Juli 2001 eine Schuldenreduktion von 15 bis 40 Prozent als notwendig ansahen, betrug sie gut 50 Prozent. Selbst aus Bankkreisen wird die Halbierung der griechischen Schulden vorgeschlagen. Dennoch erfolgte ein voller Bailout. Für den Ökonomen Paul Krugman ist die Bestrafung der Bevölkerung für Sünden der Banker schlimmer als ein Verbrechen. Er befürwortet Insolvenz. Tatsächlich ist ein faires und demokratisches Insolvenzverfahren für Staaten die einzige Lösung.

Soweit überhaupt bekannt, ist das von der Bundesregierung vorgeschlagene Verfahren weder rechtsstaatlich noch ökonomisch sinnvoll. Es für 2013 anzukündigen, ist unverantwortlich und verschärft die Krise. Eine Zwangsverwaltung des Schuldners durch Gläubiger widerspricht jedweder Rechtsstaatlichkeit und wurde auch Deutschland 1953 bei dem Teilerlass seiner Altschulden nicht auferlegt. Rechtstaatlichkeit und ökonomische Ratio verlangen ein korrektes Insolvenzverfahren, in dem weder Gläubiger noch gläubigerdominierte Gremien entscheiden.

Der Bruegel-Vorschlag, an dem Anne Krueger (früher die Nummer 2 im IWF) mitwirkte, sieht Zwangsverwaltung als mit Demokratie unvereinbar an – diese Ansicht teile ich. Das Bundesverfassungsgericht hat explizit das Recht von Staaten anerkannt, sich von exzessiven Schulden durch Bankrotterklärung zu befreien. Das einzig akzeptable Modell ist die Übernahme der Grundprinzipien des US-Chapter 9 (Insolvenzrecht für Kommunen in den USA). Dieser Vorschlag schützt die Hoheitssphäre des Schuldners, gibt der Bevölkerung ein Anhörungsrecht und behandelt die Gläubiger fair. Statt Spekulanten Geld nachzuwerfen und so die Krise anzufeuern, sollte die EU insolvente Staaten finanzieren, bis sich die Kapitalmärkte beruhigen. Dies wäre sinnvoller, billiger und marktwirtschaftlich, wenn auch nicht im Spekulanteninteresse. Der Marktmechanismus käme endlich wieder zum Tragen.

* Kunibert Raffer, Jahrgang 1951, ist außerordentlicher Professor am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Wien und Honorarprofessor der Universidad Nacional de Rio Negro in Argentinien.


Fehlkonstruktion des Euro-Regimes

Von Joachim Bischoff und Richard Detje **

Die ungelöste Krise der Euro-Zone führt dazu, dass die Finanzmärkte die politischen Klassen der EU-Staaten weiter vor sich her treiben. Die Gefahr der Zuspitzung ist in der Euro-Peripherie zweifellos am größten. Aber noch mehr steht auf dem Spiel: die Gefahr der Übertragung der Krise auf das gesamte Euro- und Weltwährungsgefüge. Für die Finanzmärkte stellen die bisher ergriffenen Maßnahmen keine nachhaltigen Lösungen dar. Zum ersten Mal seit der großen Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts besteht in den entwickelten kapitalistischen Ländern das Risiko, dass Staaten ihre Schuldenverpflichtungen nicht mehr erfüllen können. Ein Scheitern von Euro und gemeinsamem europäischen Markt wäre das größte politische Desaster der Nachkriegszeit. Das improvisierte Krisenmanagement dieser Tage lässt allerdings keinen guten Ausgang erwarten.

Die deutsche Bundesregierung spielt eine ausgesprochen unrühmliche Rolle. Einerseits ist sie der mit Abstand größte Nutznießer des Euro-Regimes. Ihm verdankt sie den Aufstieg zum Exportweltmeister. Denn mit einer beständig unter Aufwertungsdruck stehenden D-Mark konnte sie keine dauerhaften Außenhandelsüberschüsse einfahren. Erst mit der Einführung des Euro konnte die überlegene Konkurrenzposition des deutschen Kapitals ausgespielt werden. Andererseits blockiert die Bundesregierung alle Vorschläge, Europa aus dem Schlepptau der Finanzmärkte zu befreien. Hohe Zinslasten verteidigt sie als Therapie, die zu Sparsamkeit zwingt. Die an sich vernünftige Überlegung, die privaten Gläubiger an einer Umschuldung zu beteiligen, hat sie durch schlechtes Taktieren zunächst einmal selbst verbrannt.

In diesem Jahr ist die deutsche Wirtschaft aufgrund ausgezeichneter Exportgeschäfte vor allem nach Asien gewachsen. Das Wachstum in der Euro-Zone bewegt sich hingegen in der Nähe der Nulllinie. Besonders schlecht fallen die Perspektiven für jene Länder aus, die wegen maroder Banken und hoher Schulden in ein Austeritätsregime gezwängt werden, das den privaten Konsum einbrechen und die Arbeitslosigkeit auf Spitzenwerte ansteigen lässt.

Die Bewährungsprobe kommt 2011. Dann steigen die Refinanzierungsbedarfe der Banken auf Rekordwerte und ebenso der Kapitalbedarf der Staaten. Gleichzeitig geht es wieder runter mit der Konjunktur. Und in der Folge auch mit den Staatseinnahmen.

Das Schlüpfen unter den Rettungsschirm überbrückt Liquiditätsengpässe. Aber die zentrale Herausforderung der hoch verschuldeten Euro-Länder ist die de-facto-Insolvenz ihres Finanzsystems. Neue Kredite lindern momentane Not, verschärfen aber letztlich das Schuldenlastproblem.

Eine schnelle, einfache und ordnungspolitisch saubere Lösung wird es nicht geben. Mit dem Ausschluss von Mitgliedstaaten oder Träumen von einem Nord-Euro ist nichts gewonnen. Die Bürger der betroffenen Länder würden versuchen, ihr Geld in Sicherheit zu bringen – um zu verhindern, dass ihre Ersparnisse in die neue Währung umgetauscht werden, die dann an den Devisenmärkten abwertet. Kollabiert der Euro, kommt es zu Bankenkrisen und Staatsbankrotten. Ein Ende des Euros wird das angeschlagene Banken- und Finanzsystem nicht überleben.

Mit dem Euro wankt die gesamte europäische Statik. Die Lage ist vertrackt: Das Euro-Regime war von vornherein eine Fehlkonstruktion; aber die beseitigt man nicht, in dem man den Euro wieder abschafft. Der Fehler: Statt in die Angleichung des europäischen Wirtschaftsraums zu investieren, sollte eine gemeinsame Währung für Anpassungsdruck sorgen. Regelwerke für eine positive Integration durch eine gemeinschaftliche Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik – Fehlanzeige. Ebenso wie eine demokratische Verfassung. Die Frustration über so viel Bürgerferne überrascht nicht. Nun kommt die Angst um das Geld und die Wut über die Banken hinzu. Die Welle der Euro-Feinde könnte demnächst in vielen Ländern die politischen Kräfteverhältnisse umpflügen – nach Rechtsaußen.

Es kann nur einen gemeinsamen Ausweg geben. Der Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse und die Ausweitung der Binnenökonomie in den Kernländern sind unverzichtbare Beiträge zur Stabilisierung der EU. Notwendig ist eine Reform, die statt auf einer Säule – der Geld- und Währungspolitik – auf drei weiteren Säulen aufbaut: einer gemeinsamen Fiskalpolitik, die von oben nach unten umverteilt, einer Wirtschaftspolitik, die mit öffentlichen Investitionsprogrammen Europa sozial und ökologisch erneuert, und einer Sozialpolitik, die Armut beseitigt und Entwicklungschancen schafft. Das wird Deutschland Milliarden kosten, aber ein Scheitern der Währungsunion mit anschließender Krise der EU wäre bestimmt teurer.

** Joachim Bischoff, 1944 geboren, ist Mitglied der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft. Richard Detje, Jahrgang 1954, ist Redakteur der Monatszeitschrift »Sozialismus«.

Beide Beiträge erschienen im "Neuen Deutschland" vom 11. Dezember 2010 ("Debatte")


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