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Europäische Postdemokratie

Demokratiedefizit und Sozialkahlschlag durch Eurorettungspakete

Von Alexis Passadakis *

Kreditpaket für Griechenland, Staatsschulden-Garantieschirm für die Eurozone: Angesichts des jahrelangen Gezerres um den inzwischen gültigen Lissabon-Vertrag mag sich manch einer verwundert die Augen gerieben haben, wie in den vergangenen Wochen jeweils über Nacht und bei Nebel die bisherigen Regeln auf europäischer Ebene dramatisch verändert wurden: Zwar dürfen die nationalen Parlamente formal korrekt über diese neuen Risiken abstimmen, die Entscheidungen selbst aber wurden im kleinen Kreis der Regierungschefs und Finanzminister getroffen. Dabei handelt es sich bei dieser zweiten Welle von »Rettungspaketen« nur vordergründig um Hilfen für die Eurostaaten. Im Kern geht es um die zweite gigantische Bankenrettung innerhalb von zwei Jahren. Die deutschen Banken allein sind mit über 30 Milliarden Euro in Griechenland engagiert.

»Derjenige ist souverän, der über den / Ausnahmezustand gebietet«, schrieb einst der rechte Jurist Carl Schmitt. In diesem Fall waren es die Finanzmärkte, die mit ihrem Herdentrieb gegen südeuropäische Staatsanleihen zu den Krisensitzungen in die EU-Hauptstadt Brüssel »gebeten« hatten. Denn trotz erster nun anlaufender Regulierungsversuche in den USA und Europa, die derzeitige Krise hat die Finanzmarktakteure bisher nicht geschwächt, sondern im Gegenteil ihre strukturelle Macht erhöht. Denn mit den schwer kalkulierbaren Risiken ihrer krisenhaften Eruptionen gelingt es ihnen, den Staat auf ihr Terrain zu ziehen. Über die Rettungspakete, über die höheren öffentlichen Schulden, sind die Staaten noch stärker von ihnen abhängig.

Garantien in Höhe von 750 Milliarden Euro sind dafür ein treffender Ausdruck. Von einem »Staatsstreich durch die kalte Küche« wurde deswegen hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Denn neben der unmittelbaren Unterstellung der griechischen Fiskalpolitik unter EU und IWF ist die Zustimmung zu dem Paket in den Parlamenten nur wenig mehr als Formsache. Ausgehebelt wird damit ein Kernelement der aus den Auseinandersetzungen um die bürgerlich-parlamentarische Demokratie im 19. Jahrhundert hervorgegangenen Verfassungen: das Budgetrecht.

Handstreichartig beginnt sich zudem eine europäische Sozialpolitik abzuzeichnen, allerdings nicht als eine sozialpolitische Ergänzung des Binnenmarktprojekts, sondern in Form von EU-seitig beaufsichtigten nationalen Sparpaketen und dem daraus resultierenden europäisch synchronisierten Sozialabbau. Ziel: die Umverteilungsmaschine von unten nach oben über die Bedienung der Staatsschulden weiter zu schmieren.

Die strukturelle Stärkung der Finanzmärkte mittels Rettungspaketen der Marke »Rundum-sorglos«, aber auch die Entwicklung hin zu Haushaltskontrollen aus Brüssel und zur Bedeutungslosigkeit nationaler Parlamente bedeuten im Umkehrschluss aber nicht, dass »der Staat« geschwächt würde. Im Gegenteil, dem Zugriff der Finanzmarktakteure auf öffentliche Mittel auf europäischer Ebene folgen Staatsbildungsschritte auf derselben Ebene: nämlich eine Stärkung der EU als transnationaler Staatsapparat mittels der sich nun abzeichnenden fiskalpolitischen und damit auch sozialpolitischen Koordinierung unter Kürzungsvorzeichen. Zwischenergebnis der Weltwirtschaftskrise: eine Machtverlagerung weg von den Parlamenten, hin zu den Regierungen, insbesondere den Finanzministerien, zu Sonderbehörden, wie dem SoFFin und nun hin zur EU. Das im Vorfeld von EU-Parlamentswahlen gern diskutierte Demokratiedefizit bekommt nun eine existenzielle Dimension – zumindest für die, die von Sozialkahlschlag betroffen sind.

In dieser Situation der europäischen Krise schlagen auch viele Linke eine europäische Wirtschaftsregierung vor, um die ökonomischen Ungleichgewichte in der Eurozone besser zu bekämpfen und die Folgen der Krise abzufedern. Angesichts der bereits laufenden Machtverschiebung und der für progressive Akteure ungünstigen postdemokratischen Verhältnisse in Europa erscheint eine Wirtschaftsregierung aus sozialer Sicht also wenig plausibel. Stattdessen kommt es nun darauf an, dass soziale Bewegungen Sand ins Getriebe des Schuldendienstes streuen.

* Alexis Passadakis ist Politikwissenschaftler und Mitglied im Koordinierungskreis von Attac.

Aus: Neues Deutschland, 26. Mai 2010



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