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Gespaltene Börsenwelt

2011 war nicht allein das Jahr der Eurokrise / 2012 wird das Jahr der Schwellenländer

Von Hermannus Pfeiffer *

Im zurückliegenden Jahr setzte sich an den Börsen die Dauerkrise fort, die im Sommer 2007 durch das Platzen einer Immobilienblase in den USA ausgelöst worden war.

Eigentlich begannen die Börsianer das Jahr 2011 gut gelaunt. Während die Welt auf die »Arabellion«, die Katastrophe im Atomkomplex Fukushima und den Krieg in Libyen schaute, näherte sich die Wirtschaft in Europa wieder ihrem Vorkrisenniveau. Die Gefahr einer Rezession schien weit weg zu sein, die Börsenkurse kletterten in Richtung Allzeithoch. Noch im April setzte die Europäische Zentralbank (EZB) ein weiteres untrügliches Zeichen der Zuversicht: Erstmals seit 2008 erhöhte sie den Leitzins, weil die Konjunktur im Euroraum anzog und die Preise - nur für diese ist die EZB eigentlich zuständig - zu schnell anstiegen.

Dann aber war es vorbei mit den guten Nachrichten. Portugal bat um Hilfe und schon im Mai schnürten die EU-Finanzminister zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) das dritte Euro-Rettungspaket. 2010 waren schon Griechenland und Irland mit Milliarden-Krediten vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrt worden. Portugal musste im Gegenzug um den guten Willen privater Investoren werben. Doch die Übereinkunft wurde medial überdeckt von Vorwürfen wegen sexueller Nötigung gegen IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn, der in New York festgenommen worden war. Die Aktienkurse fielen.

Im Juli 2011 räumten die Euro-Finanzminister ein, dass Griechenland einen Schuldenschnitt benötige, um wieder auf eigene Beine zu kommen. Aber hieran sollten sich trotz anderer politischer Versprechen erstmals die privaten Gläubiger beteiligen. Der scheidende EZB-Boss Jean-Claude Trichet und viele rechte wie linke Ökonomen hatten vor einem Schuldenschnitt gewarnt, weil sie fürchteten, dass dann auch Spanien und Italien »angesteckt« und in das Visier der Spekulanten geraten würden. Genau so kam es. Der »Markt« sah die Gefahr, dass auch andere hoch verschuldete Staaten nicht mehr bereit sein könnten, ihre Schulden vollständig zu bedienen. Die Investoren forderten höhere Risikoprämien, also höhere Zinsen, wenn Krisenkandidaten Geld leihen wollten. Seither können sich Italien, Spanien oder Belgien nur noch deshalb zu einigermaßen tragbaren Konditionen neu verschulden, weil die EZB massiv Staatsanleihen kaufte. Das half: In dieser Woche sind bei zwei Versteigerungen von italienischen Staatsanleihen über zehn Milliarden Euro deutlich niedrigere Zinsen nötig gewesen als noch im Vormonat.

Das Spiel aber wird weitergehen. Mitte März muss Griechenland Anleihen über 16 Milliarden Euro tilgen; Italien muss im Gesamtjahr 200 Milliarden Euro tilgen. »Das Risiko ist real«, warnt Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer, »dass Italien nicht genügend Käufer für seine Papiere findet«; man wäre dann praktisch zahlungsunfähig. Helfen könnten da nur »umfangreichere EZB-Anleihenkäufe«. Im Aufkauf von Staatsanleihen durch die Notenbank sehen auch linke Ökonomen eine Übergangslösung, um den Spekulanten Einhalt zu gebieten. Doch erst ein in vollem Umfange funktionstüchtiger Rettungsfonds EFSF und gemeinsame Staatsanleihen aller Euroländer (»Eurobonds«) könnten den Dammbruch zumindest notdürftig schließen, den der Vertrag von Maastricht der neuen Währung von Anfang an eingebrockt hatte: eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Fiskalpolitik.

Im Rückblick war 2011 aber nicht allein das Jahr der Eurokrise. Seit dem Sommer rückte daneben auch die schlechte wirtschaftliche Lage der USA, die hohe Arbeitslosigkeit und die überbordende Verschuldung gegenüber China und arabischen Ölmagnaten in den Blick der Finanzanalysten. Die Ratingagentur S&P entzog den Vereinigten Staaten die Bestnote. Und auch die US-Börsen produzierten nun schlechte Nachrichten: Seit dem Hoch im Mai verloren die Aktienkurse von Industriekonzernen und Banken in den USA zweistellig. Noch stärker fielen die Kurse in Europa und Deutschland. Für den Jahresbeginn wird in der Investmentbranche eine Entlassungswelle erwartet. Das Mitleid wird sich in Grenzen halten.

Die Prognosen der Analysten klingen für die USA wieder etwas optimistischer, für Europa schlecht und für Deutschland ausgeglichen. Die Spekulationsblase dürfte daher wieder einmal weiterziehen, und 2012 könnte so das Jahr der Schwellenländer werden. Brasilien, Indonesien oder Taiwan gelten als schick: Rohstoff-, Tourismus-, aber auch Technologieaktien locken hier. Realwirtschaftlich erwartet beispielsweise die Deutsche Bank für die Schwellenländer ein Wachstum von über 5,7 Prozent, für Euroland eine Schrumpfung um 0,5 Prozent. Die Wirtschafts- und Finanzwelt bleibt gespalten.

Wo Verlierer sind, sind Gewinner, und so kennt auch die Euro-Krise Sieger. Große Banken und Fonds werden höhere Zinsen für Staatsanleihen kassieren können. Die öffentlichen Haushalte werden nach dem Gusto der Finanzmärkte umgestaltet werden. Und Banken gelten den Regierungen nun wieder als die Haupt-Sorgenkinder, die zunächst einmal gerettet werden müssen. Statt sie zur Verantwortung zu ziehen für ihre riskanten Geschäfte, mit denen sie 2007 die Banken-Finanz-Wirtschafts-Staatschuldenkrise auslösten.

* Aus: neues deutschland, 31. Dezember 2011


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