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Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ESVP

"Militärischer Rückzug ins Verborgene"

Dass die EU auf dem Weg zu einem Militärbündnis ist, hat sich herumgesprochen. Was dies für die politischen und institutionellen Strukturen in Brüssel bedeutet, ist weniger bekannt. Möglicherweise macht sich manch Europagläubiger noch gar nicht klar, dass ein Militärbündnis anders, nämlich nach militärischen Gesichtspunkten und Prinzipien geführt wird, und nicht nach zivil-demokratischen (wobei das demokratische Element in Brüssel, siehe EU-Kommisssion, ohnehin zu kurz kommt). Martin Winter berichtet in einem Hintergrundartikel der Frankfurter Rundschau über anstehende reale und atmosphärische Veränderungen. Das Europäische Parlament reagierte verärgert über die Geheimhaltung, wie einem zweiten Artikel zu entnehmen ist. Ein weiterer Grund, gegen die Militarisierung der EU zu protestieren!

Militärischer Rückzug ins Verborgene

Mit der Einführung einer eigenen Sicherheitspolitik wird es in der EU bald geheimnisvoller zugehen als gewohnt
Von Martin Winter (Brüssel)

Der Wind hat welkes Laub in den Eingang geweht. Ein Zettel mit Notfallnummern pappt an der schmutzverschlierten Glastür. Dahinter die gähnende Leere der Eingangshalle eines verlassenen Bürohauses. Im Inneren des Gebäudes aber, wohin man von außen nicht mehr spähen kann, werden sich bald Innenarchitekten und Spezialisten für Sicherheit zu schaffen machen. Bis vor wenigen Wochen beherbergte dieser Bürokasten aus Glas, Sandstein und Stahl in der Brüsseler Avenue Cortenbergh 150 die Wettbewerbskontrolleure der EU-Kommission.

Schon die pflegten ziemlich verschwiegen zu agieren. Ab Januar 2001 aber wird es hier nach den strengen Anforderungen militärischer Geheimhaltung zugehen. Dann zieht das Hauptquartier der bislang nur auf dem Papier existierenden europäischen Truppe ein. Hier, mitten im bislang so zivilen Brüsseler EU-Viertel, werden dann militärische Lösungen für Krisen vorbereitet. Von hier wird die EU im Fall des Falles ihre Kriege lenken.

Da müssen abhörsichere Räume, spionageresistente Aktenumläufe, Tresore, Sicherheitsschleusen und vor allem ein Personal her, das auf Herz und Nieren geprüft ist. Einmal, weil Geheimhaltung zum Militär gehört wie der Floh zum Hund. Zum anderen könnte die EU ihr ehrgeiziges Projekt einer eigenen Eingreiftruppe gleich ganz vergessen, wenn sie sich nicht den Verschwiegenheitsritualen der Nato unterwürfe. Ohne die Nato nämlich keine ESVP, was die Kurzformel für den Vorstoß der EU auf ein für sie neues Terrain ist: Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zwar werden im Herbst die 15 EU-Länder ihren jeweiligen nationalen Beitrag an Geräten und Personal in den Klingelbeutel von Javier Solana legen, der als Generalsekretär des EU-Rates und als Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik für die ganze Aktion verantwortlich zeichnet. Aber ohne die brüderliche Hilfe der Nato, darüber sind sich Politiker und Militärs einig, wird die ESVP auf lange Zeit nicht handlungsfähig sein.

Kommunikationsstrukturen, Aufklärungsmaterial, Flugzeuge und im Zweifel auch Personal will die Nato jedoch nur zur Verfügung stellen, wenn die EU sich das aneignet, was ein Nato-General einmal Sicherheitskultur nannte. Ein hochtrabendes Wort für eine bürokratische Vorschriftensammlung zum Umgang mit Geheimmaterial. Aber irgendwie trifft es doch. Nun, wo sie eng zusammenarbeiten wollen, zeigt sich, dass zwischen den beiden in Brüssel beheimateten Organisationen Welten liegen. Nun erst entdeckt man sich gegenseitig und merkt, dass man in ganz unterschiedlichen Kulturen lebt. Die EU in einer der Transparenz und die Nato in einer der Geheimhaltung. Erst wenn man beide "kompatibel" mache, dann könne das mit der ESVP funktionieren, sinnierte kürzlich ein hoher Nato-Diplomat.

Ganz so einfach wird das nicht werden. Die Nato funktioniert nach den Regeln der Konspiration. Jeder weiß nur das, was er unbedingt wissen muss. Jedes Papier trägt eine Klassifizierung: diverse Ausformungen von "Streng Geheim" über "Geheim" und "Vertraulich" bis hin zu "Nur für den Dienstgebrauch". Selbst der Öffentlichkeit zugängliche Dokumente kriegen einen Stempel. Darauf steht "nicht-klassifiziert".

Die EU erscheint dagegen wie ein Paradies der Offenheit. Keine Klassifizierungen, kein Sicherheitsbüro. Und während in den Fluren des Nato-Hauptquartiers Warnplakate nach der Melodie "Feind hört mit" die Wachsamkeit der dortigen Bürokraten anstacheln, bevorzugt der europäische Beamte als Flurschmuck Landschaftsbilder.

Geheimhaltung in der EU wird meist informell versucht. Da werden Akten nicht herausgerückt, Ordner sind wie zufällig verlegt, Register verschwunden oder bei der entscheidenden Sitzung hat dummerweise keiner Protokoll geführt. Alles in allem aber haben sich die Institutionen der EU in den vergangenen Jahren erstaunlich geöffnet, was einerseits dem Beitritt skandinavischer Länder zu verdanken ist, die ihre Kultur der Transparenz nach Brüssel importierten, und andererseits dem Europäischen Parlament, das nach dem Sturz der vorigen Kommission an Selbstbewusstsein gewonnen und der Exekutive mehr Offenheit abgepresst hat.

Doch von diesem Trend zur Transparenz "wird man wohl ein paar Abstriche machen müssen", meint Solanas politischer Planungschef Christoph Heusgen. Das wird man gewiss. Zumindest für die Bereiche, die die Außen- und Sicherheitspolitik berühren. Der einfachere Teil davon ist es, die Nato-Regeln technisch für die ESVP einzuführen. Daran wird schon mit Hochdruck gearbeitet. Mitte August verfügte der EU-Rat, dass Dokumente aus dem Bereich Sicherheit und Verteidigung von "Vertraulich" an aufwärts nicht mehr in die über Internet zugängliche Registratur des Rates aufgenommen werden. Am 26. Juli einigten sich Solana und Nato-Generalsekretär Lord Robertson auf ein "Interims-Sicherheitsabkommen", das schon die wesentlichen Punkte enthält. Im September beginnen die Verhandlungen über ein endgültiges "Sicherheitsabkommen".

Der schwierige Teil der Operation beginnt da, wo militärischer Geheimhaltungsdrang und politisches Transparenzgebot kollidieren: bei der parlamentarischen Kontrolle. Voller Misstrauen blicken die Nato-Leute dabei vor allem auf die EU-Kommission. Die ist zwar nicht für die Sicherheitspolitik verantwortlich, aber natürlich beteiligt und informiert. Einerseits. Andererseits steht sie dem Parlament im Wort, auch vertrauliche Informationen weiterzugeben. Erst nach massiver Intervention der EU-Regierungen und nach einigen erbitterten Auseinandersetzungen verständigten sich Kommission und Parlament darauf, dass vertrauliche Informationen "mit Ursprung in einem Staat, einem Organ oder einer internationalen Organisation nur mit Zustimmung der Herkunftsstelle übermittelt" werden.

Damit also liegt es allein in der Hand der Nato, was die Parlamentarier zu sehen bekommen. In die Finger werden die Europaabgeordneten wohl nur dann etwas kriegen, wenn sie und die Kommission die Sicherheitsregeln auch in der Praxis eingeführt haben. In den Führungskreisen von ESVP und Nato wird kein Hehl daraus gemacht, dass jeder gnadenlos vom Informationsfluss abgeschnitten wird, der die Geheimhaltung nicht garantieren kann. Da sei auch die mächtige EU-Kommission nicht ausgenommen.

Wenn einer die ESVP durch das Nadelöhr des Sicherheitsabkommens hindurchbekommt, dann ist es Javier Solana. Er ist die Brücke zwischen den beiden Kulturen. Als ehemaliger Generalsekretär der Nato genießt er deren Vertrauen und als Chefaußenpolitiker der EU das der europäischen Regierungen. Wenn am Ende dieses Jahres die Handwerker letzte Hand an das Hauptquartier der ESVP legen, dann hofft Solana auch das Sicherheitsabkommen unterschreiben zu können. Und an dem Tag, an dem er die Avenue Cortenbergh 150 dem Chef des ESVP-Militärstabes, dem britischen General Graham Messervy-Whiting übergibt, wird wohl irgendeine freundliche Seele den Eingang wieder auf Hochglanz gebracht haben.
Aus: Frankfurter Rundschau, 24.08.2000

Zwei Wochen später erschien folgende Meldung in der Frankfurter Rundschau:

EU-Parlament über Rat verärgert
Gremium beschloss Geheimhaltung von Militärpapieren


Über Art und Ausmaß der Geheimhaltung von sicherheitsrelevanten Papieren und Informationen zeichnet sich ein Streit zwischen dem Europäischen Parlament (EP) und dem Europäischen Rat ab, der möglicherweise vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ausgetragen werden wird.

Die Abgeordneten reagierten in ihrer ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause verärgert auf einen Mitte August ohne großes Aufsehen gefällten Beschluss des Rates. Danach sollen Dokumente aus dem im Aufbau befindlichen Bereich Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nicht in der öffentlich zugänglichen Registratur verzeichnet werden, wenn sie als "vertraulich" oder "geheim" klassifiziert sind. Der Rechtsausschuss des EP verurteilte das Vorgehen des Rates als unakzeptabel. Der Vorsitzende der Liberalen, Pat Cox, sprach von einem "technokratischen Staatsstreich" gegen das in den europäischen Verträgen niedergelegte Transparenzgebot. Das Prinzip, wonach Öffentlichkeit die Regel und Geheimhaltung die Ausnahme sei, werde durch diesen Beschluss umgedreht.

Die Juristen des Europäischen Parlamentes in Straßburg sollen nun prüfen, ob es eine legale Basis für eine Klage gegen den Rat gibt.

Der Rat hatte seinen Beschluss gefasst, weil der mit der Umsetzung der ESVP beauftragte Javier Solana nur dann die notwendige Zusammenarbeit mit den nationalen Verteidigungsministerien und mit der Nato etablieren kann, wenn er die Geheimhaltung des ihm überlassenen Materials garantiert.
Aus: FR, 08.09.2000

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