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"Teutonische Starre"

Währungsrettung stockt. Europa hat "deutsches Problem." Vier Szenarien möglich

Von Mirko Knoche *

Die europäische Währungsunion steht vor dem Abgrund.« Davon ist Wirtschaftsprofessor Nouriel Roubini von der New York University überzeugt und warnte am gestrigen Freitag in der Schweizer Handelszeitung: »Der Euro ist ein Wrack.« Zweifel machen sich auch diesseits des Atlantiks breit. Europas neuer Zentralbankchef Mario Draghi und Deutsche-Bank-Boß Josef Ackermann beklagten gestern laut Agentur Reuters, daß der Rettungsfonds EFSF vier Wochen nach seiner Erweiterung noch immer nicht gefüllt sei.

In einem vorab veröffentlichten Leitartikel sieht das britische Magazin Economist keine Hoffnung mehr. Der vielbeschworene »Hebel« sei schon jetzt »erbärmlich gescheitert«. Es gelinge den Europäern einfach nicht, den Chinesen die Euro-Rettung mit Finanztricks schmackhaft zu machen. Asiatische Ökonomen begründen das mit dem Pekinger Unwillen, in die Bresche zu springen, bevor die Europäische Zentralbank (EZB) alle Mittel ausgeschöpft hat. An deren Geldpolitik scheiden sich derweil die Geister.

Bundesbank-Chef Jens Weidmann sagte gestern, das bisherige Scheitern rechtfertige nicht, »das Mandat der Zentralbank zu überdehnen und sie für die Lösung der Krise verantwortlich zu machen«. Diese harte Linie wird von der EZB prinzipiell unterstützt. Stützungskäufe für italienische oder griechische Staatsanleihen lassen sich aber immer weniger vermeiden. Außerdem mehren sich die Stimmen, die eine Umkehr der restriktiven Geldpolitik fordern. So haben französische Banken ein großes Interesse an stabilen Kursen für Staatspapiere, weil sie besonders viele Anleihen aus Süd­europa halten.

Die Dissonanz ist nicht nur verschiedenen Politikansätzen geschuldet. Innerhalb der Euro-Zone spitzen sich die objektiven Widersprüche zu und eskalieren mit zunehmender Dauer. Noch vor Wochen sahen Volkswirte die Gefahr eines Auseinanderdriftens von Südeuropäern und einem Kerneuropa aus Deutschland, Österreich, den Beneluxstaaten und Frankreich. Weil die absichtlich hohen Strafzinsen der EZB gegen Griechenland und Italien den Pariser Banken schaden, vertieft sich jetzt auch noch ein Riß zwischen Deutschen und Franzosen. Damit ist die Bundesrepublik zunehmend auf sich gestellt.

Der renommierte Economist erkennt darin das »deutsche Problem« Europas. Die »dogmatischen Rezepte« trieben die Währungsunion in den »Kollaps«. Berlin setzte zwar erfolgreich Sparpläne durch, erkaufe dies aber zum Preis, die Euro-Rettung »immer schwieriger« zu machen. Zeige Kanzlerin Merkel nicht mehr Pragmatismus, werde die »teutonische Starre« das europäische Projekt zerstören.

US-Ökonom Roubini konstatiert, die »Endphase der Euro-Zone« habe begonnen. Er entwirft vier Szenarien, wie sich Europa der Schuldenkrise stellen könne. Als beste Lösung empfiehlt der Wissenschaftler, eine lockere Kreditvergabe der Europäischen Zentralbank und eine Abwertung des Euro. Damit verbunden wären Strukturreformen in Krisenstaaten sowie Steuer­erleichterungen in Exportländern wie der BRD oder den Niederlanden.

Die bisherige Sparpolitik werde hingegen nur die Rezession in den Schuldnerländern verschärfen. Die wirtschaftlichen Ungleichheiten könnten auch beibehalten werden – Verschuldung im Süden, Exportüberschüsse im Norden. Das müsse aber durch »enorme Transferzahlungen« subventioniert werden, die politisch nicht vermittelbar seien.

Sowohl die Transfervariante als auch das Anwerfen der Notenpresse scheitern am Widerstand aus Berlin. Aus der jetzigen Lage könne sich eine vierte Lösung ergeben, eine unfreiwillige. Die Südeuropäer erleiden Schiffbruch. Sie erklären den Staatsbankrott und scheiden aus dem Euro aus. Ihre neuen Nationalwährungen werten ab, und sie werden wieder wettbewerbsfähig. Denn wegen der Einheitswährung konnte das deutsche Kapital die Konkurrenz bislang über die Lohnpolitik für sich entscheiden.

* Aus: junge Welt, 19. November 2011


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