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Die Demokratie wird außer Kraft gesetzt

Christoph Matznetter über erpressbare Nationalstaaten, Casino-Kapitalismus und drohenden Totalitarismus *


Der studierte Philosoph und Wirtschaftsprüfer Christoph Matznetter ist seit Jahren SPÖ-Mandatar im österreichischen Nationalrat, war 2007/2008 Staatssekretär im Finanzministerium und bekleidet das Amt des Vizepräsidenten der österreichischen Wirtschaftskammer. Mit ihm sprach Hannes Hofbauer.


Im Angesicht der Weltwirtschaftskrise scheint sich eine Verschiebung weg von klassischen parlamentarisch-demokratischen hin zu kapital-demokratischen Strukturen – mit durchaus diktatorischem Charakter – abzuzeichnen. Kann man das als langjähriger Parlamentarier beobachten?

Diese Verschiebung findet unzweifelhaft statt, man kann sie bereits seit zwei Jahrzehnten wahrnehmen. Mitte der 1980er Jahre ist durch die weltweite Deregulierung das System des Kapitalismus umgebaut worden. Dieser Umbau hat dazu geführt, dass die auf den Nationalstaat zugeschnittenen Formen der Demokratie ausgehebelt worden sind.

Die da sind?

Ganze Nationalstaaten wurden durch die Freiheit des Kapitalverkehrs erpressbar, nach dem Motto: Wenn ich nicht kriege, was ich von dir verlange, dann verlege ich Produktion, Dienstleistung und alles andere einfach dorthin, wo es keine Beschränkungen gibt – Stichwort: Steuerdumping. Damit wird das demokratische Prinzip außer Kraft gesetzt, weil es die Autonomie der Entscheidung durch die gewählte Volksvertretung aushebelt. Davor gab es Ähnliches in Gestalt von Imperialismus und Militärgewalt. Heute ist wirtschaftliche Erpressung zum gängigen Instrument von Kapitalinteressen geworden. Wenn zum Beispiel an einem Ort der Urlaubsanspruch per Gesetz geregelt ist und an einem anderen Ort nicht, dann verlangt der Unternehmer, dass der Urlaubsanspruch überall aufgehoben wird. Diese Entwicklung hat immer schlimmere Formen angenommen.

Welche Formen nimmt die Erpressung genau an?

Kapital will nur mehr dort hingehen, wo es Investitionsschutzabkommen gibt. Gleichzeitig wird gegen Maßnahmen, die in einem Land demokratisch beschlossen werden – ich denke etwa an den Atomausstieg in Deutschland –, von ausländischen Konzernen auf Basis des Investitionsschutzabkommens geklagt. Vor einem Schiedsgericht wird dann eine Schadenersatzforderung von Milliarden Euro erhoben, um eine autonome Entscheidung der deutschen Bevölkerung, repräsentiert durch den Bundestag, zu revidieren. Das ist eigentlich ein unfassbarer Vorgang. Wir erleben das in Bereichen bis hin zur Wasserversorgung in Lateinamerika; auch lebensnotwendige Güter sind von solchen Investitionsschutzabkommen betroffen. Damit werden demokratische Strukturen ausgehöhlt und aufgehoben.

Wo genau liegt das Übel?

Einerseits in einer Liberalisierung, die gemacht wurde, ohne für einen notwendigen Ordnungsrahmen zu sorgen. Andererseits fehlt die demokratische Legitimierung auf der Ebene der Intergouvernementalität, wenn wir zum Beispiel die Zusammensetzung der Gremien in der Europäischen Union hernehmen.

Welchen Ordnungsrahmen wollen Sie über das System stülpen?

Das Prinzip des Wilden Westens hat in der Wirtschaft nie funktioniert. Wir brauchen einen Rahmen, der für fairen Wettbewerb sorgt, um die Anstrengung auf die Effizienz der Produktion zu richten. Sobald ein solcher Ordnungsrahmen fehlt, kommen andere, externe Kriterien zum Zug. Effizienz spielt in diesem Szenario keine Rolle mehr. Nicht mehr der mit der besten Maschine und dem besten Material ist am Markt erfolgreich, sondern es gewinnt derjenige, der – zum Beispiel in der Textilindustrie – in Bangladesch 3000 Leute in ein Haus zusammenpfercht und zu Hungerlöhnen beschäftigt. Damit ist aber kein fairer Wettbewerb gegeben, sondern die billigsten und grausamsten Bedingungen obsiegen.

Wenn Sie von fehlender Legitimität der EU-Gremien sprechen, wer ist der konkrete Träger dieser Entwicklung? Welche Rolle spielt die Europäische Union als Ganzes darin? Sie und ihre Institutionen haben ja das grundsätzliche demokratiepolitische Defizit, dass keine Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive existiert, im Gegenteil: Die nationale Exekutive wird mittels EU-Rat zur supranationalen Legislative, und auch die Zusammenstellung der EU-Kommission passiert nicht nach demokratischen Kriterien.

Die Systemschwäche der Europäischen Union – auch auf Basis des Lissabon-Vertrages, der nur eine teilweise Verbesserung gebracht hat – nimmt ihr die Handlungsfähigkeit. Partikularinteressen überwiegen. Das ist ein systemisches Problem. Man wird Kommissar, wenn einen die nationale Regierung dorthin schickt. Man wird in dieses hohe Amt nicht gewählt, da steckt kein gemeinsamer politischer Wille dahinter.

Soweit der Befund. Und was wäre die Lösung?

Angesichts der Krise haben alle erkannt, dass eine Überwindung nur möglich ist, wenn gemeinsam Politik gemacht wird, zuletzt war das beispielsweise beim Thema Steuererosion/Offshore sichtbar. Das funktioniert aber nicht, weil sich in diesem Fall David Cameron weigert mitzumachen. Einer findet sich immer, der auf einen eigenen Vorteil hofft, wenn er ausschert und etwas für seine Region herauszuholen meint. Die Frage ist, ob es gelingen kann, in der EU einen Demokratisierungsschub herzustellen und eine legitimierte Führung zu etablieren, die nur dem Parlament verantwortlich ist.

Derzeit sieht es nicht danach aus. Dazu kommt, dass parallel zur Verschiebung von parlamentarisch-demokratischen hin zu kapital-diktatorischen Strukturen eine rasante Verrechtlichung unserer Gesellschaft stattfindet. Sehen Sie darin eine weitere Gefahr der Aushebelung von Demokratie?

Die schleichende Ausschaltung des demokratischen Prinzips begünstigt solche Entwicklungen in zwei gänzlich unterschiedlichen Richtungen: einerseits dort, wo im großen Stil zum Beispiel bei der Deregulierung der Finanzmärkte überhaupt keine Kontrolle mehr stattfindet, andererseits dort, wo Datenkontrolle und Schnüffelei bis in kleinste Bereiche stattfindet, was in Richtung der Herstellung eines gläsernen Menschen geht.

Dieser scheinbare Widerspruch zwischen völliger Deregulierung für fast monopolartig agierende große Spieler und dem gläsernen Menschen könnte sich in Totalitarismus auflösen.

Europa ist diesbezüglich besonders gefährdet. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Antwort auf eine Weltwirtschaftskrise totalitäre Maßnahmen sind. Die Frage ist, ob die europäischen Bevölkerungen bereit sind, sich dagegen zu wehren. Ungarische und italienische Verhältnisse lassen erhebliche Zweifel aufkommen.

Warum kann die Linke dem nichts entgegensetzen? Wo sind die Kräfte, die gegen diese Entwicklung aufstehen?

Die sind weitgehend verloren gegangen. Der Vorwurf an linke Parteien, nichts gegen die Ausbreitung des Neoliberalismus zu tun, geht allerdings insofern ins Leere, als intellektuell ja nichts da ist. Eine Partei kann nur gesellschaftliche Vorstellungen umsetzen, die vorhanden sind. Parteien sind keine Erfinder, sondern Umsetzer von Ideen; und an denen fehlt es. Die Linke erkennt auch nicht, dass die Ausschaltung der Marktwirtschaft derzeit von den Kräften des Casino-Kapitalismus betrieben wird. Auf Finanzmärkten herrscht das Gegenteil von Marktwirtschaft, weil die Kernidee der Marktwirtschaft, nach der steigende Nachfrage steigendes Angebot mit sich bringt, auf Finanzmärkten nicht funktioniert. Dort folgt auf höhere Nachfrage eine Reduktion des Angebots. Damit hat man manisch-depressive Märkte, die das Gegenteil von Gleichgewichtszuständen herstellen.

Was aber auch eine Folge gesättigter Märkte ist. Nur deshalb hat sich doch Kapital entschieden, in die Spekulationssphäre zu gehen. Oder nicht?

Die Märkte sind ja nicht wirklich gesättigt. Schauen wir uns nur große Teile der Weltbevölkerung an mit ihrem Hunger nach besseren Lebensverhältnissen. Das wäre ein riesiges Potenzial für Wachstum in einem funktionierenden marktwirtschaftlichen Umfeld. Aber das System erlaubt es nicht, weil es durch die Ohnmacht der Handlungsakteure gerade auch in den Ländern der Peripherie gar nicht möglich ist, dieses Nachfragepotenzial zu wecken. Der gegenwärtige Kapitalismus verhindert das, weil politische Steuerungsprinzipien außer Kraft gesetzt sind.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 18. Oktober 2013


Geldunion oder mehr?

Wirtschaftspolitische Reformen reichen nicht

Von Katja Herzberg **


Wenn von der Reformierung der Europäischen Union und ihren Institutionen die Rede ist, wird darunter derzeit hauptsächlich die Regulierung der Finanzmärkte durch eine Bankenunion, einen einheitlichen Aufsichtsmechanismus und etwa die Finanztransaktionssteuer gefasst. Auch beim anstehenden Europäischen Rat am 24. und 25. Oktober in Brüssel findet sich die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) als zentraler Tagungsordnungspunkt. Im Dezember sollen die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedsstaaten die nächsten Beschlüsse fassen. In der kommenden Woche werden, so heißt es in der Einladung des EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, »der Rahmen einer verstärkten wirtschaftspolitischen Koordinierung und die soziale Dimension der WWU« geprüft.

Damit versucht Van Rompuy die Vorschläge aus seinem Papier »Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion« von Juni 2012 weiter umzusetzen. Fortschritte erzielte er bisher vor allem beim Thema Bankenunion, die die EU-Finanzminister am Dienstag verabschiedeten. Grundlegende Demokratiedefizite der EU sind aber kein Thema, mit dem sich die Mitgliedsländer und Brüsseler Institutionen derzeit beschäftigen.

Gewichtige Veränderungen bezüglich neu eingeführter Positionen wie dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, dem ständigen EU-Ratspräsidenten, Kompetenzausweitungen für die EU-Kommission oder mehr Mitbestimmung für das Europäische Parlament hielt zuletzt der Vertrag von Lissabon von 2009 bereit. In der Kritik blieb aber auch danach der Ministerrat, der das wichtigste gesetzgeberische Gremium ist, in dem aber lediglich Vertreter der nationalen Regierungen sitzen. Zwar obliegt allein der EU-Kommission, die bisher auch maßgeblich von den nationalen Regierungen bestimmt wird, das Recht, Gesetzesvorschläge einzubringen. Aber der Rat ist in der Lage, Vorhaben stark abzuändern. Zudem ist das Europäische Parlament, das als einzige EU-Institution direkt von der Bevölkerung der Mitgliedsländer gewählt wird, ihm noch immer nicht komplett gleichgestellt. In der Wettbewerbs-, Handels- sowie Außen- und Sicherheitspolitik hat das Parlament nur ein Mitspracherecht. Diskutiert wurde zuletzt jedoch lediglich eine Direktwahl des EU-Ratspräsidenten und die Verkleinerung der EU-Kommission mit ihren derzeit 28 Posten, wie sie der Vertrag von Lissabon bereits vorsieht.

Mehr Schwung könnte mit dem Jahreswechsel in die Debatte kommen. Ab Januar übernimmt Griechenland für ein halbes Jahr den EU-Ratsvorsitz und darf damit die wichtigen Ministertreffen koordinieren. Laut Angaben griechischer Regierungsvertreter gegenüber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« sollen zwar weniger Ratstreffen in Hellas stattfinden und das Budget im Vergleich zu vorherigen Präsidentschaften geringer gehalten werden, doch in Fragen zur Zukunft der EU will sich Griechenland inhaltlich einbringen. Vor allem soziale Aspekte dürften damit in den Vordergrund rücken.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 18. Oktober 2013


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