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Antworten aus dem "alten Europa"

Reaktionen französischer und deutscher Intellektueller auf eine amerikanische Provokation

Die Antworten auf die provokativen Äußerungen des US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld vom 22. Januar 2003 ("Frankreich ist ein Problem, Deutschland ist ein Problem") ließen nicht lange auf sich warten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte am 24. Januar eine reichhaltige Auswahl an intellektuellen - durchaus auch konservativen - Stimmen aus dem "alten Europa" (Spiegel-online verbreitete sie ebenfalls). Darunter sind auch Statements, die eher in das Horn Bushs und Rumsfelds blasen als in das der "Nein"-Sager. Interessant sind sie aber allemal. Wir dokumentieren einige von ihnen in Auszügen.


Jürgen Habermas
Das säkulare Selbstverständnis der Neuen Welt zehrt von einem christlichen Erbe, von der Parteinahme für den ordo rerum novarum. Aus dem alten Europa waren es nicht die schlechtesten Geister, die sich von diesem Pathos des neuen Anfangs haben anstecken lassen - erst recht seit 1945. Auf den Flügeln dieses amerikanischen Geistes hat sich hierzulande eine normative Denkungsart gegen alte Mentalitäten durchgesetzt - gegen den realpolitischen Zynismus der Abgebrühten, gegen die konservative Kulturkritik der Feinsinnigen und gegen den anthropologischen Pessimismus derer, die auf Gewalt und gewalthabende Institutionen setzen. Es ist eine merkwürdige Verkehrung der Fronten, wenn Rumsfeld - der Politiker des von außen erzwungenen "Regimewechsels" und der Theoretiker des "preemptive strike" - dieses neue Europa "das alte" nennt. Er selbst verantwortet eine Sicherheitsdoktrin, die völkerrechtlichen Grundsätzen spottet. In der Kritik seiner europäischen Freunde begegnen ihm die preisgegebenen eigenen, die amerikanischen Ideale des 18. Jahrhunderts. Aus dem Geist dieser politischen Aufklärung sind ja die Menschenrechtserklärung und die Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen, sind jene völkerrechtlichen Innovationen hervorgegangen, die heute in Europa eher Anhang zu finden scheinen als in der ziemlich alt aussehenden Neuen Welt.

Peter Sloterdijk
(...) Geben wir es zu: Tatsächlich läuft eine Spaltung durch die westliche Welt, aber ihre Bruchlinie wird durch die Rumsfeldschen Vulgaritäten nicht erkennbar. Das alte Europa, durch Frankreich und Deutschland ehrenvoll vertreten, ist die avancierte Fraktion des Westens, die sich unter dem Eindruck der Lektionen des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem postheroischen Kulturstil - und einer entsprechenden Politik - bekehrt hat; hingegen sitzen die Vereinigten Staaten in den Konventionen des Heroismus fest. Helden vom Typus Rumsfeld und Bush sind von dem Glauben erfüllt, daß es die Gewalt ist, die frei macht, und daß Kultur und Gesetze nur bei schönem Wetter gelten. Der Streit geht um den Sinn von "Realität": Rumsfeld meint, die USA betrieben Realpolitik; die Problematischen in Europa denken eher, daß in Washington der Realinfantilismus an der Macht ist.

André Glucksmann*
Die sogenannte gemeinsame Position Frankreichs und Deutschlands ist nur eine scheinbare: Schröder hat erklärt, daß sein Land an einem Krieg gegen den Irak unter keinen Umständen mitmachen werde. Chirac läßt diese Frage offen. Es gibt kein übereinkommendes Engagement - man ist sich nur einig, wenn es um das Abseitsstehen geht. Frankreich und Deutschland sind sich einig, nichts gegen Putin zu unternehmen. Und sie schauen zu, wenn die Vertreterin Libyens an die Spitze der UN-Menschenrechtskommission gewählt wird - was schon merkwürdig ist. Wir sind am Nullpunkt des Engagements angekommen und erreichen die Unendlichkeit im Bereich des Kapitulierens. Was den Irak betrifft, bin ich mit Salman Rushdie einverstanden: Das Land wird von einem Tyrannen beherrscht. Das Volk hat ein Recht darauf, von ihm befreit zu werden. (...)

* Philosoph

Luc Bondy*
Was einen an dieser Sache so skandalisiert: daß hier Leute mit höchster Phantasielosigkeit am Werk sind, Verbrecher, die mit dem Krieg spielen. Und man sitzt als Zuschauer dabei und ist dazu verdammt, passiv und ohnmächtig mitzuerleben, wie etwas völlig Unnötiges passiert. Denn keiner kann einem sagen, wozu dieser Krieg gut sein soll. Wenn Herr Rumsfeld nun verächtlich sagt, das friedenssüchtige Europa sei eben "das alte Europa", dann ehrt uns dies. Wenn das alte Europa, das den Krieg gekannt hat, nun die Vernunft und die Raison besitzt, den Krieg nicht mehr zu wollen, dann bin ich für dieses alte Europa, das das neue Europa ist.

* Regisseur, Intendant der Wiener Festwochen.

Jacques Derrida*
Meine Reaktion läßt sich kurz fassen: Ich finde einen solchen Ausspruch schockierend, skandalös und bezeichnend. Bezeichnend für die Unkenntnis darüber, was Europa war, was es ist und sein wird. Die Äußerung des amerikanischen Verteidigungsministers macht wohl unfreiwillig gerade deutlich, wie dringlich die Aufgabe der europäischen Einigung ist.

* Professor für Philosophie an der "Ecole Normale Supérieure" in Paris

Alice Schwarzer

Der Ton ist entlarvend. Die in der Tat überwältigende Weltmacht Amerika scheint es inzwischen überhaupt nicht mehr gewohnt zu sein, daß ihr widersprochen wird. Auch nicht in Fragen, bei denen es um Leben und Tod geht - den Tod der anderen. Und dabei gehen die elementarsten Werte ganz en passant über die Wupper: So soll, man höre und staune, nicht etwa der Ankläger (die Vereinigten Staaten) die Schuld des Angeklagten (Saddam Hussein) beweisen - sondern der Angeklagte soll seine Unschuld beweisen. Und auch für Europa ist die amerikanische Strategie nun unverhüllt die der knallharten Faust: Das "alte" Europa soll gegen das "neue" ausgespielt werden (nachdem Bush sich mit Putin den Ölmarkt aufgeteilt hat). (...)

Paul Virilio*
(...) Europa hat allen Grund, sich gegen die verfehlte amerikanische Entschlossenheit zum Krieg zu stellen, die auch das sehr fragil gewordene Amerika in den Abgrund stürzen könnte. Nur muß sich Europa auf sich selbst, auf seine Ursprünge und seine Geschichte besinnen und aufpassen, daß es sich durch vorschnelle Erweiterung nicht selbst auflöst. Ohne klare Grenzziehung ist keine Politik möglich.

* Französischer Philosoph und Medientheoretiker

Tahar Ben Jelloun*
(...) Beunruhigend ist, daß die in ihrer Kriegsfixierung blind gewordene Bush-Regierung sich aufführt, als hätte die Zivilbevölkerung der arabischen Welt und nun auch Europas keine Bedeutung. Am meisten kümmert mich aber, daß hier nicht die Intelligenz an der Macht ist, sondern eine Beschränktheit, die stolz auf ihre Grobheiten ist. Zu wissen, das die Geschicke dieser Welt in den Händen solcher Leute liegen, macht Angst.

* Schriftsteller; geboren in Marokko, lebt Tahar Ben Jelloun seit langem in Frankreich. Letzte Romanveröffentlichung: "Das Schweigen des Lichts".

Durs Grünbein*
(...) Ich betrachte die Schelte des listigen Verteidigungsministers als eine Ehre. Das ist ein schlechter Machiavellist, der beim Aufstand der Vasallen die Nerven verliert. Der drohende Unterton bestätigt, wie goldrichtig das deutsche Außenministerium mit seiner Doktrin von der "Partnerschaft im Widerspruch" liegt. Was sich da anbahnt, ist der Übergang in ein neues Zeitalter der Weltpolitik. Europa formiert sich als dritte Kraft im Spiel der Supermächte. (...)

Schriftsteller, Berlin. Letzte Veröffentlichungen: "Una Storia Vera", "Erklärte Nacht" und "Das erste Jahr".

Max Gallo*
Durch die außenpolitische Annäherung bekommt das "europäische Europa", von dem de Gaulle sprach, eine Perspektive. Die gemeinsame Stellungnahme gegen einen Krieg im Irak gibt dem Elysée-Vertrag seine ursprüngliche Substanz zurück. Er hatte sie verloren, weil die Bundesrepublik zu sehr auf Amerika eingeschworen war und im Zweifelsfall atlantisch und nicht europäisch reagierte. Die jetzige Lage fördert das Zusammenrücken von Frankreich und Deutschland. Man darf darüber die vielen Probleme nicht vergessen. Die Wirtschaftssysteme sind eng miteinander verflochten, aber auch ganz unterschiedlich organisiert. Die Sprachkenntnisse gehen dramatisch zurück. "Arte" hat schlechte Einschaltquoten - die Symbole reichen nicht. Die europäische Einheit kann von der Irak-Resolution stark profitieren. Auch ihr internationales Gewicht ist nicht unbeträchtlich. Ob sie den Krieg verhindern kann, bleibt abzuwarten. Die Amerikaner betonen, daß sie bereit sind, allein in den Kampf zu ziehen. Doch gibt es ein zwar nicht militärisches, aber diplomatisches Gegengewicht, daß man nicht unterschätzen sollte. Wenn der Sicherheitsrat gegen den Krieg ist, wird es für die Amerikaner schwierig, ihn zu führen.

* Historiker und Schriftsteller, ehem. Regierungssprecher Mitterrands.

Peter Schneider*

Natürlich darf und soll man sich gegen die Anwürfe aus dem Weißen Haus wehren. Wenn den Deutschen und Franzosen jetzt gesagt wird, sie hätten den Realitätssinn verloren, muß man die amerikanische Regierung darauf aufmerksam machen, daß niemand den Realitätssinn gepachtet hat. Schon gar nicht ein Herr Rumsfeld, der den amerikanischen Bürgern weismachen will, die ganze Welt stehe in der Irak-Frage hinter Amerika. Angeblich glaubt inzwischen die Hälfte der amerikanischen Bürger, daß Saddam Hussein der Urheber der Anschläge vom 11. September sei - was auch nicht gerade für den Realitätssinn der Regierungspropaganda und der Medien spricht. Was nun aber die Unterscheidung zwischen dem alten und neuen Europa betrifft, so hat sich Herr Rumsfeld vergaloppiert. Wenn er mit dem Titel "altes Europa" jetzt alle diejenigen anspricht, die gegen einen Alleingang der Vereinigten Staaten sind, dann darf man mehr als die Hälfte der Amerikaner zu den Alteuropäern rechnen. (...)

* Schriftsteller, Berlin. Letzte Buchveröffentlichung: "Die Diktatur der Geschwindigkeit".

Jochen Gerz*
Die First Nations von Europa, man kann ruhig auch von Eingeborenen sprechen, sind glücklich, mit vielen Stimmen aus ihrer langen, oft blutigen Geschichte hervorgegangen zu sein. Auch Nordamerika hat eine lange Geschichte. Sie ist zu lang, um verschwiegen zu werden. Erst wenn die First Nations von Amerika zu den vielen Stimmen der Vereinigten Staaten von Amerika gehören, kann die Regierung im Namen der Demokratien sprechen und Demokratie fordern. Solange die Eingeborenen des nordamerikanischen Kontinents in Reservaten leben, wird die Regierung in Washington hören, was sie jetzt zu ihren Kriegsplänen gegen den Irak aus allen Teilen des eigenen Landes und der Welt hört: NOT IN OUR NAME.

* Künstler, geb. in Berlin, lebt und arbeitet in Paris. Unter dem Titel "Verkehrte Zeit" zeigt das Kunstmuseum Liechtenstein gegenwärtig Videos und Installationen von 1969 bis 2002.

Michel Tournier*
Ich bin glücklich, daß Frankreich und Deutschland zusammenfinden, um gegen einen amerikanischen Einmarsch im Irak zu protestieren. Man kann diesen Krieg mit keinem Argument rechtfertigen. Ich hoffe nur, daß die deutsch-französische Entente noch weiter gehen wird. Die beiden Länder müßten jetzt eine Armee-Einheit in den Irak schicken, um das Volk zu schützen und gegen die amerikanische Aggression zu verteidigen.

* Schriftsteller; wurde berühmt mit dem Roman "Der Erlkönig".

Adolf Muschg*
(...) Der Zweite Weltkrieg war ein Produkt unilateraler Gewaltbereitschaft, vor welcher die Welt nach 1945 sicherer werden sollte. Dafür schloß sich der alte Kontinent zu einer epochalen Friedensgemeinschaft zusammen, dafür wurde jedoch auch das fragile, aber unentbehrliche Instrument der Vereinten Nationen geschaffen. Diese müssen dem neu ausgerufenen Krieg gegen den Terrorismus als verbindliches Kontrollorgan dienen. Ein Krieg im Irak hätte die unabsehbare Destabilisierung einer ganzen Weltregion zur Folge; sie ist ein zu hoher Preis für den Sturz eines lokalen Tyrannen. Dies der Bush-Administration zu signalisieren ist das Gegenteil von Drückebergerei: Es ist ein Dienst, zu dem die Europäer ihre Erfahrung mit dem eigenen Imperialismus verpflichtet. Dessen Folgen sind im Nahen Osten immer noch mit Händen zu greifen, aber mit Waffen sind sie nicht zu beseitigen.

* Schriftsteller, Zürich. Zuletzt erschien von ihm die Erzählung "Das gefangene Lächeln".

Jorge Semprun*
(...) Zum Glück stellt Europa ein Problem dar in der Welt. Es vertritt eine Position in der Frage eines Kriegseinsatzes im Irak, die mir besonnen und richtig erscheint. Man könnte die Sache auch umdrehen und sagen: Das Problem ist Bush selbst. Solange Europa versucht, einen ungerechten und überdies unsinnigen Krieg zu verhindern, ist es, ob alt oder jung, an seinem rechten Platz.

* Jorge Semprun, spanischer Schriftsteller, Buchenwald-Überlebender, lebt in Paris. Letzte Romanveröffentlichung: "Der Tote mit meinem Namen".

Régis Debray*
Ich war gegen den Golfkrieg und auch gegen das Eingreifen im Kosovo; da waren die Europäer willenlose Mitläufer im Fahrwasser der Vereinigten Staaten und unterstellten sich ihrer Führung. Das Zusammengehen von Deutschland und Frankreich gegen Amerika und ihre entschiedene Ablehnung des Kriegs erfreuen mich und erfüllen mich mit großer Hoffnung. Für Europa ist das sehr wichtig. Ich bin dem Euro und der europäischen Vereinigung stets skeptisch gegenübergestanden - jetzt bekommt Europa eine politische, eine außenpolitische Dimension, von der man sich einiges versprechen kann.

* Régis Debray, einst Kampfgefährte von Che Guevara in Bolivien. Später außenpolitischer Berater Mitterrands.

Auszüge aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.2003


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