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Der "Patient Europa" wird weiter leiden

Linker EU-Abgeordneter: Alte Rezepte für neoliberalen Aufschwung

Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Strategie EU 2020 beseitige weder die Ursachen von Wirtschafts- und Finanzkrisen, noch befördere sie die Schaffung einer sozialen EU, bemängelt Europas Linke. Mit dem früheren Gewerkschaftsfunktionär und heutigen Europaabgeordneten der LINKEN Thomas Händel sprach in Straßburg für das "Neue Deutschland" (ND) Uwe Sattler über die Kritikpunkte an dem "Wachstumsplan" und Alternativen dazu.

ND: Mit der Lissabon-Strategie hat die EU vor zehn Jahren bereits einmal einen – gescheiterten – Wachstumsplan vorgelegt. Folgt mit EU 2020 eine Neuauflage?

Händel: So scheint es. Die Strategie EU 2020 kommt tatsächlich im Wesentlichen als Aufguss der alten Lissabon-Strategie daher. Die wenigen konkreten Ziele, die die Kommission den Mitgliedstaaten mit auf den Weg geben wollte, wurden noch vor der offiziellen Veröffentlichung durch Bundeskanzlerin Merkel abgelehnt und werden wohl keinen Bestand haben. Alles in allem aber ist EU 2020 wieder ein Rezept für dieselbe Medizin, die schon in den letzten zehn Jahren nicht nur nicht geholfen, sondern die Beschwerden des »Patienten« Europa verstärkt hat.

Was ist denn tatsächlich neu an EU 2020?

Neu an EU 2020 sind zum Einen das wenig ambitionierte, aber immerhin konkrete Ziel einer Armutsreduktion und bestimmte Bildungsziele. Ansonsten heißt es in allen Felder »Weiter wie bisher, aber mit mehr Energie«. Eine Krisenanalyse fand und findet nicht statt. Man könnte noch die vermehrten Lippenbekenntnisse zu einem sozialeren Europa als Neuerung anerkennen. Diese jedoch werden durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt als auch durch die schon beschlossene Exitstrategie für die Konjunkturhilfen der Mitgliedstaaten ad absurdum geführt. Und das wiederum ist so gar nicht neu in der EU. Wirtschaft und Wettbewerb gehen vor, Soziales und alles andere hat sich dem unterzuordnen.

Es ist doch nicht schlecht, verbindliche Ziele zur Armutsbekämpfung festzulegen.

Nein, das wäre im Gegenteil sogar sehr gut. Doch bisher weigern sich die Mitgliedstaaten, allen voran die Bundesrepublik, diese konkreten Ziele zu beschließen. Zum Teil mit hanebüchenen Begründungen – wie die der deutschen Kanzlerin, dass sich Armut in der EU wegen der unterschiedlichen Lebensweise in den Mitgliedstaaten und unterschiedlicher Statistiken nicht vergleichen ließe und ein solches Ziel deswegen nicht hilfreich sei. Dabei gibt es eine klare europäische Definition für Armut. In der EU gelten all jene als arm, die mit weniger als 60 Prozent des statistischen Median-Äquivalenzeinkommens des jeweiligen Mitgliedstaates leben müssen. Außerdem reicht es eben nicht, ein Ziel zu setzen, ohne geeignete Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziel mit zu definieren. Und davon ist EU 2020 weit entfernt.

Marktliberalisierungen gehören weiter zu den Rezepten. Hat man aus der Finanz- und Wirtschaftskrise nichts gelernt?

Offensichtlich nicht, wie in Griechenland derzeit zu beobachten ist. Dort sollen, und Griechenland ist nur der Testfall, für viele andere Länder der EU genau die Instrumente helfen, die Europa in die derzeitige Situation gebracht haben, nämlich Privatisierungen, Stellenabbau im öffentlichen Dienst und Absenkung der Sozialleistung. Dass damit einer Erholung der lokalen Wirtschaft jeder Boden entzogen wird, scheint entweder niemand wissen zu wollen oder wird wissentlich in Kauf genommen. Stattdessen müssten endlich das Monster Finanzmarkt mit strenger Regulierung und Verboten von hochspekulativen Finanzinstrumenten wieder eingefangen werden, eine wirksame Finanztransaktionssteuer eingeführt und u.a. mit den so generierten Einnahmen die Wirtschaft wieder angekurbelt werden.

Die Linke in Europa kritisiert den neoliberalen Kurs. Was aber will sie ihm entgegensetzen?

Einiges habe ich ja schon skizziert. Darüber hinaus und zuvorderst braucht die EU endlich soziale Mindeststandards. Mindesteinkommen, Mindestlöhne, für alle zugängliche öffentliche Dienstleistungen – das sind nur einige wesentliche Maßnahmen. Wir streiten derzeit massiv für »Gute Arbeit in Europa« – ein Leitbild für unbefristete Beschäftigung, von der armutsfest ein eigenständiges Leben gestaltet werden kann. Wir glauben, dass dies den Menschen Sicherheit zurückgibt, Masseneinkommen erhöht und damit die beste Garantie für eine Erholung der Volkswirtschaft ist. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass globale Entwicklungen auch ein stärkeres Engagement in Sachen Ökologie und Nachhaltigkeit erfordern.

Hohe Sozialstandards etc. sind gut, aber sie müssen erst erarbeitet werden. Ist das in der Krise nicht illusorisch?

Eben nicht. Wenn es ein Zeitfenster für ein Umlenken gibt, dann jetzt. Wann vorher waren die Menschen mehr überzeugt, dass es so nicht weiter gehen könne? Wann vorher war bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein der Wunsch nach Regulierung der Märkte größer? Unsere Aufgabe heute muss es sein, die durchaus sehr heterogene gesellschaftliche Linke zu befähigen, diese Verantwortung auch anzunehmen. Dazu bedarf es zum einen einer geeinten Linken, zum anderen klarer Alternativkonzepte. Letzteres glauben wir zu haben, an Ersterem arbeiten wir noch.

Das Stichwort: Die Strategie EU 2020

Im März hat die Europäische Kommission ihre Strategie »EUROPA 2020 – Für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum« vorgelegt, über die der Gipfel entscheiden soll. Darin hat die Kommission fünf Kernziele aufgelistet, die in den nächsten zehn Jahren in den Mitgliedstaaten erreicht werden sollen:
  • 75 Prozent der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren sollten in Arbeit stehen;
  • drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes sollen für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden;
  • die 20-20-20-Klimaschutzziele sollen erreicht werden (einschließlich einer Erhöhung des Emissionsreduktionsziels auf 30 Prozent, unter dem Vorbehalt der Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen);
  • der Anteil der Schulabbrecher soll auf unter 10 Prozent abgesenkt werden und mindestens 40 Prozent der jüngeren Generation sollten einen Hochschulabschluss haben;
  • die Zahl der armutsgefährdeten Personen sollte um 20 Millionen sinken. (ND)


* Aus: Neues Deutschland, 17. Juni 2010


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