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Milliarden-Absturz der deutschen Entwicklungshilfe

Hilfswerke terre des hommes und Welthungerhilfe üben scharfe Kritik an Bundesregierung / Bericht 2010 über "Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe" vorgelegt


Am 8. November 2010 legten die Hilfswerke terre des hommes und Welthungerhilfe ihren 18. Bericht "Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe" vor. Wir dokumentieren hierzu die Pressemitteilung der beiden Organisationen sowie eine Kurzfassung mit den wichtigsten Ergebnissen der Studie.


Pressemitteilung
18. Bericht zur Wirklichkeit der Entwicklungshilfe

Welthungerhilfe und terre des hommes kritisieren Milliardenabsturz der deutschen Entwicklungshilfe

Berlin, 08.11.2010 - Die Hilfswerke terre des hommes und Welthungerhilfe kritisieren den Milliarden-Absturz der deutschen Entwicklungshilfe. Die öffentliche Entwicklungshilfe Deutschlands ist im Jahr 2009 um mehr als eine Milliarde Euro gesunken. Mit 8,6 Milliarden Euro war sie 2009 rund zwölf Prozent niedriger als im Vorjahr (9,7 Milliarden Euro). Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen ist von 0,38 auf 0,35 Prozent gesunken, das ist der niedrigste Wert seit 2004.

Deutschland hat sich dazu verpflichtet, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe auszugeben. Im Jahr 2010 sieht der Plan 0,51 Prozent vor. Dieses Ziel wird klar verfehlt. »Der Stufenplan ist nicht nur eine internationale Verpflichtung, er ist auch ein Gradmesser für die internationale Solidarität Deutschlands«, sagt Wolfgang Jamann, Generalsekretär der Welthungerhilfe. »Im Moment scheinen nationale Interessen absolute Priorität zu haben.«

Kritisch sehen die Hilfswerke in diesem Zusammenhang auch den Strategiewechsel hin zu einer engeren Anbindung der Wirtschaft an die Entwicklungspolitik. Unter Entwicklungsminister Niebel wurden die Mittel für »Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft« 2010 um 25 Prozent auf 60 Millionen Euro erhöht und eine neue Servicestelle für die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft eingerichtet.

Der Schwerpunkt der Kooperationsvorhaben liegt in Asien, nur ein Viertel entfällt auf Afrika. Die Mittel konzentrieren sich auf die Bereiche der nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung und der Investitionsförderung. »Die Finanzierung von Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft birgt die Gefahr, dass dieses Geld zur Armutsbekämpfung und zur Stärkung öffentlicher Bildungs- und Gesundheitssysteme in den armen Ländern fehlt«, erklärte Danuta Sacher, Geschäftsführerin von terre des hommes. »Es wäre deshalb fatal, wenn die Regierungskoalition die deutsche Entwicklungspolitik den Anliegen und Wünschen der deutschen Wirtschaft anpassen würde. Verlierer wären die Menschen in den Ländern und Sektoren, die für deutsche Unternehmen nicht profitabel sind, also Arme in ländlichen Gebieten und Kinder.«

Der Bericht »Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe« ist als Schattenbericht zu den offiziellen Zahlen des Entwicklungsausschusses (Development Assistance Committee/DAC) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) konzipiert. Er untersucht Quantität und Qualität der deutschen und internationalen Entwicklungshilfe.

Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe

Kritischer Bericht zur deutschen Entwicklungspolitik

Die Publikation »Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe« ist das Ergebnis einer langjährigen Kooperation zwischen der Deutschen Welthungerhilfe und terre des hommes. Der Bericht erscheint seit 1993 jährlich und hat sich als Instrument kritischer Analyse der Entwicklungspolitik der Bundesregierung etabliert und bewährt. Der Bericht ist als OECD-DAC-Schattenbericht zur offiziell deklarierten deutschen Entwicklungspolitik konzipiert. Er skizziert quantitative und qualitative Aspekte deutscher öffentlicher Leistungen vor dem Hintergrund der entwicklungspolitischen Ansprüche und Zielsetzungen der Bundesregierung und bezieht dabei auch den internationalen Rahmen deutscher Entwicklungspolitik ein. Ein Schwerpunkt bleibt daher die Frage nach der Umsetzung der UN-Millenniumsentwicklungsziele: Politischen Absichtserklärungen werden tatsächliche Zahlen und Fakten gegenübergestellt.

Kurzübersicht

Krisenfolgen für die Entwicklungsländer nicht überwunden. Trotz wirtschaftlichen Aufschwungs müssen viele Menschen in den Entwicklungsländern unverschuldet noch jahrelang unter den Folgen der globalen Wirtschafts-, Finanz- und Ernährungskrise leiden. Die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, wird nach Schätzungen der Weltbank noch im Jahr 2015 mit etwa 1,132 Milliarden um 267 Millionen größer sein, als dies ohne die Krise der Fall gewesen wäre. Selbst im besten Fall eines rapiden weltweiten Wirtschaftsaufschwungs wäre die Zahl der extrem Armen 2015 um 53 Millionen höher als ohne die Krise. 925 Millionen Menschen leben 2010 in Hunger. Eine substantielle Verbesserung der Lage ist angesichts erneut steigender Rohstoffpreise nicht in Sicht.

Versuch der Schadensbegrenzung nach dem Kopenhagener Klimadebakel. Die 15. Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarahmenkonvention war am 19. Dezember 2009 ohne Konsens zu Ende gegangen. Verabschiedet wurde mit dem sogenannten Copenhagen Accord lediglich eine unverbindliche Absichtserklärung, die weder dem Problemdruck des globalen Klimawandels noch den hohen Erwartungen an die Konferenz gerecht wurde. Die Industrieländer sagen in der Erklärung zu, bis 2012 insgesamt 30 Milliarden US-Dollar neue und zusätzliche Mittel für Klimaschutz und Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern bereitzustellen. Bisherige Anzeichen deuten aber darauf hin, dass die zugesagten Gelder keineswegs allesamt „neu und zusätzlich“ sind. Dies gilt auch für die deutschen Leistungen. Eine völkerrechtlich verbindliche Post-Kyoto-Vereinbarung ist auch von der nächsten Klimakonferenz im Dezember 2010 in Cancun nicht zu erwarten.

Enttäuschender MDG-Gipfel in New York. Gemessen an der Prominenz der Teilnehmer war der MDG-Gipfel der Vereinten Nationen im September 2010 das wichtigste entwicklungspolitische Treffen des Jahres. Das Ergebnisdokument des Gipfels bekräftigt zwar die Ziele und Verpflichtungen der Regierungen aus dem Jahr 2000, belässt es aber weitgehend beim Recycling von Textbausteinen aus früheren Dokumenten. Konkreter und medienwirksamer waren die Zusagen, die außerhalb des eigentlichen Gipfels im Rahmen von Ban Ki-moons Globaler Strategie für Mütter- und Kindergesundheit präsentiert wurden. Regierungen, Unternehmen, privaten Stiftungen und NROs machten Finanzierungszusagen in Höhe von 40 Milliarden US-Dollar bis 2015. Aber auch hierbei handelt es sich nicht nur um zusätzliche Mittel sondern zum Teil um die Fortschreibung bestehender Aktivitäten oder die Umschichtung von Mitteln innerhalb stagnierender Budgets.

Rückgang der weltweiten Entwicklungshilfe 2009. Die öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) der 23 Geberländer der OECD ist 2009 um knapp drei Milliarden auf 119,6 Milliarden US-Dollar gesunken. 2008 waren es noch 122,3 Milliarden USDollar. Das 0,7-Prozentziel haben, wie in den Vorjahren, nur fünf Länder erfüllt: Schweden, Norwegen, Luxemburg Dänemark und die Niederlande.

Milliarden-Absturz der deutschen ODA 2009. Die öffentliche Entwicklungshilfe Deutschlands ist im Jahr 2009 um über eine Milliarde Euro gesunken. Mit 8,6 Milliarden Euro war sie 2009 rund 12 Prozent niedriger als im Vorjahr (9,7 Milliarden Euro). Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen ist von 0,38 auf 0,35 Prozent gesunken, den niedrigsten Wert seit 2004. Nach Kalkulationen der Europäischen Kommission müsste die deutsche ODA um zwei Milliarden Euro pro Jahr steigen, damit das 0,7-Prozentziel bis 2015 noch erreicht wird.

Null-Wachstum des BMZ-Etats 2011. Der Etat soll lediglich um drei Millionen Euro auf 6,073 Milliarden Euro steigen. Die Situation wird sich ab dem Jahr 2012 noch verschärfen, denn ab diesem Jahr sind erhebliche Streichungen im BMZEtat vorgesehen. Nach der Finanzplanung der Bundesregierung soll der Haushalt des BMZ bis 2014 um 380 Millionen Euro schrumpfen.

Zehn-Milliarden-Lücke der EU. Die EU wird ihr kollektives Ziel, im Jahr 2010 die ODA-Quote auf 0,56 Prozent des BNE zu steigern, deutlich verfehlen. Nach Prognosen der Europäischen Kommission werden die ODA-Leistungen um zehn Milliarden Euro niedriger ausfallen, als es die Staats- und Regierungschefs 2005 zugesagt hatten. Elf Länder werden das anvisierte Zwischenziel voraussichtlich erreichen, 16 werden es verfehlen. In absoluten Zahlen besteht die größte Diskrepanz zwischen zugesagtem und tatsächlichem ODA-Niveau bei Italien mit 4,9 Milliarden Euro und Deutschland mit 2,7 Milliarden Euro.

Nur 39 Prozent für die Entwicklungsprogramme der Partner. Nur ein Teil der deutschen ODA steht tatsächlich zur Umsetzung der entwicklungspolitische Programme in den Partnerländern zur Verfügung. Im Jahr 2008 betrug der Anteil der sogenannten länderprogrammierbaren Hilfe nur 39 Prozent. Nach OECD-Definition ist dies die ODA abzüglich der Schuldenerlasse, der humanitären Hilfe, der Verwaltungskosten, der Kosten für Asylbewerber, der Zahlungen, die nicht von den Hauptentwicklungsinstitutionen geleistet werden, der kalkulatorischen Studienplatzkosten von Studierenden aus Entwicklungsländern sowie einiger kleinerer Ausgabenposten.

Neuausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik. Unmittelbar nach dem Regierungswechsel begann die Leitung des BMZ, Prinzipien und Prioritäten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) neu zu definieren, das Ministerium umzubauen und die Struktur der EZ-Institutionen zu reformieren. Elemente der neuen Politik sind:
  • Konzentration auf die „Schlüsselsektoren“ Gute Regierungsführung, Bildung, Gesundheit, ländliche Entwicklung, Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz sowie Zusammenarbeit mit der Wirtschaft.
  • Vorrang bilateraler gegenüber multilateraler EZ.
  • Kürzung der Budgethilfe.
  • Perspektivische Reduzierung der Zahl der Partnerländer von 58 auf 50.
  • Zusammenlegung von GTZ, InWEnt und DED zur Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).
Strategiewechsel: Engere Anbindung der Wirtschaft an die Entwicklungspolitik. Nach den Plänen der neuen BMZ- Führung soll die deutsche EZ unternehmensfreundlicher gestaltet werden. In diesem Zusammenhang wurden die Mittel für „Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft“ 2010 um 25 Prozent auf 60 Millionen Euro erhöht, eine neue Servicestelle für die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft eingerichtet und mit der Ausarbeitung einer neuen BMZ-Strategie für die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft begonnen.

Instrumente der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft fortgesetzt. Die bisherigen Kooperationsformen mit der Wirtschaft werden unter der neuen BMZ-Führung beibehalten. Bereits zwischen 1999 und 2009 wurden 3.375 Kooperationsprojekte mit privaten Unternehmen in über 70 Ländern gestartet. Das Zusagevolumen von öffentlicher und privater Seite summierte sich in diesem Zeitraum auf 21,4 Milliarden Euro. Davon entfielen 97 Prozent auf Geschäfte von KfW Entwicklungsbank und DEG.

Regionale und sektorale Konzentration im Interesse der Wirtschaft. Der Schwerpunkt der Kooperationsvorhaben zwischen Entwicklungspolitik und Wirtschaft liegt traditionell in Asien. Auf Afrika entfielen im vergangenen Jahrzehnt rund ein Viertel aller PPP-Projekte. Kooperationsvorhaben finden (naturgemäß) dort statt, wo es für deutsche Unternehmen lukrativ ist. Die Mittel konzentrierten sich bisher auf den Bereich der nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, die Investitionsförderung sowie Vorhaben im Umweltbereich. Sektoren, die für die Verwirklichung der MDGs besonders wichtig sind, hatten nur einen geringen Anteil. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Bildung (Anteil an den PPP-Projekte: 4,4 Prozent), Gesundheit (5,6 Prozent) und Wasser (4,8 Prozent).

Kooperationsprojekte zwischen Entwicklungspolitik und Wirtschaft haben klare Grenzen. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass Entwicklungspartnerschaften kein Ersatz für die notwendige Erhöhung öffentlicher EZ-Mittel sein können, um z.B. staatliche Bildungs- und Gesundheitssysteme und den Aufbau öffentlicher Systeme der sozialen Grundsicherung zu unterstützen. Würde sich die Entwicklungspolitik vollständig nach den Anliegen und Wünschen der deutschen Wirtschaft ausrichten, wären die Verlierer die Menschen in den Ländern und Sektoren, die für deutsche Unternehmen nicht profitabel sind. Dazu zählen die Armen in ländlichen Gebieten, Kinder und benachteiligte Gruppen.

Aus: Deutschen Welthungerhilfe und terre des hommes: 18. Bericht 2010: "Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe – Eine kritische Bestandsaufnahme der deutschen Entwicklungspolitik"
www.tdh.de





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