Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Zum eigenen Nutzen

Bundesregierung betreibt Militarisierung der "Entwicklungshilfe"

Von Klaus Pedersen *

Dr. Christian Ruck, Vorsitzender der Arbeitsgruppe »Wirtschaftliche Zusammenarbeit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion« brachte es kürzlich auf den Punkt: In einem Beitrag im Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung [1] forderte er eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen »altruistischer Entwicklungspolitik« und »eigeninteressengeleiteter Geopolitik«. Zu den neuen Herausforderungen zähle die Notwendigkeit, »die Entwicklungspolitik künftig mit der Energiepolitik zu verknüpfen«. Deutschland müsse in regionalen Krisengebieten einen Beitrag zur Stabilisierung leisten. Dazu gehört seiner Ansicht nach Lateinamerika, das »durch einen linkspopulistischen Schub Gefahr läuft, seine politischen Strukturen zu vermischen«. Was immer mit »vermischen« gemeint sein mag – wenn Länder auf »linkspopulistische« Weise ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, schrillen bei der CDU/CSU die Alarmglocken, und die Region wird zum Krisenherd.

Auf einem anderen Schauplatz, dem »Millennium+5-Gipfel«, also der 60. Generalversammlung der Vereinten Nationen im September vorigen Jahres, stand die Überprüfung der Umsetzungserfolge zur Millenniumserklärung des Jahres 2000 (siehe Kasten) im Mittelpunkt. Das Ergebnis war wenig überraschend. Es wurde deutlich, daß die Erreichung der Ziele ernsthaft in Frage gestellt ist. Dies gab dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Anlaß, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zu reorganisieren. In der Öffentlichkeit wird dies als Anstrengung verkauft, die von Deutschland mitunterzeichneten Milleniumsziele doch noch zu erreichen. Näheres Hinsehen legt den Verdacht nahe, daß man hinter dem Rauchvorhang von »mehr Effizienz zur Erreichung der Milleniumsziele« an einer noch stärkeren geopolitischen Ausrichtung arbeitet.

Ein weiterer wichtiger Antrieb für die Reorganisation sind die Ergebnisse eines offiziellen Gutachtens. Die sogenannten Geberländer, allesamt Mitglieder der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), müssen alle fünf Jahre ihre Entwicklungspolitik durch zwei andere OECD-Länder begutachten lassen. 2005 erfolgte die Peer Review der deutschen Entwicklungszusammenarbeit durch ein französisch-niederländisches Expertenteam. Neben der Sammlung allgemeiner Kennziffern und Befragungen von Mitarbeitern in Behörden wurde die deutsche Zusammenarbeit am Beispiel von zwei Empfängerländern, Äthiopien und Nicaragua, vor Ort analysiert.

Das Urteil der Gutachter fiel nach den Worten von Jens Martens von der Nichtregierungsorganisation »Global Policy Forum« »erstaunlich kritisch« aus. Durch die Kruste der diplomatisch verbrämten Formulierungen dieses offiziellen Gutachtens schimmerten zwei wesentliche Kritikpunkte hindurch: Erstens, daß die deutsche Entwicklungszusammenarbeit »bislang« zu wenig auf die Armutsbekämpfung ausgerichtet sei, und zweitens, daß Konzepte und Programme zu sehr von der Warte des »Gebers« gestaltet würden.

Fakt ist, die finanziellen Mittel der deutschen »Entwicklungshilfe« steigen – sowohl der Gesamtbetrag, im Fachjargon ODA (Official Development Assistance) genannt, als auch die Haushaltsmittel des BMZ. Die jährlichen ODA-Mittel der BRD beliefen sich 2004 auf 7,2 Milliarden Euro, für Ende 2006 wird mit 9,2 Milliarden gerechnet, und für 2010 wurden, dem unverbindlichen Stufenplan der Europäischen Kommission folgend, 15,5 Milliarden versprochen.

»Entwicklungshilfe« aufgebauscht

Bei Betrachtung dieser Zahlen stellen sich drei Fragen, die im folgenden näher untersucht werden sollen: Wie kommen die Summen zustande? Was kommt davon in den »Empfängerländern« an? Wofür wird das Geld tatsächlich verwendet?

Die gegenwärtige Praxis, Ausgaben, die nicht direkt den Entwicklungsländern zugute kommen, als ODA zu verbuchen, so die Feststellung von Martens auf den Entwicklungspolitischen Diskussionstagen 2006 [2], sei äußerst fragwürdig. Dieses von der in Südafrika ansässigen Organisation ActionAid International als »Phantomhilfe« bezeichnete Prozedere hat zur Folge, daß typischerweise nur die Hälfte des buchhalterisch als »Entwicklungshilfe« ausgewiesenen Geldes dort ankommt, wo es hingehört. In einer Anfang Juli vorgelegten Studie[3] kommt ActionAid International anhand von OECD-Statistiken zu alarmierenden Ergebnissen. Alarmierend nicht deshalb, weil sich die Erkenntnisse maßgeblich von früheren unterscheiden würden, sondern im Gegenteil, weil entgegen den wiederholten vollmundigen Erklärungen – unter anderem auf dem G-8-Treffen im Juli 2005 in Gleneagles/Schottland – eben kein Politikwechsel in Richtung verstärkter Armutsbekämpfung stattgefunden hat.

ActionAid International subtrahierte alles, was nicht der Armutsbekämpfung diente, von der offiziell ausgewiesenen »Entwicklungshilfe« und kam zu dem Ergebnis, daß im Jahr 2004 die tatsächlich für die Armutsbekämpfung zur Verfügung gestellten Mittel 0,14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Geberländer entsprachen – ein Fünftel des 35 Jahre alten, bisher nie erreichten Zieles von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes als »Entwicklungshilfe«. Von den vorgeblich 79 Milliarden US-Dollar weltweiter ODA des Jahres 2004 waren 37 Milliarden US-Dollar Phantomhilfe. Die BRD rangiert in dieser Bewertung im Mittelfeld, zusammen mit Belgien, Finnland, Kanada und Neuseeland. Zu den unverschämtesten Täuschern zählen Australien, Griechenland, Österreich, Spanien und die USA, während Dänemark, Irland, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen und Schweden als relativ vorbildlich gelten.

Zum Gravierendsten gehört, daß vor allem durch ungerechte Handelsbeziehungen mehr aus den »Entwicklungshilfe« zukommenden Ländern wieder abgesaugt wird, als über selbige dorthin gelangt. Konservative Schätzungen rechnen in diesem Zusammenhang mit einem Faktor von 1,2, d.h., den weltweit 79 Milliarden US-Dollar an ODA (Phantomhilfe mitgerechnet) stehen zirka 90 Milliarden US-Dollar an Einnahmeverlusten aufgrund unfairer Regeln im Welthandel gegenüber. Ein Faktor von neun ergibt sich bei Berücksichtigung weiterer Komponenten wie Schuldendienste, Profit-Transfer aus den Ländern des Südens zurück in die Metropolen und Kapitalflucht.

Wo liegen die spezifischen Kritikpunkte der ActionAid-International-Studie, und was wird in der BRD als »Entwicklungshilfe« ausgewiesen, die keine ist? ActionAid International kritisiert, daß neun Prozent der ODA von 2004, also 6,9 Milliarden US-Dollar, deshalb nicht für die Armutsbekämpfung wirksam wurden, weil sie u. a. in die weniger armen Länder flossen, und zwar wegen deren geopolitischer oder kommerzieller Bedeutung (fehlender Armutsfokus). Das trifft in vollem Umfang auf die deutsche Vergabepolitik zu: China ist das Hauptempfängerland deutscher Entwicklungshilfe. Unter den Top ten von 2003 bis 2004 befanden sich nur zwei sogenannte Least Developed Countries (die Gruppe der 50 ärmsten Länder der Welt).

Die zweite Kritik von ActionAid International: Schuldenerlaß wird, entgegen einem 2002 von den Geberländern selbst gefaßten Beschluß, noch immer auch als »Entwicklungshilfe« und somit doppelt verbucht; im Jahr 2004 waren das 5,7 Milliarden US-Dollar (sieben Prozent der globalen ODA). Deutschland gehörte auch zu jenen EU-Ländern, die 2005 mit Streichung der Schulden für Nigeria und Irak ihre Statistik erheblich aufbesserten. Rechnerisch machte das laut ActionAid International 20 Prozent der gesamten europäischen ODA aus. Nicht nur, daß beide Länder nicht zu den Least Developed Countries gehören, Irak hatte seinen Schuldendienst ohnehin völlig eingestellt, so daß die Streichung der Schulden vor Ort überhaupt nicht ins Gewicht fiel – von der Frage, wofür im Irak in der jetzigen Situation »Entwicklungshilfe« verwendet wird, einmal abgesehen.

Den Erlaß von Schulden als Armutsbekämpfung zu bejubeln, ist auch deshalb besonders perfide, weil spätestens seit dem 2004 von John Perkins veröffentlichten Insiderbuch »Bekenntnisse eines Economic Hitman« belegt ist, daß ein unbekannter, aber vermutlich beträchtlicher Teil der Schulden in den Ländern des Südens durch subversive Methoden von den Ländern des Nordens, insbesondere den USA, vorsätzlich erzeugt wurde.

Der dritte Punkt, den ActionAid International vorbringt, ist die Verrechnung von Studienplatzkosten sowie von Kosten für die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen (einschließlich der Abschiebungskosten!). Das klingt pervers, ist aber laut OECD-Spielregeln zulässig. Nicht alle OECD-Länder machen von diesen rechnerischen Möglichkeiten Gebrauch, aber Deutschland ist mit dabei.

In der BRD wächst der Anteil der kalkulatorischen Studienplatzkosten kontinuierlich. Im Jahr 2004 waren es rund 650 Millionen Euro. Die von der Bundesregierung einmal mehr geäußerte Absicht, ausländischen Fachkräften die Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten zu erleichtern (in der Tagesschau-Meldung vom 5.8.2006 waren Absolventen explizit erwähnt), kann nur als Maßnahme zur Erhöhung des Wirkungsgrades von »Entwicklungshilfe« gewertet werden – ganz im Sinne von Rucks Forderung, die deutschen Eigeninteressen bei der Entwicklungszusammenarbeit stärker zu berücksichtigen.

Zivil-militärische Zusammenarbeit

Wofür wird das Geld, das die Länder des Südens schließlich erreicht, tatsächlich ausgegeben? Was bedeutet die Reorganisation der deutschen Entwicklungszusammenarbeit konkret?

Zum einen wird so das Engagement für Programme zur Ernährungssicherung verringert. Das »Netzwerk entwicklungspolitischer Fachleute« kritisiert, daß 2004 der Budgettitel für Ernährungssicherungsvorhaben im Haushalt des BMZ gestrichen wurde, ohne daß an anderer Stelle die Anstrengungen zur Reduzierung des Hungers verstärkt wurden.[4] Ferner kritisiert dieses aus zirka 50 freiberuflichen Experten bestehende Gremium, daß der BMZ-Sektor Ländliche Entwicklung/Welternährung, dessen Arbeit an der strukturellen Ernährungssicherung orientiert ist, seit Jahren unter rückläufiger Ausstattung leidet. In der neuen Strategie des BMZ zur »Agrarwirtschaftsförderung« wird die Absicht, den Hunger zu bekämpfen, nicht einmal mehr erwähnt, und die Herstellung eines Bezuges zum Millenniumsziel Nummer eins (siehe unten) wird offenbar als unnötig erachtet. Das hat wahrscheinlich mit Rucks Antwort auf eine der beiden von ihm formulierten »Kernfragen« zu tun, nämlich der »Frage nach der Gewichtung der deutschen Eigeninteressen bei der Auswahl der Schwerpunktländer.« Seiner Meinung nach ist die »Erörterung der deutschen Interessen bei der Auswahl der vorrangigen Partnerländer (...) heutzutage nicht mehr zu vernachlässigen«. Wenn sich also die Entwicklungszusammenarbeit an der Energiepolitik ausrichtet und auf die Stabilisierung »linkspopulistischer Krisenherde« konzentriert, bleibt für Ernährungssicherungsprogramme nicht mehr viel übrig, und Länder wie Malawi oder Moçambique fallen hinten runter.

Statt dessen ist die »zivil-militärische Zusammenarbeit« im Kommen. »Von anderen Politikfeldern (vor allem der Außen- und Sicherheitspolitik) wird eine aktive Beteiligung der Entwicklungspolitik in Postkonfliktsituationen immer mehr erwartet und gefordert. ›Bei nahezu allen größeren Einsätzen ist auf militärische Effizienz ziviles Chaos gefolgt‹, heißt es in der vom Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) [Javier Solana] vorbereiteten Europäischen Sicherheitsstrategie.« So die Aussage von Stephan Klingebiel vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik.[5] Weiter heißt es in seinem Beitrag auf den Entwicklungspolitischen Diskussionstagen 2004 über die »zielgerichtete Einbindung und Unterordnung von Entwicklungspolitik in kurzfristige politische und militärische Strategien: Hier geht es insbesondere um die weitreichende Nutzung von Instrumenten der Entwicklungspolitik (...) im Rahmen militärischen Vorgehens, wie z. B. bei den Provincial Reconstruction Teams in Afghanistan.« Und weiter: »Entwicklungspolitik finanziert nichtzivile Maßnahmen und Einsätze: Hier gibt es verschiedene aktuelle Beispiele, die sich vom Charakter her als Grenzverschiebung dessen bewerten lassen, was Entwicklungspolitik traditionell praktiziert hat.« Konkret werden genannt: fünf Millionen Euro aus dem Europäischen Entwicklungsfonds zur Unterstützung des Militäreinsatzes der »Economic Community of West African States« in Liberia, die im November 2003 beschlossene Einrichtung einer »Peace Facility for Africa«, ein mit zunächst 250 Millionen Euro aus Mitteln des Europäischen Entwicklungsfonds finanziertes militärisches Projekt, und die Tatsache, daß Deutschland seine Pflichtbeiträge zu militärischen UN-Missionen als ODA abrechnet.

Oberst Gerhard J. Klose bekannte auf der gleichen Veranstaltung freimütig, daß zivil-militärische Zusammenarbeit klar und eindeutig definiert sei. Im NATO-Jargon heißt das »support of the mission, also zur Unterstützung der militärischen Operation. Damit wird der Zweck klargestellt, dem dieses Aufgabengebiet zu dienen hat, nämlich ausschließlich der Unterstützung der militärischen Operation«.[6] Er fügte hinzu: »Und nicht vergessen werden sollte auch, daß der eigentliche Gegner in einer militärischen Operation nicht das Militär ist, sondern die dahinter stehende zivile Gesellschaft.«

So wird endlich »Kohärenz« in der Entwicklungspolitik hergestellt! Klagen über fehlende Kohärenz in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit kamen teils aus dem BMZ selbst, teils waren sie Kritikpunkt der erwähnten OECD-Evaluierung. Von dieser Seite ist mit »fehlender Kohärenz« gemeint, daß einerseits das BMZ zur weltweiten Senkung der Militärausgaben aufruft, andererseits aber die deutschen Rüstungsexporte tendentiell steigen und von der Bundesregierung sogar solche in Krisengebiete genehmigt wurden. Genauso wenig sind die Forderungen des Wirtschaftsministeriums nach weiteren Handelsliberalisierungen mit den Zielen der Armutsbekämpfung vereinbar.

Wenn man aber Entwicklungspolitik konsequent in den Dienst der zivil-militärischen Zusammenarbeit stellt und künftig ihre Hauptaufgabe darin sieht, das zivile Chaos nach effizienten Militäreinsätzen zu beseitigen, dann dürfte sich niemand mehr über fehlende Kohärenz beklagen.

Eigentum verpflichtet nicht

Dieser aktuelle Trend der »Entwicklungspolitik« bewegt sich strikt im Rahmen spätkapitalistischer Logik. Eigentum verpflichtet – wie die Realität zeigt – zu nichts, denn dies ist nur eine der wohlklingenden Phrasen im Grundgesetz der Bundesrepublik. Hingegen besteht der fundamentale Auftrag an die Regierung eines bürgerlich-demokratischen Systems darin, die Bedingungen zur erweiterten Kapitalakkumulation möglichst unter Wahrung von Systemstabilität optimal zu gestalten. Wenn dann eingedenk schwindender Akkumulationsmöglichkeiten »neue Märkte« geschaffen werden, zum Beispiel indem man auf Basis vorsätzlich geschaffener Haushaltskrisen die Privatisierung von Gesundheits- und Altersversorgung forciert, nimmt es nicht wunder, daß auch die Entwicklungspolitik ihr Scherflein beitragen soll. Einerseits durch mehr »Effizienz«, d.h. durch eine bessere Verwertung der unter diesem Haushaltsposten ausgegebenen Steuergelder für die strategischen Rahmenbedingungen des »Exportweltmeisters Deutschland« oder als kaschierte Subventionierung privatwirtschaftlicher Aktivitäten. Daran ändern auch die Rufe aus dem BMZ nach mehr Kohärenz nichts. Schließlich war der größte Einzelposten unter den zwölf Schwerpunktbereichen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Jahr 2005 der Bereich »Wirtschaftsreform und Aufbau der Marktwirtschaft«.

Peter Wahl von der Nichtregierungsorganisation WEED (World Economic, Ecology and Development) verwies in einem Gespräch mit jW am 3.7.2006 darauf, daß nach »unabhängigen Evaluierungen« zirka 70 Prozent aller Projekte entwicklungspolitisch erfolgreich seien, und daß man bei Kritik an der »Entwicklungshilfe« das Kind nicht mit dem Bade ausschütten sollte. Was zum Beispiel ist das Erfolgskriterium bei den Unterbringungs- und Abschiebekosten für Asylbewerber? Ob der Augsburger CSU-Politiker Ruck diesen skandalösen Sachverhalt im Auge hatte, als er forderte, daß »angesichts knapperer Haushaltskassen und konsequenter Kürzungen im Sozialbereich« veranschaulicht werden müsse, daß »Entwicklungspolitik (...) dem deutschen Bürger erkennbare Vorteile bringt«?

Von Wahl wird der »Entwicklungshilfe« insgesamt »sicherlich einiger Reformbedarf« zugebilligt. Diese Formulierung ist eine beschönigende Beschreibung der tatsächlichen Situation. Aus linker Perspektive ist prinzipiell die Abschaffung von »Entwicklungshilfe« zu fordern – natürlich nicht als ersatzlose Streichung, sondern bei gleichzeitiger Einrichtung eines Wiedergutmachungsfonds gegenüber den Ländern des Südens und unter Herstellung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse ohne die Möglichkeit zu Kapitalflucht, Gewinntransfer und ohne erpresserische Regeln im Welthandel. Diese Forderungen klingen derzeit utopisch, aber man sollte sie stets erwähnen, wenn man sich in irgendeiner Weise zu »modernen Formen« der Entwicklungszusammenarbeit äußert oder Reformen des bestehenden Systems einfordert.

Fußnoten
  1. Christian Ruck: »Die Strategiefähigkeit des BMZ optimieren! Zur Reform der deutschen Entwicklungszusammenarbeit«, in: Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung, 24.5.2006 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)
  2. Jens Martens: »Thesen zur neuen deutschen Entwicklungszusammenarbeit«, www.agrar.hu-berlin.de/sle/ergaenz/EPDT2006 EZReform.pdf
  3. ActionAid International (2006): »Real Aid 2. Making Technical Assistance Work«. (download unter www.actionaid.org/index.asp?page_id=1120)
  4. Netzwerk entwicklungspolitischer Fachleute: »Good Governance eßbar machen! Oder: Mehr tun für MDG1«, in: Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung, 24.5.2006 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)
  5. Stephan Klingebiel: »Zivil-militärische Kooperation aus Sicht der Wissenschaft«. www.agrar.hu-berlin.de/sle/ergaenz/Zivilmilitaerischekooperation.pdf
  6. Gerhard J. Klose: »Zivil-militärische Kooperation aus Sicht der Verteidigungspolitik«. www.agrar.hu-berlin.de/sle/ergaenz/Zivilmilitaerischekooperation.pdf

Die acht Entwicklungsziele der »Millenniumserklärung«

Im September 2000 verabschiedeten 150 Staats- und Regierungschefs in New York die sogenannte Millenniumserklärung:

Ausrottung von Hunger und extremer Armut
  • Halbierung des Anteils der Weltbevölkerung mit weniger als einem US-Dollar Einkommen pro Tag bis zum Jahr 2015
  • Halbierung des Anteils der hungernden Menschen bis zum Jahr 2025
Ermöglichung einer Grundschulausbildung für alle Kinder
  • bis zum Jahr 2015
Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und der Beteiligung von Frauen
  • Beseitigung aller Formen der Geschlechter­ungleichheit auf allen Ebenen des Bildungssystems bis 2015
Reduzierung der Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren
  • bis 2015 um zwei Drittel
Verbesserung der Gesundheit der Mütter
  • Reduzierung der Müttersterblichkeitsrate bis 2015 um drei Viertel
Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten
  • Stop der Ausbreitung von HIV/AIDS bis 2015 und erste Erfolge bei ihrer Zurückdrängung
  • Stop der Ausbreitung von Malaria bis 2015 und erste Erfolge bei ihrer Zurückdrängung
Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit
  • Integration der Prinzipien nachhaltiger Entwicklung in die Länderpolitiken und Wende zur Bildung ökologischer Ressourcen
  • Halbierung des Anteils der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser bis 2015
  • Signifikante Verbesserung der Lebensbedingungen von mindestens 100 Millionen Slumbewohnern bis 2020
Entwicklung einer globalen Entwicklungspartnerschaft
  • Weiterentwicklung des Welthandels- und Finanzsystems
  • Beachtung und Befriedigung der besonderen Bedürfnisse der am wenigsten entwickelten Länder, der Länder ohne Meereszugang und der Inselstaaten
  • Umfassende Lösung der Schuldenprobleme der Entwicklungsländer

Hier geht es zur Milleniumserklärung der Vereinten Nationen



* Aus: junge Welt, 9. August 2006


Zurück zur Seite "Entwicklungspolitik"

Zurück zur Homepage