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"Ein trauriges Kapitel deutscher Entwicklungspolitik"

Deutsche Welthungerhilfe und terre des hommes zur Halbzeitbilanz von Rot-Grün

Zur Halbzeit der rot-grünen Bundesregierung zogen Anfang November 2000 auch die Deutsche Welthungerhilfe und die deutsche Sektion von terre des hommes Bilanz. Sie fiel im Ton etwas moderater aus als die Halbzeitbilanz der Friedensbewegung, war in der Sache aber ebenso unmissverständlich: Die Bundesregierung hat ihre selbst gestellten Aufgaben bisher schlecht oder gar nicht erledigt. Wir dokumentieren die Kurzfassung dieser Stellungnahme und weisen bei der Gelegenheit auf die Homepage von terre des hommes hin (www.tdh.de). Sie enthält insbesondere Informationen und nachdenkenswerte Analysen zur Situation von Kindern in ausgewählten Ländern der "Dritten Welt".

"Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe"

Halbzeitbilanz rot-grüner Entwicklungspolitik: Weichen neu gestellt?

1. Die Ausrichtung deutscher Entwicklungspolitik auf globale Strukturen und Prozesse - formuliertes Ziel der rot-grünen Regierung - wird von der Deutschen Welthungerhilfe und terre des hommes begrüßt. Die Herausforderungen der Globalisierung im 21. Jahrhundert so zu gestalten, dass weltweite sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Entwicklungsprozesse möglich sind, ist seit Jahren eine der zentralen Forderungen dieser Berichtsreihe. Zur Halbzeit der ersten rot-grünen Legislaturperiode ist die kohärente konzeptionelle Entfaltung von "Globaler Strukturpolitik" allerdings noch nicht gelungen. Einzelne Elemente einer solchen Politik - der Schuldenerlass für ärmste Länder sowie Maßnahmen zur frühzeitigen Krisenprävention - sind begrüßenswert. Sie können eine systematische Programmatik für "Entwicklungspolitik als Globale Strukturpolitik"jedoch nicht ersetzen.

2. Insbesondere das Verhältnis des von der rot-grünen Bundesregierung proklamierten neuen Ansatzes zur bisher zentralen Zielsetzung deutscher Entwicklungszusammenarbeit - Armutsbekämpfung - bleibt unklar. Zwar hat das BMZ dem Vorschlag der Weltbank zugestimmt, dass die herkömmlichen Strukturanpassungsprogramme für ärmste Länder, die sich oft armutsverschärfend auswirkten, gegen neue Programme zur Armutsbekämpfung ausgetauscht wurden (Poverty Reduction Strategies). Die deutsche Seite schöpft ihre Möglichkeiten in der internationalen Entwicklungsdebatte jedoch nicht aus, um den entstehenden neuen Ansatz nachdrücklich mitzugestalten. Damit wird bisher eine Chance verpasst, globale Strukturpolitik im Bereich der Armutsbekämpfung zu leisten.

3. Die Analyse des entwicklungspolitischen Teils im Bundeshaushalt (Einzelplan 23 BMZ) zeigt, dass die Bundesregierung auch in ihrer eigenen, bilateralen Politik gegenüber früheren Bemühungen zur Armutsbekämpfung zurückfällt. Der Etat des BMZ, der für das Jahr 2000 überproportional gekürzt wurde, weist nun weniger Geld für die Armutsbekämpfung aus. Insbesondere die Förderung sozialer Grunddienste fällt zurück. Dass die Ausgaben für Grundbildung - weltweit als zentrale Voraussetzung für positive Entwicklungsprozesse angesehen - im Jahr 2000 auf einen Tiefststand gesunken sind, ist ein trauriges Kapitel deutscher Entwicklungspolitik. Für 2001 ist von der Regierung keine Trendwende für den BMZ-Haushalt vorgesehen (wenngleich innerhalb des Etats die Mittel für soziale Grunddienste wieder leicht ansteigen sollen, aber noch deutlich unter dem Niveau von 1999 bleiben werden). Der Entwicklungsetat wird sowohl im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt als auch im Verhältnis zum Bundeshaushalt insgesamt weiter an Bedeutung verlieren. Die Bundesregierung hält damit ihre im Wahlkampf, in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung gemachten Zusagen nicht ein. Gravierender jedoch ist, dass mit den sinkenden Mitteln der deutsche Beitrag zur Erreichung des international proklamierten Ziels der Armutsverringerung bis zum Jahr 2015 stetig marginaler wird. Da andere Geber ebenfalls an dieser Stelle sparen, gerät das Ziel schon jetzt immer mehr in Gefahr. Angesichts des politischen Gewichts Deutschlands hat ihr Ausgaben-Verhalten Signalwirkung auf andere.

4. Die Proklamation der Bundesregierung, künftig Globale Strukturpolitik betreiben zu wollen, ist institutionell noch nicht angemessen umgesetzt worden. Auch unter rot-grüner Regierung verläuft die interministerielle Kooperation hinsichtlich der schnell wachsenden globalen Herausforderungen weiterhin in den seit Jahrzehnten praktizierten traditionellen Bahnen. Besondere Anstrengungen, durch institutionelle Reformen einer kohärenten "Globalen Strukturpolitik" näher zu kommen, sind nicht erkennbar. Auch innerhalb des BMZ hat sich wenig getan: Die jüngste Organisationsreform im Ministerium hat die Bearbeitungskapazitäten für globale Fragen nicht ausreichend verstärkt.

5. Insgesamt ist nach zwei Jahren rot-grüner Entwicklungspolitik eine gemischte Bilanz zu ziehen. Die Ausgangsperspektive - globale Strukturen mitgestalten! - ist richtig. Einzelne Maßnahmen, diese Perspektive zu konkretisieren (Beispiel Schuldenerlass), sind zu begrüßen. Von einem Politikwandel, der weltweiten sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Entwicklungsprozessen spürbare Impulse gibt, kann leider nicht die Rede sein. Deutsche Welthungerhilfe und terre des hommes fordern die Bundesregierung auf, die zweite Hälfte der Legislaturperiode zu nutzen, um deutlich zu machen, dass sie der langfristigen Zukunftspolitik durch eine starke Entwicklungspolitik einen hohen Wert beimisst und dies durch eine Erhöhung des BMZ-Etats auch unter Beweis stellt. Die Organisationen hoffen, im Jahr 2002 - Jahr der Bundestagswahlen, aber auch 10. Jahrestag der großen Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro - eine positivere Bilanz rot-grüner globaler Zukunftspolitik ziehen zu können, als dies zur Halbzeit der Legislaturperiode möglich ist.

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