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Bevölkerungswachstum: eine globale Bedrohung für die Menschheit? Ein fragwürdiger Ansatz

Zum "Weltbevölkerungsbericht 2004" des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA)

Zur Information: Die Konferenzen von Kairo und Peking
Auf der dritten Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen, der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) 1994 in Kairo, wurde von allen 179 teilnehmenden Staaten ein Aktionsprogramm verabschiedet, das neue Richtlinien der internationalen Bevölkerungspolitik für die nächsten 20 Jahre festsetzte. So soll bis zum Jahre 2015 ein breites Angebot an Familienplanungsmethoden, Aufklärung zum Schutz vor HIV/Aids sowie Gesundheitsversorgung rund um Schwangerschaft und Geburt universell zugänglich sein.

Kairo stellte einen Wendepunkt dar: Bevölkerungsprogramme, die sich an rein demografischen Zielen orientierten, hatten ausgedient. Bevölkerungspolitik soll nun bei den konkreten Bedürfnissen der Individuen ansetzen – besonders bei denen der Frauen.

Der Streit, ob »Entwicklung die beste Pille« oder Verhütung notwendige Vorbedingung von Entwicklung sei, wurde in dem Sinne aufgelöst, dass Verbesserung des Zugangs zu Familienplanung weder vor- noch nachrangig, sondern ein notwendiger Bestandteil von anderen Entwicklungsanstrengungen und in diese zu integrieren sei. Über die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Entwicklung wurde nicht diskutiert.

Der Konsens von Kairo wurde auf nachfolgenden UNO-Konferenzen, insbesondere auf der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking, bestätigt. Die Versuche des Vatikans, den Konsens auf der Kairo-Folgekonferenz 1999 aufzuweichen, scheiterten. Die von den reichen Geberländern 1994 gemachten Finanzierungszusagen werden nach wie vor nicht annähernd eingehalten. 2002 flossen laut des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) nur 3,1 Milliarden US-Dollar in den Süden – lediglich die Hälfte der gemachten Versprechungen.




Nur der Süden erfüllt seine Verpflichtungen

Weltbevölkerungsbericht – verlangsamtes Wachstum und mangelnde Frauen-Selbstbestimmung / Die Geberländer hinken ihren Zusagen hinterher

Von Martin Ling

Bevölkerungswachstum gilt neben der Umweltzerstörung und dem Klimawandel als die globale Bedrohung für die Menschheit. Ein fragwürdiger Ansatz. Gestern wurde in Berlin der Weltbevölkerungsbericht 2004 vorgestellt.

3,9 Milliarden US-Dollar betragen die globalen Rüstungsausgaben an zwei Tagen – der Löwenanteil entfällt auf den Norden. Mit derselben Summe könnte nach Angaben der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) der jährliche Bedarf an modernen Verhütungsmitteln gedeckt werden. 23 Millionen ungewollte Schwangerschaften, 22 Millionen Abtreibungen, 1,4 Millionen Fälle von Kindersterblichkeit und 142000 Fälle Todesfälle in Folge von Schwangerschaften könnten so verhindert werden, schilderte die stellvertretende DSW-Geschäftsführerin Renate Bähr das grundsätzliche Dilemma in der globalen Bevölkerungspolitik: der Mangel an finanziellen Mitteln für die Umsetzung der Familienplanung wie sie auf dem Weltbevölkerungsgipfel 1994 in Kairo angedacht wurde.

Ein Armutszeugnis

Und während der Süden seine vor zehn Jahren gemachten finanziellen Zusagen mit derzeit jährlich 11,7 Milliarden US-Dollar nahezu erfüllt, kommen die reichen Geberländer ihren Verpflichtungen von jährlich gut sechs Milliarden Dollar gerade mal zur Hälfte nach. Ein Armutszeugnis für den Norden. Nicht zuletzt deshalb, weil aus dem Norden der Fingerzeig in Richtung Süden kommt, dass das dortige Bevölkerungswachstum die globalen Ressourcen übermäßig in Anspruch nehmen und auf Sicht die Belastbarkeit des Planeten überfordern würde. Sicher, die Weltbevölkerung wächst jährlich nahezu um die Einwohnerzahl Deutschlands – derzeit mit leicht sinkender Tendenz um 76 Millionen. Und wenn die Langzeitprognosen stimmen, tummeln sich 2050 neun Milliarden Menschen auf dem Globus. Doch das ist vielmehr ein lokales denn ein globales Problem. Rein rechnerisch könnten mit den derzeit zur Verfügung stehenden Technologien und Produktionsverfahren und auf der Basis der heutigen Nahrungsquellen 12 Milliarden Menschen ernährt werden – bei entsprechender Verteilung und ganz ohne Genfood.

Nichtsdestotrotz stellt das Bevölkerungswachstum viele südliche Länder vor Herausforderungen. Denn Armut wird durch schnelles Bevölkerungswachstum vielerorts noch verschärft. In den 50 ärmsten Länder wird sich die Zahl der Menschen bis 2050 laut dem Weltbevölkerungsbericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) auf 1,7 Milliarden verdreifachen. Der UNFPA-Bericht kommt zu dem Schluss, dass Entwicklungsländer, die die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau verringern und die Lebenserwartung erhöhen, zu Produktivitäts- und Investitionssteigerungen kommen. Kleineren Familien fällt es wiederum leichter, in die Bildung und Gesundheit ihrer Kinder zu investieren. Und Bildung ist nachweislich ein Schlüsselfaktor für Entwicklung.

Andere Schlüsselfaktoren wie die von Welthandelsorganisation (WTO), dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank festgelegten wirtschafts- und de facto sozialpolitischen Spielräume für Entwicklungs- und Schwellenländer bleiben beim UNFPA-Bericht ausgespart. Dabei sind die armutsverschärfenden Konsequenzen von verordneten Kürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich in vielen Entwicklungsländern Legion. Dasselbe gilt für die fatale Wirkung von Agrardumpingexporten auf die Ernährungssicherheit im Süden.

Die Entwicklungsländer haben die Bedeutung der Bevölkerungsentwicklung auf das gesamtgesellschaftliche Wohlergehen durchaus erkannt. Bei einer Befragung durch UNFPA im Jahr 2003 gaben fast alle an, Bevölkerungsfragen in ihre Entwicklungs- und Armutsbekämpfungsstrategien aufgenommen zu haben. Über 50 Prozent der Länder hätten Gesetze geschaffen, um die Rechtslage für Frauen und Mädchen zu verbessern, so UNFPA-Vertreterin Bettina Maas gestern bei der Berichtspräsentation in Berlin. Sicher bedürfe es noch einer stärkeren Umsetzung, aber es sei ein Schritt in die richtige Richtung. Ansonsten fällt ihre Bilanz zehn Jahre nach dem Weltbevölkerungsgipfel in Kairo gemischt aus. Es gebe Fortschritte im Kampfe gegen die Genitalverstümmelung bei Frauen und Mädchen und gegen frühe Eheschließungen sowie bei HIV/AIDS-Präventionsprogrammen. Doch ein großer Wermutstropfen bleibt: »Die Ergebnisse hätten erheblich besser ausfallen können«, so Maas, »wenn die Umsetzung des Kairoer Aktionsprogrammes nicht durch die mangelnde Finanzierung behindert würde.«

Abschied von Mythen

Ein Wink, den der Staatssekretär Im Entwicklungsministerium, Erich Stather durchaus verstand. Wir haben Nachholbedarf, gestand er unumwunden ein, um sogleich auf die haushaltspolitischen Zwänge aus dem Hause Eichel zu verweisen. Allerdings hätte sich der Anteil der Leistungen im Bereich Familienplanung am Entwicklungshilfeetat seit Kairo verdreifacht – bei stagnierender Gesamtsumme zwangsläufig zu Lasten anderer Aufgaben.

Immerhin räumt der UNFPA-Bericht mit dem Mythos auf, dass Bevölkerungswachstum die Umweltbelastung Nummer 1 sei. »Das hohe Konsumniveau, nicht nachhaltige Produktionsweisen und schnelles Bevölkerungswachstum belasten zunehmend die Umwelt.« Immer mehr Menschen verbrauchen immer mehr Ressourcen und hinterlassen immer größere »Fußabdrücke«. Doch die neuen Konsumenten sind sicher nicht die Ärmsten der Armen sondern die Menschen aus den Schwellenländern, denen die Teilhabe am westlichen Lebensmodell vergönnt ist. Eben jenem Modell, dass nicht nachhaltig zu globalisieren ist. Trotz China verbraucht der Süden den weitaus geringeren Teil der weltweiten Ressourcen – rund 20 Prozent bei mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung.

* Aus: Neues Deutschland, 16. September 2004


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