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UN-Sicherheitsrat verschärft Embargo gegen Afghanistan

Kritik von Kofi Annan und Hilfsorganisationen - Sanktionen treffen die Zivilbevölkerung

Am Dienstag, den 19. Dezember 2000, forderte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York das ultrareaktionäre Taliban-Regime ultimativ auf, den mutmaßlichen Terroristenführer Osama bin Laden innerhalb von 30 Tagen auszuliefern. Die Resolution war gemeinsam von den USA und Russland eingebracht worden und wurde bei Enthaltung Chinas und Malaysias verabschiedet. Sollte die Forderung nicht erfüllt werden, so droht der Sicherheitsrat, wird ein umfassendes Embargo für mindestens ein Jahr erneuert. Im November 1999 war bereits eine ähnliche Frist zur Auslieferung bin Ladens abgelaufen.

Unter die Sanktionen fallen alle Flüge nach Afghanistan mit Ausnahme humanitärer Hilfe sowie die Sperrung der Auslandskonten der Taliban. Daneben wollen die Vereinten Nationen durch Zwangsmaßnahmen den von Afghanistan ausgehenden Opiumhandel unterbinden. Am 19. Dezember 2000 hatten die UN alle Mitarbeiter aus Afghanistan abgezogen, da Vergeltungsanschläge der Taliban gegen UN-Personal befürchtet wird.

Der Außenminister der internationale nicht anerkannten Taliban-Regierung Wakil Ahmad Mutawakil sagte zu der Entscheidung des Sicherheitsrats: "Wir glauben, dies ist eine Entscheidung der USA, Russlands und einiger ihrer Freunde und nicht die Stimme der Welt-Gemeinschaft". Er äußerte die Hoffnung, dass die Nachbarländer Afghanistans der UN-Forderung nach Isolierung der Taliban nicht nachkommen. "Aber wenn sie es (unter Druck) doch tun sollten, würden wir ihre Zwangslage verstehen." Mutawakil kündigte an, für jedes Büro der Taliban, das im Ausland geschlossen werden sollte, würden die Taliban in Afghanistan ein Büro der dortigen UN-Mission schließen.

Wie die Frankfurter Rundschau berichtete, haben sich UN-Generalsekretär Kofi Annan und verschiedene Hilfsorganisationen gegen die Resolution ausgesprochen, weil sie befürchten, dass dadurch das Elend der verarmten Bevölkerung noch verschlimmert wird. Annan kommentierte den Beschluss mit den Worten: "Das hilft weder unseren Friedensbemühungen, noch hilft es unserer humanitären Arbeit." Pakistan warnte am Mittwoch vor einer drastischen Verschlechterung der Lage. An der Grenze sammelten sich bereits tausende Afghanen. Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" warnte vor einer Katastrophe. "Wir befürchten, dass viele Vertriebene sehr schnell an Unterernährung leiden werden, wenn jetzt alle UN-Projekte in Herat und den Nachbarprovinzen zum Stillstand kommen." (Frankfurter Rundschau, 21. Dezember 2000)

Journalisten der internationalen Presse kommentierten die Entscheidung des Sicherheitsrats überwiegend kritisch bis ablehnend. Im Folgenden dokumentieren wir Stellungnahmen aus der Neuen Zürcher Zeitung und aus der Frankfurter Rundschau.

Afghanistan - warum Sanktionen versagen

Die Drohung des Uno-Sicherheitsrates, die im November 1999 gegen die Taliban in Afghanistan verhängten Sanktionen zu verschärfen, offenbart in erster Linie die Ohnmacht gegenüber den Studentenkriegern. Esfehlt sowohl in Washington als auch in Moskau, den beiden treibenden Kräften hinterder jüngsten Resolution, an klaren politischen Konzepten, wie das Land am Hindukusch stabilisiert, die islamistische Taliban- Miliz zurückgebunden und der Bevölkerung nach mehr als zwei Jahrzehnten Blutvergiessen endlich Frieden gebracht werden kann.

Ironisch mutet dabei an, dass sich zehn Jahre nach Beendigung der sowjetischen Besetzung Afghanistans nun ausgerechnet Russland und die USA die Hand reichen, um jenes Mannes habhaft zu werden, den die Amerikaner im Kampf gegen die Rote Armee unterstützt hatten: Usama bin Ladin. Dem nach Afghanistan exilierten Saudi wird vorgeworfen, hinter zahlreichen schweren Bombenanschlägen auf amerikanische Einrichtungen zu stehen. Moskau bezichtigt die Taliban, in Zentralasien und im Kaukasus islamistischen Untergrundorganisationen finanzielle, logistische und militärische Hilfe zukommen zu lassen, wobei wiederum bin Ladin eine Schlüsselrolle beigemessen wird.

Die angedrohten neuen Boykottmassnahmen richten sich gegen die Taliban, gegen deren Führungselite, die sich in Kandahar um das geistige Oberhaupt Mullah Omar schart. Doch lassen sich Sanktionen in Afghanistan derart zielgerichtet anwenden? Kann von den Studentenkriegern realistischerweise erwartet werden, dass sie die andie Aufhebung der Uno-Massnahmen gekoppelten Forderungen - die Auslieferungbin Ladins, die Achtung der Menschenrechte, die Einstellung islamistischer Untergrundaktivitäten - erfüllen?

Kaum, weil die Bedingungen für die Wirksamkeit des Sanktionsregimes in Afghanistan denkbar ungünstig sind. Die Taliban haben sich bisher unfähig gezeigt, das von ihnen weitgehend beherrschte Land auch wirklich zu regieren. Staatliche Strukturen sind - so überhaupt noch existent - Relikte längst vergangener Zeiten, meist nur Schatten ihrer selbst. Weder gibt es ein funktionierendes Wirtschaftssystem noch Aussenbeziehungen. Am Leben erhalten wird «Talibanistan» fast ausschliesslich durch internationale Hilfswerke und durch die Uno, welche die unterNot und Armut leidende und von einer katastrophalen Dürre zusätzlich schwer geprüfteBevölkerung mit den wichtigsten Gütern versorgen. Das Welternährungsprogramm wird allein dieses Jahr weit über 100 000 Tonnen Mehl verteilen - schätzungsweise rund sechsmal mehr liefert der Nachbar Pakistan, der Afghanistan faktisch als zusätzliche Provinz betrachtet.

Die Studentenkrieger sind als Folge ihrer Herkunft, ihrer Organisationsstruktur und ihres im Grunde apolitischen islamistischen Programms denkbar ungeeignete Objekte diplomatischen Drucks. Zwar gieren sie seit langem nach internationaler Anerkennung. Das Bewusstsein jedoch, für diese auch etwas tun zu müssen, scheint der in erster Linie auf dem Schlachtfeld erfolgreichen Miliz gänzlich zu fehlen. Weder entspricht die Achtung fundamentaler Menschenrechte ihrer Vorstellung eines «Gottesstaates», noch erlauben es paschtunische Werte wie Ehre, Gastfreundschaft und Stolz, der aussenpolitischen Opportunität wegen einenFreund des antisowjetischen Befreiungskampfes auszuliefern.

Der Krieg am Hindukusch wird genährt von Drittstaaten, ohne deren Hilfe beide Konfliktparteien wohl schon längst die Waffen hätten strecken müssen. Die Taliban werden finanziell vor allem durch arabische Länder unterstützt. Pakistan versorgt die Miliz nicht nur mit Rüstungsgütern, sondern steht ihr vermutlich auch mit Militärberatern zur Seite. Moskau, Tadschikistan, aber auch Indien, Iran oder die USA haben ihrerseits kein Interesse daran, dass die Taliban siegreich aus dem verheerenden Ringen um die Alleinherrschaft hervorgehen, weil sie sich vor einem islamistischen Flächenbrand in der ganzen Region fürchten.

Schliesslich liegt Afghanistan in einer Weltgegend, in der Grenzen kaum zu kontrollieren sind, wo der Güterfluss einfach seinen Lauf nimmt - und wo Geld, Einfluss und Macht entscheidendere Faktoren sind als die rechtlich-politische Durchsetzungskraft einer im weit entfernten New York verabschiedeten Uno-Resolution.

Vor diesem Hintergrund betrachtet ist bereits jetzt klar, wer die Zeche für die Verschärfung der Sanktionen bezahlen wird: die afghanische Zivilbevölkerung. Sie besitzt anders als die herrschende Elite keine Möglichkeit, am illegalen Handel, am Drogenschmuggel, am Krieg zu verdienen. Ihr Schicksal hängt inzwischen weitgehend ab vom Wohlwollen der internationalen Donatoren, von Hilfslieferungen und der Unterstützung durch ausländische Organisationen. Diesen wird es nach dem jüngsten Beschluss des Uno-Sicherheitsrates nicht leichter fallen, das harte Los der Afghanen zu lindern.
msn.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 21. Dezember 2000

Verheerender Beschluss

Der UN-Sanktionsbeschluss gegen Afghanistan setzt nicht das Taliban-Regime unter Druck, sondern verschärft das Leid der Bevölkerung
Von Karl Grobe


Der UN-Beschluss, die Sanktionen gegen das Taliban-Regime in Afghanistan zu verschärfen und die humanitären Hilfskräfte abzuziehen, wird das Gegenteil dessen bewirken, was er soll. Die Taliban können den Sicherheitsrat wie gewohnt als Instrument der US-Außenpolitik beschimpfen. Sie können Russland als uneinsichtig und unverbesserlich brandmarken. Beides ist nicht wirklich wichtig. Andere Auswirkungen aber sind geradezu verheerend.

Hilfen für die verelendete Bevölkerung wird es ohne die internationalen Hilfswerke nicht mehr geben, und schon das Bisherige war zu wenig. Frauen, denen das Regime weder Berufstätigkeit erlaubt noch medizinische Versorgung zugesteht, verlieren die letzte Unterstützung zum Überleben. Die Hungersnot der zwölf Millionen wird nicht behoben, nicht einmal abgemildert. Die Taliban-Führung aber ist nicht betroffen; Diktatoren verhungern selten.

Zudem bedeutet der Sanktionsbeschluss das vorläufige Ende der zaghaften Friedensbemühungen, zu denen sich die zentralasiatischen Nachbarn in letzter Zeit bereitgefunden haben. Turkmenistan und auch Usbekistan hatten versucht, eine Einigung zwischen den Taliban, der Nordallianz und dem mit dieser Gruppe verbündeten Ahmad Schah Massud zu erreichen, gewiss auch aus eigennützigen Gründen: Sie fürchten das Einsickern islamistischer Bewegungen in eine verarmende Bevölkerung und wollten diplomatisch vorbeugen. Aber das missfällt Moskau; Präsident Putin braucht das, was er anti-terroristische Entschlossenheit nennt, auch um den Tschetschenien-Krieg zu rechtfertigen. Was gelten da Hungertote in Kabul?
Aus: Frankfurter Rundschau, 21. Dezember 2000

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