"Wir sind alle potenzielle Krebspatienten"
Serbische Anklagen sind schon älteren Datums - Die Zivilbevölkerung ist am stärksten betroffen
Es wurde Zeit, dass neben den Sorgen um die Gesundheit der NATO-Soldaten auch ein Blick in das Land geworfen wird, das Opfer des NATO-Krieges geworden war: nach Jugoslawien bzw. Serbien. DU-Geschosse wurden ja nicht nur auf vermintliche Stellungen im Kosovo abgefeuert, sondern gingen in großer Zahl auch in serbischen Städten außerhalb des Kosovo nieder. Hierzu Auszüge aus Zeitungsberichten vom 5. und 6. Januar 2001 sowie zwei Meldung direkt aus Jugoslawien
"Wir sind alle potenzielle
Krebspatienten"
Jugoslawische Wissenschaftler sind besorgt über die Gefährdung durch Nato-Geschosse / Von Bernhard Küppers
Das für Gesundheit und Umwelt zuständige Ministerium der
neuen jugoslawischen Bundesregierung war am Donnerstag
auf Fragen zum im Westen diskutierten „Balkan-Syndrom“ nicht
vorbereitet. Aleksandar Popovic, Stellvertreter des
jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica und Chemiker,
schätzte die Gefährdung durch uranhaltige Nato-Geschosse
aber als „extrem ernst“ ein. Popovic verlangte, die Nato müsse
endlich genaue Angaben darüber machen, wo sie bei der
Bombardierung Jugoslawiens im Frühsommer 1999 solche
Munition verwendet habe. An diesen Stellen müsse gemessen
werden, ob Radioaktivität vorhanden sei.
Nicht nur für Panzer, auch für Gebäude
In der Belgrader Zeitung Glas Javnosti behauptete am
Donnerstag der Ökologe Dejan Dimov, dass die Nato
uranhaltige Munition auch zur Zerstörung der Gebäude des
Innenministeriums und des Generalstabs im Belgrader
Stadtzentrum eingesetzt habe. Die Ruinen stünden unberührt,
weil niemand wisse, „wohin mit dem Baumaterial, das weiter
strahlt“. Ärzte warnten, dass sich die Zahl der Krebskranken in
Jugoslawien um 30 Prozent erhöht habe, wurde Dimov zitiert.
„Wir sind alle potenzielle Patienten der onkologischen
Krankenhäuser“, sagte Dimov. „Jetzt machen sich alle Sorgen
um die im Kosovo kurzfristig eingesetzten Nato-Soldaten; aber
der Westen kümmert sich nicht um die Bewohner der
verseuchten Landstriche.“
Auch Bevölkerung ist gefährdet
Popovic sagte, wenn die Angaben des Ökologen zur
Beschießung Belgrads mit uranhaltigen Geschossen stimmten,
sei dies „ein Fall für das Haager Kriegsverbrechertribunal“. Ein
früherer Bericht, den die Umweltorganisation der Vereinten
Nationen (UNEP) über die Folgen der Bombardierung
Jugoslawiens verfasst habe, sei skandalös verharmlosend
gewesen. Nach der Explosion von Uran-Geschossen könne die
radioaktive Substanz durch den Wind als feiner Staub
verbreitet und von Menschen eingeatmet werden. Der Regen
spüle das Uran ins Grundwasser, von wo es über Pflanzen in
die Nahrung gelange. Bedrohlich sei dies für Soldaten und
Zivilisten, Serben und Albaner gleichermaßen. Wichtig sei, dass
solche Waffen nie wieder angewendet würden.
Auch in Bosnien
Die Belgrader Zeitungen berichteten ausführlich über die
Aufregung im Westen um das „Balkan-Syndrom“. Sie gaben
alle Einzelheiten der Debatte wieder, ob die
Leukämie-Erkrankungen und der Tod ehemaliger
Nato-Soldaten in Zusammenhang stehen mit der Verwendung
von uranhaltigen Geschossen 1994/95 in Bosnien und 1999 im
Kosovo. Die Journalisten enthielten sich zunächst aber eines
Kommentars; sie stellten auch nicht die Frage, ob die eigene
Bevölkerung gefährdet sei.
Kontrollen des Grundwassers gefordert
Im November hatte ein UN-Expertenteam nach einer
Untersuchung im Kosovo die Entfernung solcher
Geschoss-Überreste empfohlen. Außerdem sollten 112 Gebiete,
in denen solche Munitionsteile gefunden worden waren,
gekennzeichnet werden. Die Experten rieten auch zu
regelmäßigen Kontrollen des Grundwassers. Der Leiter des
Teams, Pekka Haavisto, hatte kritisiert, dass die Nato erst im
Juli genauere Angaben zu den Uran-Geschossen gemacht
habe. Popovic bemängelte kürzlich, die Nato habe die
Verwendung solcher Munition überhaupt erst gegen Ende des
Kriegs mit Jugoslawien eingestanden. Er fand es auch
bemerkenswert, dass amerikanische KFOR-Soldaten nicht am
Westrand des Kosovos stationiert seien, wo nach Angaben der
Nato die Hauptmasse der Uran-Munition niederging.
Vorwürfe der Balkanstaaten
Die Geschosse waren auch während des Prozesses ein Thema,
in dem ein Belgrader Gericht kurz vor dem Sturz des alten
Machthabers Slobodan Milosevic mehrere westliche
Staatschefs und hochrangige Nato-Befehlshaber als
Kriegsverbrecher verurteilte. Ein Experte des
Kernwissenschaftlichen Instituts in Vinca, Radojko Pavlovic,
hatte dort erklärt, auch Südserbien und die montenegrinische
Adria-Insel Lustica seien mit solcher Munition beschossen
worden. „Die Weltmächte haben eine bequeme und billige Art
gefunden, sich eines gefährlichen Stoffs zu entledigen, indem
sie Serbien damit übersäen“, sagte Pavlovic. Er bezog sich
dabei auf Angaben der Nato, wonach 31 000 uranhaltige
Geschosse mit je 270 Gramm des Schwermetalls im Kosovo
niedergegangen seien.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 5. Januar 2001
In einem längeren Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. Januar 2001 wurde derselbe Sachverhalt unter der Überschrift "Belgrads Kriegspropaganda gegen Urangeschosse" geschildert. Doch was von der "Propaganda" Lüge war oder sich doch als Wahrheit heraus stellte, kann man heute etwas unvoreingenommener beurteilen als der NZZ-Korrespondent.
...
Wien, 5. Januar
Das Regime in Belgrad hat 1999, zur Zeit der Nato-Bombenkampagne gegen Jugoslawien, den Einsatz von Urangeschossen durch die Amerikaner heftig angeprangert, als Verstoss gegen dasVölkerrecht, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als Kriegsverbrechen. Es ging darum, zuzeigen, dass die Kriegsführung der Nato keinesfalls «human» oder «klinisch» war. So prägte dieserbische Propaganda die Formel vom «ökologischen Genozid». «Dieser Krieg tötet Leute aller Nationalitäten in Jugoslawien und vergiftet ihr Land mit radioaktiven Waffen aus abgereichertem Uran», erklärte das serbische Informationsministerium am 19. April.
In einem «Aide Memoire» des Aussenministeriums vom 17. Mai heisst es, die Auswirkungenvon Streubomben (Cluster Bombs) und von urangehärteten Geschossen seien bei weitem schlimmer und unmenschlicher als die von konventionellen Waffen. Es wird ausgeführt, dass A-10-Flugzeuge - sie werden insbesondere zur Panzerbekämpfung eingesetzt - urangehärtete Munition aus einer 30-Millimeter-Bordkanone abschossen. Der Kern eines Geschosses habe mit 16 Millimeter Durchmesser und 95 Millimeter Länge ein Gewicht von 292 Gramm. Beim Aufschlag löse er sich zu etwa 70 Prozent in winzige Partikel auf. Diese seien radioaktiv und giftig. Sie verbreiteten sich und würden vom Körper aufgenommen. Am 26. Mai berichtete dann die Belgrader Zeitung «Vecernje Novosti» über Uranmunition und erläuterte die Symptome der Strahlenkrankheit: Gedächtnisschwund, Magenschmerzen, Sprechschwierigkeiten.
Das Thema wurde weiterverfolgt, auch über den Krieg hinaus. Im April letzten Jahres gab der stellvertretende Verteidigungsminister, General Slobodan Petkovic, die folgende Bilanz, nach einer Meldung von Reuters. In Kosovo habe die Nato uranhaltige Geschosse an hundert verschiedenen Orten eingesetzt, vorwiegend in derGegend an der albanischen Grenze, also bei Prizren, Djakovica, Decani, und im übrigen Jugoslawien an acht Orten. Nach Schätzung der jugoslawischen Armee hätten die amerikanischen Flugzeuge insgesamt 50 000 Urangeschosse verbraucht. Ein sehr reiches Land habe auf diese Artseinen Nuklearabfall billig entsorgt, erklärte Petkovic. Ein anderer hoher Militär kam im August auf das Thema zurück. Der Flottenkommandant, Admiral Milan Zec, erklärte in Radio- und Zeitungsinterviews, bei einer Bombardierung auf der Halbinsel Lustica, am Eingang der Bucht von Kotor, hätten Nato-Flugzeuge über 1000 kleinkalibrige uranhaltige Projektile abgefeuert. Dabeisei ein Gebiet im Umkreis von 360 Metern kontaminiert worden. Das Gebiet sei unzugänglich und mit dickem Gestrüpp überwachsen. Die Armee habe dort keine Positionen gehabt; es sei offensichtlich nur darum gegangen, die Gegend radioaktiv zu verseuchen.
Der frühere jugoslawische Präsident Milosevic erwähnte die «Uranbomben» in einer Rede vom Februar. Da kamen sie in einem Katalog der besonders grausamen Waffen vor, neben Computer-Manipulationen und drogenabhängigen Mördern - mit diesen Instrumenten der Inquisition sollten im Namen der «neuen Weltordnung» die Vorkämpfer der Freiheit unterjocht werden. Mit seinen Propagandafloskeln lenkte er vom ernsten Kern des Problems ab.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 6. Januar 2001
Angst vor der Radioaktivität
BELGRAD, 06. Dezember 2001. Kaum hat Snezana Pavlovic das Glas mit dem
unscheinbaren Erdklumpen geöffnet, schlägt der Geigerzähler in ihrer Hand
aus
- immer stärker. Hochgefährlich ist diese Erde, da ist sich die
jugoslawische
Wissenschaftlerin sicher. Verseucht von der NATO. Die Bodenprobe hat Frau
Pavlovic unmittelbar an der administrativen Grenze von Serbien und Kosovo
und
Metochien entnommen.
Die strahlende Erde ist nach Meinung der Wissenschaftlerin vom Atomlabor
Vinca
ein Vermächtnis der westlichen Allierten aus dem Krieg gegen Jugoslawien und
hochgiftig für die Menschen der Region - egal, was das
US-Verteidigungsministerium sage. Die NATO hat eingeräumt auf dem Balkan
uranhaltige Waffen eingesetzt zu haben. Nach Angaben der Regierung in
Washington wurden im Krieg gegen Jugoslawien 31.000 und in Bosnien 18.800
dieser Geschosse abgefeuert. Einen Zusammenhang zwischen dem Uran und den
Erkrankungen hat die Regierung in Washington jedoch stets bestritten.
"Nur weil die Menschen es nicht sehen können und es schwierig zu entdecken
ist, heißt es nicht, dass abgereichertes Uran kein Killer ist", sagt Frau
Pavlovic.
"Statt immerfort zu wiederholen, wie gering doch die Radioaktivität des
abgereicherten Urans auf dem Balkan sei, sollte Amerika zugeben, dass die
Region verseucht wurde und dass das giftige Metall Krankheiten hervorrufen
kann", beschwert sich Militärexperte Milan Zaric. Die Befürchtungen der
jugoslawischen Behörden und Wissenschaftler haben in den vergangenen Tagen
und
Wochen Widerhall quer durch Europa gefunden und neue Brisanz erreicht.
Italien
meldete Todesfälle unter seinen Soldaten die in Kosovo und Metochien
stationiert waren und äußerte den Verdacht, dass die Erkrankung in
Zusammenhang mit uranhaltiger Munition der US-Streitkräfte stehe. Auch in
Frankreich und Tschechien erkrankten Balkan-Soldaten an Leukämie.
Eine Untersuchung sei längst überfällig, betonen die Forscher der Anlage
Vinca, die acht Kilometer vor Belgrad liegt. So nahm sich das
UN-Umweltprogramm (UNEP) die Erde in Kosovo und Metochien in den vergangenen
Wochen vor. An mehreren Einschlagsstellen von uranhaltigen Geschossen sei
eine
leicht erhöhte Radioaktivität festgestellt worden, berichtete der Chef der
UNEP-Mission, Pekka Haavisto. Ebenso seien noch Reste von Geschossen
gefunden
worden - sie hätten einfach herumgelegen. Das UN-Team warnte die Menschen
vor
den radioaktiven Überbleibseln und drückte seine Sorge aus, dass Anwohner
"Kriegsandenken" mit nach Hause genommen haben könnten.
STIMME KOSOVOS / INET / BEOGRAD.COM
Tödliche Gefahr für spielende Kinder
BELGRAD, 06. Dezember 2001. Von einem Giftstreifen sprechen die
jugoslawischen
Behörden. Die Erde werde noch über Milliarden Jahre hinweg verseucht sein,
werfen sie dem Westen vor. Und noch schlimmer sei, dass die Radioaktivität
ins
Grundwasser gelange und schließlich über die Nahrung aufgenommen werde, sagt
Zaric. "Da die NATO diese Munition gebrauchte, hat sie die moralische
Pflicht,
dieses Gelände zu säubern", verlangt Pavlovic.
Eine Zeitbombe tickt vor allem für die Kinder in ganz Jugoslawien: Beim
Rückzug der jugoslawischen Armee, aus Kosovo und Metochien, hat diese ihre
von
den gefährlichen Geschossen zerstörten Panzer und Fahrzeuge zurückgelassen,
erklärt Zaric. Die Kinder hätten häufig in den Trümmern gespielt und sich
vor
den Panzern fotografieren lassen.
BEOGRAD.COM / STIMME KOSOVOS
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