Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Teufelsfahrten ohne Wiederkehr

Die "Entsorgung" von Weltkriegs-C-Waffen

Von René Heilig *

Die Zeitbombe tickt: Zwischen 1917 und 1970 wurden systematisch über eine Million Tonnen Chemiewaffen aus beiden Weltkriegen in den Meeren, in Binnenseen und im Erdboden versenkt.

Die aus Syrien abtransportierten Kampfstoffe werden auf dem US-Marineschiff »Cape Ray« entschärft. Anschließend wird das Schiff nach Bremerhaven fahren, um dort 370 Tonnen des bei der Vernichtung anfallenden Hydrolysats zu entladen. Die werden dann bei der Bundeseigenen Entsorgungsfirma GEKA in Munster verbrannt. Der Rest wird im finnischen Korka entladen. Es ist zwar unnötig, doch soll eine deutsche Fregatte den Transport absichern.

Sicher ist sicher. Wirklich? Die »Cape Ray« durchpflügt Meere, in denen es nur so wimmelt von Chemiewaffen. Beispiel Mittelmeer: Mussolini hatte – um beim großen Völkermorden mithalten zu können – vorm und im Zweiten Weltkrieg im großen Stil Chemiewaffen entwickelt und getestet. Als der Krieg vorbei war, wussten die Alliierten nicht, was sie damit machen sollten. Sie warfen alles ins Meer. Vor allem die Adria war betroffen.

Auch der Atlantik, auf den die »Cape Ray« fahren wird, ist ein C-Waffen-Grab. Die im Zweiten Weltkrieg siegreichen US-Amerikaner und Briten sollen rund 270 000 Tonnen Wehrmacht-Kampfstoffe »geerbt« haben, und die für die Beseitigung der deutschen Kriegsmunition zuständige Alliierte Kontrollkommission entschied 1946: Die einzige Methode zur Beseitigung von chemischen Kampfmitteln ist die Versenkung auf See. Als Folge wurden rund 85 Prozent der in Deutschland aufgefundenen chemischen Kampfmittel in die Nord- und die Ostsee gekippt.

In den Westländern lud man alles auf beschlagnahmte deutsche Schiffe und versenkte die an vorbestimmten Stellen. Vier Kilometer Tiefe und 200 Meilen nordöstlich der Färöer-Inseln – das sollte ausreichen. Hoffte man. Und weil so alles perfekt aus den Augen und aus dem Sinn verschwand, luden auch die Briten ihre Kampfstoffe im Atlantik ab. Man spricht von rund 120 000 Tonnen.

Wenn das US-Abrüstungsschiff sich dann deutschen Gewässern nähert, durchquert das Schiff abermals brisantes Gebiet. Unmittelbar vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollen auf Befehl des später hingerichteten Wehrmachtschefs Wilhelm Keitel in der Flensburger Förde deutsche Chemiewaffen versenkt worden sein. Angeblich lautete der Befehl, die tödliche Fracht am südlichen Ausgang des Kleinen Belts, sechs Seemeilen vor der Flensburger Förde auszusetzen, doch die Schiffsbesatzungen hatten Angst vor alliierten Fliegerangriffen. So muss man sich nicht wundern, dass auf dem Weg dahin immer wieder vermodernde C-Waffen gefunden werden.

Übel lauert auch reichlich auf dem Grund der Ostsee, auf der die »Cape Ray« dann Richtung Finnland navigieren wird. 42 000 bis 65 000 Tonnen chemische Kampfstoffmunition – Bomben, Granaten, Minen, gefüllt mit Senfgas, Tabun und Phosgen – hat man dort zwischen Mai und Dezember 1947 ins Meer geworfen. Und weil die Sowjetunion als Besatzungsmacht keine kompletten Schiffe opfern wollte, warf man die Munition einzeln oder in Transportkisten über Bord.

Vor ein paar Jahren konnte man sich beispielsweise in Wolgast noch mit Seeleuten und Fischern unterhalten, die an den Teufelsfahrten beteiligt waren. Man wurde nach Leistung bezahlt, und so ist es sicher kein Gerücht, dass manche Schiffe schneller wieder im Hafen waren, als es möglich gewesen wäre, hätten sie die vorbestimmten Versenkungsorte angelaufen. Die sind bis zu 1500 Quadratkilometer groß, aber nie tiefer als 100 Meter.

Gleichartige Operationen liefen vor der japanischen Küste. Auch die USA entsorgten große Mengen C-Waffen maritim. Nicht anders handelte die Sowjetunion. Im Mai 1990 schlug die Natur zurück. Am Weißen Meer wurden tonnenweise vergiftete Krabben und Muscheln an Land gespült.

Nur wenige Geheimnisträger ahnten die Ursache. Moskau hatte noch in den 80er Jahren befohlen, Lewisit-Flugzeugbomben zu entsorgen. Es heißt, in Güterzüge verladen, hätte man damit 50 Züge mit je 50 Waggons füllen können. Übertrieben oder nicht – es ist nur wenig bekannt über mögliche Folgen dieser aus heutiger Sicht höchst unbesonnenen Chemiewaffen-Entsorgungsaktionen. Lewisit bildet bei der Hydrolyse arsenhaltige Verbindungen, Als hydrolysebeständig gelten Adamsit und andere C-Waffen-Grundstoffe. Auch scheinbar weniger gefährliche Umbringstoffe bilden, durch Wasser verdünnt, neue, giftige und wenig erforschte Verbindungen.

Das sind nur die naheliegenden Folgen. Wie es um eine mögliche Schädigung des Erbgutes steht, kann man noch nicht einmal vermuten. Vielleicht geht ja alles gut – vielleicht auch nicht. Man darf es nicht darauf ankommen lassen, sagen Wissenschaftler und verlangen zumindest eine intensive Beobachtung des weitgehend verschwiegenen Problems. Andere Experten raten: Lasst das Zeug, wo es liegt. Wenn man die vom Rost zerfressenen Geschosse und Bomben an die Oberfläche bringt, wird die mit Sicherheit gegebene Gefahr unbeherrschbar. Zumal es gar keine praktikable Bergungstechnologie gibt.

Die Probleme mit den Rüstungsaltlasten werden an kommende Generationen weitergereicht. Straffrei.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. April 2014


Endpunkt Munster

In der Lüneburger Heide werden demnächst Assads C-Waffen-Reste entsorgt **

»Entsorgt. Mit Sicherheit.« So lautet der Slogan der Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten in Munster (Heidekreis). Die bundeseigene GEKA ist das einzige Unternehmen in Deutschland, dem der Umgang mit chemischer Munition erlaubt ist. In fünf Anlagenkomplexen werden von 140 Mitarbeitern Chemiewaffen zerstört und kontaminiertes Erdreich gewaschen.

Demnächst werden Lkw mit 20-Fuß-Tankcontainern über die Waage am Eingang rollen. Insgesamt 370 Tonnen. Es handelt sich um auf dem US-Schiff »Cape Ray« produzierte Hydrolysestoffe. Ursprünglich waren das einmal syrische S-Lost-Kampfstoffe. Die werden in der niedersächsischen Entsorgungsfabrik weiter verarbeitet. So schnell wie unspektakulär: Man schließt einen Schlauch an das Containerventil an, der führt in ein Gebäude, darin steht ein Verbrennungsofen. Was übrig bleibt vom einstigen Todesstoff, wird gut gefiltert durch einen Schornstein in die Natur entlassen.

Eigentlich kämpft man dort in der Lüneburger Heide noch immer gegen die Todesdrohungen aus zwei Weltkriegen. Einst stand hier einmal eine Giftgas-Fabrik des deutschen Kaiserreiches. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die hier produzierte Munition delaboriert. Doch 1919 geschah ein Unfall, ein mit Chemiegranaten beladener Güterzug flog in die Luft. Und weil das Gelände ohnehin verseucht war, baute man eine neue Chemiewaffenfabrik hin, die für Hitlers Wehrmacht den Tod in Granaten abfüllte.

Heute entsorgt man die Hinterlassenschaften. Wann immer Feuerwerker in Deutschland vermuten, dass entdeckte Munition mit Kampfstoff gefüllt sein könnte, ruft man die Experten aus Munster. Die bergen, untersuchen und delaborieren die Munition. Die Masse des zurückbleibenden Materials ist hochwertiger Schrott. Und was bei der gesteuerten Verbrennung der Gefahrenstoffe in den Filtern hängenbleibt, wird ins Endlager gebracht. Derzeit verwendet man ein stillgelegtes Salzbergwerk in Thüringen. hei

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. April 2014


Zurück zur Chemiewaffen-Seite

Zur Chemiewaffen-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage