Die vergessene Zeitbombe
Vor 94 Jahren wurden erstmals Chemiewaffen eingesetzt. Inzwischen ist deren weltweite Ächtung beschlossene Sache und eine Rechtsnorm der internationalen Politik
Wolfgang Kötter *
Es geschieht mitten im Ersten Weltkrieg nahe der belgischen Stadt Ypern: Punkt 18.00 Uhr am 22. April 1915 befiehlt der Kommandierende General des XV. Armeekorps Bertold von Deimling Pionieren des deutschen Heeres, die Ventile mehrerer 1.000 Stahlflaschen zu öffnen. Der in westliche Richtung wehende Wind treibt eine sechs Kilometer breite grüngelbe Wolke aus rund 160 Tonnen des hochgiftigen Chlorin-Gases hinüber in die französischen, britischen und belgischen Schützengräben. Auf alliierter Seite sterben mindestens 5.000 Soldaten, weitere 10.000 erleiden qualvolle Vergiftungen.
An die Gräuel der Gaskriege erinnert ein vom niederländischen Künstler Voebe de Gruyter geschaffenes Denkmal in Den Haag. Denn chemische Kampfmittel kamen auch in den nachfolgenden Jahrzehnten zum Einsatz. Bis heute richtet sich diese Massenvernichtungswaffe gegen Millionen von Menschen in kriegerischen, aber auch bei innenpolitischen Konflikten. Noch über Jahre hinaus wird das giftige Erbe von weltweit über 71.300 Tonnen chemischer Waffen Gesundheit, Leben und die natürliche Umwelt bedrohen.
Albanien und Südkorea chemiewaffenfrei
Wenigstens gibt es seit 1997 die Chemiewaffen-Konvention, sie verbietet nicht nur, diese verheerende Massenvernichtungswaffe anzuwenden, sie untersagt auch deren Fabrikation und Besitz. Doch die Vernichtung der Bestände zieht sich hin. Nach der ursprünglichen Zeitplanung hätten alle Chemiewaffen bereits 2008 vernichtet sein müssen, als eine Zehn-Jahres-Frist verstrichen war. Faktisch aber gilt die ursprünglich nur für Ausnahmefälle vorgesehene Verlängerung bis zum Jahre 2012. Immerhin melden zwei Staaten – Albanien und Südkorea – die vollständige Beseitigung ihrer Giftstoffvorräte.
Zwei von offiziell nur sechs Ländern, die sich als Chemiewaffenbesitzer geoutet haben.
Zu den anfangs gemeldeten Russland, USA, Indien und Südkorea kamen später noch Albanien und Libyen hinzu. Ungarn räumte ein, während des Kalten Krieges illegal C-Waffen besessen zu haben, sie seien jedoch vollständig beseitigt. Auch bei weiteren Ländern werden geheime Giftgasvorräte beziehungsweise Waffenprogramme vermutet. Das renommierte Washingtoner Henry L. Stimson Center zählt dazu Ägypten, Äthiopien, China, Iran, Israel, Nordkorea, Myanmar, Pakistan, Serbien, Sudan, Syrien, Taiwan und Vietnam.
Die chemische Abrüstung wird Experten zufolge insgesamt bis zu 50 Milliarden Dollar kosten. Inspektoren waren bereits zu 3.620 Kontrollen in 81 Ländern unterwegs, um die Einhaltung des Verbots zu überwachen. 41 Produktionsanlagen wurden zerstört, 19 für eine zivile Produktion umgerüstet. Weltweit arbeiten 37 Entsorgungsanlagen, in denen bisher über 42 Prozent der ursprünglichen C-Waffen-Bestände beseitigt wurden, etwa 30.000 Tonnen Giftstoffe.
Noch immer führt Russland die Gruppe der C-Waffenbesitzer mit 40.000 Tonnen an, gefolgt von den USA mit etwa 31.500 Tonnen. Beiden wird die gewährte Fristenverlängerung um jeweils fünf Jahre aber wahrscheinlich noch nicht reichen.
Nach der gleichen Ausnahmeregel darf Libyen ebenfalls mehr Zeit aufwenden. Indien hat bisher rund 93 Prozent des Gesamtarsenals vernichtet. Die USA nutzen derzeit Verbrennungsfabriken in den Bundesstaaten Alabama, Arkansas, Oregon und Utah. An weiteren Entsorgungsanlagen für Senfgas und VX-Kampfstoffe in Blue Grass/Kentucky und Pueblo/Colorado wird noch gebaut. Die zuständige Army Chemical Materials Agency vernichtete bisher zwar rund 58 Prozent, aber nach offiziellen Angaben wird die Beseitigung erst im Jahre 2017 vollendet sein. Wegen verspäteter Mittelzuweisung und schlechten Projektmanagements könnten sogar noch fünf bis sechs Jahre hinzukommen. Russland hat nach eigenen Angaben rund 30 Prozent seiner Waffenvorräte vernichtet, doch immer wieder verzögern fehlendes Geld und technische Probleme die Entsorgung.
Ein tödliches Erbe
Akute Umweltkatastrophen drohen von den enormen Mengen an Giftstoffen, die noch in Depots aus vergangenen Kriegen überwintern, oft auf dem Boden der Weltmeere. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden beispielsweise bis zu 65.000 Tonnen Kampfstoffmunition der deutschen Wehrmacht in der Nord- und Ostsee verklappt. Die Sowjetunion und die USA versenkten während des Kalten Krieges regelmäßig ausgemusterte Chemiewaffen im Meer.
Ein neues Gesetz verpflichtet nun die US-Army, die Lagerorte von rund 3.000 Tonnen Gifte wenigstens zu kartographieren, allerdings nur vor den eigenen Küsten. Japan ist zur Zeit mit der Räumung von Giftmunition beschäftigt, die als Restmasse der zwischen 1937 und 1945 in China eingesetzten Bestände eine gefährliche Erbschaft sind. Höchste Zeit, dass überall mit mehr Entschiedenheit Kurs auf eine von Chemiewaffen freie Welt genommen wird.
* Aus: Wochenzeitung "Freitag" (online), 22. April 2009; www.freitag.de
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