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Tödliches Erbe der C-Waffen bedroht Menschen und Natur

Überprüfungskonferenz will Tempo der Vernichtung erhöhen

Von Wolfgang Kötter *

Im »World Forum Convention Center« von Den Haag tagt zur Zeit die zweite Überprüfungskonferenz der Konvention über das Chemiewaffenverbot.

Noch auf dieser Tagung erwarten die Teilnehmer den Beitritt Iraks und Libanons, dann zählt das C-Waffen-Abkommen 185 Mitgliedstaaten und erfasst über 98 Prozent der Erde. Doch zur vollen Universalität fehlen noch zehn Staaten. Das Hauptproblem liegt im Nahen Osten. Während arabische Staaten ihre Verweigerung mit dem Atomwaffenbesitz Israels begründen, will Jerusalem das C-Waffenverbot erst ratifizieren, wenn alle Länder der Region beigetreten sind. Nach der ursprünglichen Zeitplanung hätten alle Chemiewaffen bereits im Vorjahr vernichtet sein müssen, als die Zehnjahresfrist verstrichen war. Faktisch aber gilt die ursprünglich nur für Ausnahmefälle vorgesehene Verlängerung bis zum Jahre 2012. Allein Albanien meldete letzten Sommer die vollständige Beseitigung seiner 16,7 Tonnen Giftstoffe. Durch die zum Teil beträchtlichen Verzögerungen entstehen neue Risiken für das Leben von Menschen, Tieren und Umwelt. Gefahrenherde sind neben den aktuellen Arsenalen vor allem die riesigen Mengen Chemiewaffen, die aus vergangenen Kriegen in aller Welt zurückgeblieben sind.

So wurden nach dem Zweiten Weltkrieg etwa C-Waffen der deutschen Wehrmacht in der Nord- und Ostsee versenkt. Allein im deutschen Teil der Ostsee rechnet man mit bis zu 365 000 Tonnen Giftgasmunition. Die Vernichtung erfolgt seit 1980 durch die Gesellschaft zur Entsorgung chemischer Kampfstoffe und Rüstungsaltlasten (GEKA) in einer Verbrennungsanlage auf dem Truppenübungsplatz Munster. Ihre gegenwärtige Vernichtungskapazität liegt aber nur bei ca. 70 Tonnen im Jahr. Gerade im Lichte der geplanten deutsch-russischen Ostsee-Gas-Pipeline fordern Meeresbiologen und Umweltschützer eine systematische Suche und konsequente Bergung der Gefahrenquellen. Laut Experten rosten die Metallwände der tickenden Zeitbomben im Verlauf von zwölf Monaten bis zu 0,15 Millimeter. Wie oft in Deutschland chemische Restmunition gefunden wird, ist unklar, es gibt keine Meldepflicht. Aus Dänemark werden jährlich etwa 20 Giftgasvorfälle in der Fischerei bekannt. Gefahren ergeben sich auch für den Tourismus. So sieht Weißer Phosphor aus Brandbomben beispielsweise Bernstein täuschend ähnlich, und die Folge einer Verwechslung sind schmerzhafte Brandwunden.

Die sowjetische Armee entsorgte ausgemusterte Chemiewaffen vor der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer, die US-Navy im Atlantik. Zwar verpflichtet ein Gesetz inzwischen das Pentagon, die Lagerorte der rund 3000 Tonnen Gifte wenigstens zu kartografieren, doch nur vor den eigenen Küsten. Die anderen elf vom USA-Giftentsorgungsdumping betroffenen Staaten bleiben unberücksichtigt. Die japanischen Truppen hinterließen in China seit den 1930er Jahren unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen ein und zwei Millionen Stück chemischer Munition, die Japan bis 2012 zu Kosten von bis zu neun Milliarden Dollar räumen muss. Insgesamt 16 Großeinsätze unternahmen japanisch-chinesische Expertenteams bisher vor allem im nordöstlichen China. Ein neues Zwischenlager arbeitet bei Harbaling im Gebiet Jilin, wo in Sümpfen immer noch mehrere Hunderttausend Stück C-Waffen-Munition liegen. Bisher entsorgten die Vernichtungsteams rund 38 000 Tonnen Chemiewaffen und beseitigten 2000 Tonnen vergifteter Materialien. Großbritannien meldete bereits im vergangenen Frühjahr, dass alle Altbestände (3812 Stück C-Waffen-Munition) für 20 Millionen Dollar vernichtet worden seien.

Doch nicht nur das giftige Erbe, auch neue wissenschaftliche und technische Entwicklungen geben Anlass zur Sorge, lassen die Unterschiede zwischen Biologie und Chemie immer mehr verschwimmen. Umso wichtiger ist es, zu verhindern, dass Grauzonen zwischen den Verboten der Bio- und der Chemiewaffenkonventionen militärisch missbraucht werden. Internationale Besorgnis ruft auch das wachsende Interesse von Polizei, Sicherheitsdiensten und Terroristen an »nicht-tödlichen« chemischen Kampfstoffen hervor. So entwickeln die USA Betäubungsmittel und psychoaktive Drogen, die als militärische Waffe eingesetzt werden sollen, um die Gegner handlungsunfähig zu machen.

Mit derartigen Projekten verstößt Washington eklatant gegen die Chemiewaffenkonvention, denn diese verbietet ausdrücklich jede chemische Waffe, die »den Tod, eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit oder einen Dauerschaden« verursacht. Ob das Thema aber auf der jetzigen Tagung gebührend behandelt wird, ist zweifelhaft. Allzu groß sind die Interessen der Rüstungslobby, die bis hinein in die Armeeführungen der Chemiegroßmächte reicht. Perspektivisch müssen sich die Vertragsstaaten auch darüber einigen, welche Strafen die C-Waffenbesitzer für ihre Verzögerungen bei der Giftgasbeseitigung zu erwarten haben. Schließlich steht die Organisation langfristig vor einer Umstrukturierung, denn nach Beendigung der chemischen Abrüstung muss die Balance zwischen Kontrolle, Nichtverbreitung und Kooperation in ihrer Tätigkeit neu austariert werden.

Organisation

Für die Kontrolle der Vertragserfüllung ist die “Organization for the Prohibition of Chemical Weapons“ (OPCW) verantwortlich. Generaldirektor Rogelio Pfirter aus Argentinien leitet in Den Haag die Arbeit von rund 500 Mitarbeitern aus 66 Ländern. OPCW-Kontrolleure reisten bisher zu rund 3 150 Inspektionen in achtzig Länder, um die Einhaltung des Verbots zu überwachen. Einundvierzig militärische Produktionsanlagen wurden zerstört und achtzehn zur friedlichen Nutzung umgewandelt. Weltweit arbeiten 14 Entsorgungsanlagen, in denen bisher fast 40 Prozent der ursprünglichen C-Waffen-Bestände beseitigt wurden, das sind rund 27 200 Tonnen Giftstoffe, ebenso wurden gut 30% der eingelagerten etwa 8,7 Millionen Stück Munition und Gaskanister liquidiert.



* Aus: Neues Deutschland, 10. April 2008


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