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Union prüft Grundgesetzänderung für Bundeswehreinsätze

Unionspolitiker Uhl: Deutschland rechtlich, mental und politisch nicht für Krieg aufgestellt

Im Folgenden dokumentieren wir:

Union prüft Grundgesetzänderung für Bundeswehreinsätze

Politiker von CDU und CSU wollen wegen der angeblich "komplizierten Lage" der Bundeswehr in Afghanistan eine Änderung des Grundgesetzes prüfen. "Auf veränderte Realitäten des 21. Jahrhunderts sollten wir mit entsprechender Rechtsetzung reagieren", sagte der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Ernst-Reinhard Beck (CDU), "Spiegel Online" am 18. Dezember. Es stelle sich die Frage, "ob nicht der Gesetzgeber verpflichtet ist, die sicherheitspolitisch relevanten Artikel des Grundgesetzes auf den Prüfstand zu stellen."

Unionspolitiker wollen für Bundeswehr-Einsätze im Ausland eine Änderung des Grundgesetzes prüfen. «Auf veränderte Realitäten des 21. Jahrhunderts sollten wir mit entsprechender Rechtsetzung reagieren», sagte Ernst-Reinhard Beck (CDU), der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, im Interview mit «Spiegel Online» am Freitag. Er stellte die Frage, «ob nicht der Gesetzgeber verpflichtet ist, die sicherheitspolitisch relevanten Artikel des Grundgesetzes auf den Prüfstand zu stellen.»

Die asymmetrische Bedrohung komme in der deutschen Verfassung bisher nicht vor, argumentierte Beck. «Das ist ein blinder Fleck, der für den Gesetzgeber zumindest eine Betrachtung wert wäre.» Die sicherheitspolitische Verfassungsdiskussion sei «1968 bei den Notstandsgesetzen stehengeblieben. Das geht nun zu Lasten unserer Soldaten».

Als asymmetrische Bedrohung wird der Kampf klassischer Streitkräfte wie der Bundeswehr gegen Gegner bezeichnet, die sich nicht an den klassischen Vorgaben für kriegerische Auseinandersetzungen messen lassen, etwa Guerrilla-Organisationen oder terroristische Netzwerke wie die Taliban oder Al Kaida.

Hans-Peter Uhl (CSU), der innenpolitische Sprecher der Fraktion, sagte «Spiegel online»: «Wir sind rechtlich, mental und politisch nicht aufgestellt für kriegerische Handlungen. Wir wollen die pazifistischsten Pazifisten sein. Das geht nicht.» Die Deutschen müssten «in der afghanischen Wirklichkeit ankommen: Es sind kriegsähnliche Handlungen, dort schießen Menschen auf Menschen.»

Nach dem Untersuchungsausschuss sei die Frage zu beantworten, «ob und gegebenenfalls wie wir unser Afghanistan-Mandat und dessen Rechtsgrundlagen rechtlich verändern müssen», zitierte der Onlinedienst Uhl. Anhand des Falles Kundus «werden die Juristen rauf und runter deklinieren, was Oberst Klein durfte - und was nicht».

Uhl forderte eine Änderung des Grundgesetzes: «Wir müssten unsere Verfassung auf die Wirklichkeit asymmetrischer Bedrohungen hin umschreiben», räumte aber auch ein: «Allerdings haben wir dafür keine Mehrheit im Bundestag.» In Afghanistan herrsche weder Krieg noch Frieden, darauf gebe das Grundgesetz keine Antwort. «Solange wir dies nicht ändern, kann die Bundeswehr nicht der Bündnispartner in der NATO sein, der benötigt wird.»

Quelle: Nachrichtenagenturen AP, AFP, dpa, 18. Dezember, 2009


Friedensratschlag: Nicht das Grundgesetz ändern, sondern die Politik

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag

Kassel, 18. Dezember 2009 - Zu der heute (Freitag, 18. Dez.) von der CDU/CSU losgetretenen Diskussion um eine Grundgesetzänderung zur Erleichterung der Kriegführung erklärte der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in Kassel:

Wortführer der CDU/CSU scheinen von allen guten Geistern verlassen zu sein, wenn sie den Streit um das Kundus-Massaker zu einer Grundgesetzänderung nutzen wollen. Es ist lächerlich zu behaupten, da das Grundgesetz "asymmetrische Konflikte" nicht kenne, müsse es an die Kriegswirklichkeit "angepasst" werden. Erstens sind "asymmetrische Kriege" nicht wirklich neu, sondern sind so alt wie die Kriege selbst. Und zweitens gibt es allgemein verbindliche Regeln des Kriegsvölkerrechts (Haager Landkriegsordnung und Genfer Konvention), an die sich reguläre Armeen in Kriegs- und Bürgerkriegssituationen zu halten haben. Diese Konventionen (die z.B. den Schutz der Zivilbevölkerung vorschreiben) sind nach Artikel 25 GG unmittelbar geltendes Recht auch für die Bundesrepublik Deutschland: "Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes."

Der Vorstoß der Abgeordneten Ernst-Reinhard Beck (CDU) und Hans-Peter Uhl (CSU) zielt außerdem darauf ab, das allgemeine Kriegsverbot des Grundgesetzes, das dem allgemeinen Gewaltverbot der UN-Charta (Art. 2) entspricht, aus den Angeln zu heben. Somit sollen nicht nur die Kampfhandlungen im Krieg von humanitärem "Ballast" befreit werden, das Kriegsverbot selbst steht plötzlich zur Disposition. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Da das Grundgesetz Kriegshandlungen, die nicht der Verteidigung Deutschlands dienen, verbietet, sollten diese Kriegshandlungen eingestellt werden! Das strikte Friedensgebot des Grundgesdetzes (Art. 26 GG) ist eine der wichtigsten Lehren aus den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, für die das Kaiserreich und das faschistische Deutschland verantwortlich waren. Wer dieses Verbot angreift, will zurück in die Zeit, als die Staaten noch ein "Recht auf Krieg" für sich in Anspruch nahmen.

Die Friedensbewegung wendet sich entschieden dagegen, dass Krieg wieder zum "normalen" Mittel der Politik gemacht wird. Wer immer die Axt an das Grundgesetz legen möchte, um die Bundeswehr leichter in Kriege schicken zu können oder den Soldaten das Kriegshandwerk zu erleichtern, stellt sich gegen das Völkerrecht und das Gewissen der Menschheit. Statt das Grundgesetz an die Kriegswirklichkeit anzupassen, soll sich die Politik den Geboten des Grundgesetzes anpassen. Der beste Weg, das Völkerrecht einzuhalten, besteht darin, die Kriege zu beenden. die erste und wichtigste Konsequenz aus der Debatte um das Kundus-Massaker ist daher, die Bundeswehr aus Afghanistan zurück zu holen - lieber heute als morgen!

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski, Kassel



18. Dezember 2009 - 1168
Stellvertretender Fraktionsvorsitzender

Aufklaerung statt Kriegsgeschrei

Zu Forderungen aus den Reihen der CDU/CSU, wegen des Afghanistan-Einsatzes das Grundgesetz zu aendern, erklaert der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler:

CDU/CSU zeigen mal wieder, was sie am besten koennen: Das Werfen von Nebelkerzen. Was wir jetzt benoetigen, ist kein Kriegsgeschrei, sondern eine sachliche und umfassende Aufarbeitung der Kunduz-Affaere. Bislang hat Verteidigungsminister zu Guttenberg diese jedoch eher behindert als befoerdert. Der Untersuchungsausschuss wird daher die dringend notwendige Aufklaerungsarbeit leisten muessen.

Jetzt wird versucht, durch gezielte Ablenkungsmanoever die oeffentliche Aufmerksamkeit in die Irre zu leiten. Wir benoetigen in Deutschland keine Grundgesetzdebatte, sondern eine Strategiediskussion ueber eine realistische Abzugsperspektive aus Afghanistan. Dazu muesste die Bundesregierung endlich erklaeren, mit welcher Zielsetzung und mit welchen konkreten Vorschlaegen sie zur Afghanistankonferenz Ende Januar in London reist. Das waere ein dringend notwendiger Beitrag zur Versachlichung der Debatte. Doch die juengsten Aeusserungen namhafter Unionspolitiker lassen befuerchten, dass Schwarz-Gelb daran kein Interesse hat, sondern sogar fahrlaessig den Eindruck erweckt, die bisherigen Beschluesse des Bundestags zum deutschen Beitrag an der ISAF-Mission seien auf keiner ausreichenden Rechtsgrundlage erfolgt. Das ist unverantwortlich.


Friedensgebot des Grundgesetzes muss unangetastet bleiben

„Unmittelbar nach der verheerendsten deutschen Militäroperation seit dem Zweiten Weltkrieg die engen grundgesetzlichen Grenzen für Bundeswehreinsätze lockern zu wollen, zeugt von bedenklicher Geschichtsvergessenheit. Das auch noch als Anpassung an die Realität zu verkaufen, ist ein Zeichen geradezu tödlicher Ignoranz“, kommentiert Paul Schäfer, verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE, die Forderung der CDU, das Grundgesetz auf leichtere Beteiligung an kriegerischen Handlungen zurechtzuschneiden. Schäfer erklärt weiter:

„Das Friedensgebot des Grundgesetzes muss unangetastet bleiben – nicht etwa aus naivem Heile-Welt-Pazifismus heraus, sondern gerade mit Blick auf die Realität: Die Realität, wie sie derzeit in Afghanistan zu beobachten ist, zeigt, dass jede militärische Kraftanstrengung den Karren tiefer in den Dreck gefahren hat. Die Realität zeigt, dass die Zahl der Gefechte im Gleichschritt mit der Zahl der NATO-Soldaten steigt, und die Realität zeigt, dass Militär ein denkbar ungeeignetes Mittel zur Lösung der aktuellen sicherheitspolitischen Probleme ist.

Eine Anpassung der sicherheitspolitisch relevanten Artikel des Grundgesetzes besteht also nicht darin, die Fesseln des Militärs weiter zu lockern, sondern Deutschland deutlich verbindlicher auf eine Rolle als internationaler Kriegsdienstverweigerer festzuschreiben.“


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