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Ein entlarvender Parlamentskrimi

Wolfgang Gehrcke & Genossinnen zu Deutschland, Afghanistan und die neuen Kriege

Von Uli Gellermann *

Dass vor bald zehn Jahren der Parlamentsbeschluss zur Teilnahme am Krieg nur per Losentscheid zu haben war, ist nur eine der grotesken Informationen, die dieses Buch bereithält: Weil immerhin acht Grünen-Abgeordnete dem Start zum Morden in Afghanistan nicht zustimmen wollten, so aber die Mehrheit der Regierung Schröder-Fischer gefährdet gewesen wäre, musste unter den acht Aufrechten das Los entscheiden: Wer eine Niete zog, sollte dem Krieg zustimmen. Das machten die Nieten-Abgeordnete dann auch brav. Und natürlich begann auch dieser, wie jeder gute Krieg, mit einer Lüge: Er sei eher eine Polizeiaktion, man wolle mal eben diesen Osama Bin Laden da rausholen und dann aber wieder nach Hause. Es sollte nicht die letzte Lüge sein, die größte auf der deutschen Seite war jene, nach der die Sicherheit der Bundesrepublik am Hindukusch verteidigt werde.

Der Bundestagsabgeordnete der LINKEN Wolfgang Gehrcke und seine Ko-Autorinnen Christel Buchinger, Jutta von Freyberg und Sabine Kebir nehmen das Grundgesetz ernst und außerdem sogar das Parlament. Darin unterscheiden sie sich von der Mehrheit im Deutschen Bundestag, die sich gern selbst entmündigt und alle Jahre wieder der Fortsetzung des zumeist »Einsatz« genannten Krieges zustimmt: Mal musste es einfach sein, um den Terror abzuwehren, der nie von Afghanistan ausgegangen ist. Dann wieder ging es darum, die Arbeit der afghanischen Regierung zu sichern, einer Regierung, die nie demokratisch gewählt wurde, dafür aber immer korrupt war. Und wenn das nicht zog, dann handelte es sich um die Rechte afghanischer Frauen. Mit der ironischen Zwischenüberschrift »Bomben gegen Burkas« verweisen die Autoren den Frauen-Ansatz in das Reich der Billigpropaganda und erinnern unter anderem an das Titelblatt des »Time«-Magazin, das eine Afghanin mit abgeschnittener Nase zeigt und kommentierte: »Das passiert, wenn wir abziehen.« Dass die Story auch die deutschen Abschreiber-Medien zierte, daran kann man sich gut erinnern. Nicht erinnern kann man sich, dass den Kopierern aufgefallen wäre, was im vorliegenden Buch zu lesen ist: Die tragische Geschichte der armen Frau geschah in den Jahren des NATO-»Einsatzes«.

»Die Bekämpfung des Terrorismus«, so erzählt Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, sei »in erster Linie ein Freiheitsthema« und deshalb fragt sich der FDP-Mann, »was bedeutet denn das für Millionen von deutschen Staatsbürger, die frei und und sicher irgendwo in der Ferne ihren Urlaub verbringen wollen«. Das Buch offeriert etliche solch unglaubliche Idiotien: Über das präpotente »Wir«, das zum Ausbau staatlicher Strukturen in Afghanistan kommen will, als ob »uns« das Land und das Volk dort gehören würden. Bis hin zu einem »Fortschrittsbericht« zu Afghanistan, den die Bundesregierung 2010 vorlegte und der »Rückschrittsbericht« hätte heißen müssen. Dass diese elende Blindheit gegenüber der Wirklichkeit, diese verantwortungslose Phrasendrescherei von Parlament und Regierung deutsche Medien teilen und zur arroganten Ignoranz die Begleitmusik liefern, wird hier u. a. am Beispiel von Josef Joffe, Herausgeber der »Zeit«, belegt, der entschuldigend zum Krieg schrieb: »Wer handeln muss, macht sich schuldig.« Jeder Serien-Killer könnte dem zustimmen.

Dem klugen, gründlichen und sprachlich angenehmen Parlamentskrimi von drei Frauen und einem Mann, die nicht hinnehmen wollen, dass Kriege zum deutschen Alltag gehören, fehlt nichts – außer vielleicht ein Ausblick auf den Tag, an dem ein anderes, ein wirkliches Parlament, die Afghanistan-Unterlagen-Behörde konstituiert und jedermann aus den Akten ersehen kann, wer für die vielen Toten verantwortlich war.

Wolfgang Gehrcke/Christel Buchinger/Jutta von Freyberg/Sabine Kebir: Afghanistan – So werden die »neuen Kriege« gemacht: Deutschland und der Krieg am Hindukusch. PapyRossa, Köln 2011. 235 S., br., 14,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Juni 2011

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