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Das Jahr 2001: Milzbrandhysterie und Biologische Waffen

Bilanz und Ausblick

Im Jahr 2001 haben Briefe mit dem Milzbranderreger die westliche Welt in Atem gehalten und das lange vernachlässigte Thema der biologischen Waffen wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Die Milzbrand-Anschläge haben in den USA zu fünf Todesfällen geführt. Da die Erkrankung von Mensch zu Mensch nicht übertragbar ist und nur eine relativ hohe Dosis inhalierter Keime zum lebensgefährlichen Lungenmilzbrand führt, hielt sich die Zahl der Opfer in engen Grenzen. Problematisch war über Wochen die Zerstörung der gesellschaftlichen Normalität. Nicht nur in den USA, auch in der Bundesrepublik Deutschland war eine regelrechte, von den Medien und von "Trittbrettfahrern" geschürte Massenhysterie aufgetreten, die das gesellschaftliche und politische Leben paralysierte und durch zahlreiche Reihenuntersuchungen, vorsorgliche Behandlungen und aufwendige Dekontaminationsprozeduren enorme Kosten verursachte. Schnell wurden in der Öffentlichkeit "die üblichen Verdächtigen" Ossama bin Laden und Saddam Hussein als Absender der verseuchten Briefe ins Spiel gebracht und die Bedrohung durch B-Waffen als weiteres Argument zur eigenen Rechtfertigung für den "Krieg gegen Terror" benutzt.

Mittlerweile besteht kein plausibler Zweifel mehr an einer in den USA gelegenen Quelle der Milzbrand-Attacken, wie neben anderen auch Barbara Hatch Rosenberg, Mikrobiologin und Direktorin der Arbeitsgruppe Biologische Waffen der Federation of American Scientists, dargelegt hat. Alle Milzbrandbriefe enthielten den selben Stamm, den sogenannten AMES-Referenzstamm. Dieser befindet sich im Besitz von wohl nicht mehr als 20 Laboratorien in den USA und Großbritannien. Soweit die Vertriebswege bekannt sind, wurde dieser Stamm aus Fort Detrick, einer militärmedizinischen Forschungseinrichtung in Maryland, weitergegeben. Zahlreiche weitere Parameter, die in der Aufbereitung der reinen Milzbrandsporen zu waffenfähigem Material eine Rolle spielen, sprechen für eine Quelle in den USA: Nur durch einen speziellen Aufbereitungsprozess und den Zusatz eines geheimen Chemikalienmixes ist es möglich, die in den Briefen vorgefundenen Partikel mit einer Größe von nur 1,5 bis 3 Mikrometer und der enorm hohen Konzentration von Sporen (eine Billion pro Gramm), adsorbiert an ein spezielles Trägermaterial, zu produzieren. So weit bekannt, stehen diese Kenntnisse und Fähigkeiten nur den USA zur Verfügung.

Über den oder die tatsächlichen Täter liegen offiziell keine konkreten Erkenntnisse vor. Sicher scheint zu sein, dass der Täter aus einem eng umschriebenen Personenkreis von Wissenschaftlern stammen muss, die in das B-Waffen-Programm der USA eingebunden waren. Eklatante Sicherheitslücken (nachgewiesen für Fort Detrick) oder sogar konkrete Unterstützung durch eine Forschungseinrichtung (aus finanziellem Eigeninteresse und/oder aus politischem Interesse) - spekuliert wird auch über eine Mitwirkung des CIA - waren eine notwendige Voraussetzung der Milzbrandattacken.

Seit diese Fakten Stück für Stück ans Tageslicht geraten, ist es in der öffentlichen Diskussion bezeichnend still um das Thema Milzbrand geworden. Ganz im Gegenteil wäre hier eine schonungslose und vollständige Aufklärung aller Hintergründe von größter Wichtigkeit, besonders eine mögliche Verquickung mit staatlichen Forschungslabors, Militäreinrichtungen oder Geheimdiensten offen zu legen. Auch wenn die Milzbrand-Anschläge des Jahres 2001 vergleichsweise wenige Todesopfer forderten, haben sie die besondere Gefährlichkeit von B-Waffen in Erinnerung gerufen. Ihre Herstellung ist trotz aller technischen Schwierigkeiten und des notwendigen Spezialistenwissens im Gegensatz zu anderen Massenvernichtungswaffen vergleichsweise einfach und preiswert. Die rasanten Fortschritte in der Biotechnologie haben zu einer Verbreitung von Expertenwissen und einer Zunahme von zivilen Forschungsanlagen geführt, deren Know-how auch für den waffenmäßigen Einsatz von Krankheitserregern zur Verfügung stünde. Methoden, um B-Waffen noch perfider zu machen, wie zum Beispiel die Übertragung von Antibiotikaresistenzen auf Krankheitskeime, sind bereits Routineverfahren der Gentechnik.

Die zerstörende Wirkung von B-Waffen wird zudem in Zeit und Raum über das eigentliche Ziel hinaus entfaltet. Nach der Freisetzung ist eine vollständige Kontrolle nicht mehr möglich. Die Erreger können sich als lebende Organismen eigenständig vermehren und durch Mutationen spontan verändern. Flüchtlinge nehmen den Erreger aus dem Angriffsgebiet mit und werden so vom Opfer ungewollt zum Täter, anders als beispielsweise Strahlenopfer eines Nuklearkrieges. Aufgrund dieses hohen Bedrohungspotentials kann nur ein weltweites Verbot der B-Waffen erfolgreichen Schutz vor dieser tödlichen Gefahr sicherstellen. Diese Ächtung wurde in großer internationaler Breite in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Biowaffen-Konvention verankert. Die "Biological and Toxic Weapons Convention" (BWC) wurde 1972 unterzeichnet und trat 1975 in Kraft. Sie wurde mittlerweile von 144 Staaten ratifiziert und 18 weiteren lediglich unterzeichnet. Interessanterweise gehört Israel mit seinen bekanntlich höchst entwickelten biotechnologischen Fähigkeiten nicht dazu, ebenso nicht einige der zentralasiatischen Republiken, in denen jetzt die USA Militärstützpunkte errichten (Tadschikistan, Kirgisien, Kasachstan). Diese Konvention verbietet eindeutig und konsequent jegliche Entwicklung, Produktion, Lagerung oder Beschaffung einer biologischen Waffe oder Toxinwaffe. B-Waffen werden im Rahmen dieser Konvention durch ihre feindselige Zweckbestimmung definiert. Verboten werden nicht einzelne Organismen oder Toxine, sondern deren Entwicklung für nicht-friedliche Zwecke. Dies liegt an einer besonders im B-Waffen-Sektor besonders ausgeprägten "dual-use"-Problematik. Beispiel sei das immer wieder als mögliche B-Waffe diskutierte höchst giftige Botulinus-Toxin, das in der Medizin eine weite Verbreitung zur Behandlung von Muskelverkrampfungen, übermäßiger Schweißbildung oder mimischen Falten gefunden hat. Anders als beispielsweise bei der C-Waffen-Konvention sind keinerlei Ausnahmen zugelassen, auch nicht für den Polizeieinsatz.

So gut diese Konvention auf dem Papier zu lesen ist, so zahm ist sie in der Umsetzung, weil effektive Kontrollmöglichkeiten fehlen. Von den Unterzeichnerstaaten Sowjetunion und Irak ist bekannt, dass sie offensive B-Waffen-Programme unterhielten. Im Jahr 1994 richtete eine außerordentliche Vertragsstaatenkonferenz eine ad-hoc-Gruppe ein, die ein rechtlich bindendes Verifikationsprotokoll zur Stärkung der Konvention erarbeiten sollte. Deren in sechsjährigen Verhandlungen erstellte Konzept fußte auf den vier Säulen "declarations" (Erfassung biotechnischer Anlagen), "visits" (Inspektionen durch internationale Beobachter nach dem Zufallsprinzip), "clarification procedures" (Klärungsprozesse zur Beseitigung von Unklarheiten) und "challenge investigations" (Ermittlungsverfahren im Verdachtsfall). Es sollte auf der 5. Vertragsstaatenkonferenz vom 19.11. bis 07.12. 2001 in Genf beschlossen werden.

Bereits im Vorfeld war das Kompromisspapier durch den Einfluss der USA verwässert worden, bei der Konferenz selbst jedoch ließen der Widerstand und bewusste Provokationen der USA die Veranstaltung in letzter Minute vollends scheitern. Es wurde kein Schlussdokument verabschiedet. Als einziges "Ergebnis" wurde eine Aussetzung der Beratungen und eine Fortsetzung zum 11. November 2002 vereinbart. Damit wurde ein fatales Signal für die Kontrolle von biologischen Waffen gesetzt. Die weltweite Ächtung schwindet zusehends. Dies wird auch durch Bestrebungen deutlich, Drogenpflanzen durch zerstörerische Pilzinfektionen zu vernichten, oder durch Forderungen seitens des US-Militärs, nicht-tödliche, materialzerstörende B-Waffen (Öl fressende Bakterien) zu entwickeln. Genau das Gegenteil wäre erforderlich: Es muss unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass jegliche Verwendung lebender Organismen oder deren Stoffwechselprodukte in feindlicher Absicht unter das B-Waffen-Verbot fällt. Dabei darf es keine wie auch immer gerechtfertigten Schlupflöcher geben. Zusätzlich sind strenge Restriktionen für die Defensivforschung erforderlich. Insbesondere weltweite Transparenz und Kontrolle sind unabdingbar, wenn die BWC mehr als ihr Papier wert sein soll. Daher sind große Anstrengungen der Verbündeten der USA, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland erforderlich, um die Verhandlungen über ein Verifikationsprotokoll, das seinen Namen verdient und nicht nur ein zahnloser Tiger ist, doch noch gelingen zu lassen. Eine kritiklose "uneingeschränkte Solidarität" ist auch an dieser Stelle völlig fehl am Platz.

Darüber hinaus ist es erforderlich, dass die Bundeswehr ihre eigenen Karten vollständig auf den Tisch legt und die Öffentlichkeit über ihre eigenen Forschungsprogramme lückenlos informiert. Nach den vorliegenden Informationen betreibt sie nur defensiv orientierte B-Waffen-Forschung. Die Grenze zur Offensivforschung ist jedoch hauchdünn und nicht anhand objektiver Kriterien auszumachen, sondern allein durch die Absicht des Wissenschaftlers. Auch wenn es keine Hinweise für ein Offensiv-Programm der Bundeswehr gibt, so ist doch nicht jede Defensivforschung automatisch zu begrüßen. Der militärischen Forschung müssen enge Grenzen gesetzt werden, dann oft genug wird im Reagenzglas erst der Teufel geschaffen, den man später bekämpfen will und muss. Die B-Waffen-Forschung der Bundeswehr ist stattdessen seit 1995 im Zusammenhang mit der Neuorientierung der Bundeswehr stark ausgebaut worden. Es wird eine durch die Auslandseinsätze außerhalb des NATO-Gebietes deutlich erhöhte Bedrohung deutscher SoldatInnen angenommen, die intensive Maßnahmen erforderlich mache. Auch hier hat keine Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit stattgefunden. Spätestens nach der Milzbrandhysterie im Jahr 2001 ist es allerhöchste Zeit, eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen und sich mit aller Kraft für nationale und internationale Transparenz sowie Stärkung und Ausbau der B-Waffen-Konvention einzusetzen.

Silke Reinecke

Der Beitrag erscheint demnächst im Friedens-Memorandum 2002, hrsg. vom Bundesausschuss Friedensratschlag.


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