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Absender unbekannt

Wer verschickte vor einem Jahr die tödlichen Milzbrandbriefe? Eine Reportage aus New York

Von Bernd Hendricks

Vor einem Jahr versetzten geheimnisvolle Milzbrandbriefe die Amerikaner in Angst und Schrecken. Sie töteten fünf Menschen und ruinierten die Gesundheit von 17 anderen. Das Capitol mußte evakuiert werden, das Postsystem wurde erheblich gestört. Die Welt erlebte den ersten erfolgreichen Angriff mit biologischen Waffen, aber bis heute wissen die Ermittlungsbehörden nicht, wer der Angreifer ist. Sie wissen nur eins: Er hat Zugang zum Biowaffenprogamm der Vereinigten Staaten.


Warum starb Kathy Nguyen? Briefe, Müllkörbe und die Ungeduld des Täters.

"… der Lungenmilzbrand verläuft wie eine schwere Lungenentzündung mit starkem blutigem Auswurf, der hochgradig ansteckend ist … hohes Fieber, häufig Schüttelfrost, Husten und Atemnot … Hautblutungen, Milzvergrößerung und Kreislaufschock … Lungen- und Darmmilzbrand verlaufen ohne oder bei verspäteter Therapie meist innerhalb von 2-3 Tagen tödlich." (Online-Lexikon "Medizin Worldwide" über den Milzbrandbazillus Bazillus anthracis)

Im Tode erfuhr Kathy Nguyen mehr Aufmerksamkeit als im Leben.

Als die New Yorkerin am Abend des 31. Oktober 2001 im Lennox Hill Hospital starb, stritten sich Fernsehreporter vor dem Krankenhauseingang in der engen East 77 Street um die beste Kameraposition. Die Blitzlichter der Fotoreporter und die Lichtkegel der TV-Kameras malten stumme Schatten an die Häuser der Nachbarschaft. Spezialermittler der Bundespolizei trafen ein, Ärzte traten mit medizinischen Bulletins vor die Tür. Kathy Nguyen mußte vor einiger Zeit, möglicherweise vor einigen Tagen oder Wochen Milzbrandviren eingeatmet haben. Sie lebte in der Bronx. Sie war alleinstehend, 61 Jahre alt. Sie arbeitete im Materialdepot im Keller des Manhattan Eye, Ear and Throat Hospital, der Augen-Ohr- und Hals-Klinik auf der 3. Avenue, Ecke East 64 Street. Sie hatte wenige Freunde, sie verreiste nie, ging selten aus, erhielt kaum Post. Sie war nicht wohlhabend. Ihre Nachbarn sammelten Geld, um sie beerdigen zu können. Sie war das vierte Todesopfer in einer Reihe von Milzbrandangriffen, die New York und die amerikanische Gesellschaft im Oktober und November letzten Jahres erschütterte. Ein Unbekannter hatte den Milzbrand in Briefen an besondere Adressaten, an prominente Medienleute und Politiker verschickt, und die Polizei versuchte nun herauszufinden, wie Frau Nguyen mit den tödlichen Viren in Kontakt kommen konnte. Die Beamten befragten 27 Nachbarn, 35 Bekannte und 232 Arbeitskollegen, untersuchten jeden Quadratzentimeter ihrer Wohnung, ihrer Kleidung, ihrer Post, rekonstruierten mit den Informationen, die auf dem Magnetstreifen ihrer Subway-Monatskarte gespeichert waren, ihre Bewegungen in der Stadt. Die Presse spekulierte, daß sie Viren zufällig an einer Straßenecke eingeatmet haben könnte, heruntergesegelt von einem vorbeifahrenden Müllwagen - es war bekannt geworden, daß ahnungslose Mitarbeiter der Fernsehstationen NBC, CBS und ABC und der Tageszeitung New York Post die Briefe mit dem seltsamen Pulver und den Haßtiraden in den Müll geworfen hatten (bei ihnen traten später Milzbrandsymptome auf - alle überlebten). Wissenschaftler theorisierten, starke Nordwestwinde um den 9. Oktober hätten die Viren vom Postverteilungszentrum in Trenton, New Jersey, nach Manhattan getragen (in diesen Tagen wurden Milzbrandbriefe in Trenton sortiert). Der Wind strich über eine Ebene, in der über drei Millionen Menschen leben.

Wir werden nie erfahren, wie Kathy Nguyen infiziert wurde. Sie war ein "Unfall", ein kollateraler Schaden in einem geheimnisvollen Blitzkrieg, der fünf Menschenleben kostete und die Gesundheit von 17 Menschen beschädigte. Wir wissen, daß der Angriff bereits vor dem Terroranschlag des 11. September vorbereitet und mit sieben Briefen ausgeführt wurde. Wir kennen die Herkunft der Sporen, den genetischen Zustand der Viren und die chemische Zusammensetzung des Pulvers, das die Viren in eine zuverlässige Waffe verwandelt, wir kennen sogar den Briefkasten in Princeton, New Jersey, (Nassau Street Ecke Bank Street, gegenüber dem Eingang der Princeton Universität), in den einige der Briefe eingeworfen wurden, aber wir wissen immer noch nicht, wer der Angreifer ist.

Vor wenigen Tagen, am 1. November 2002, teilte Robert S. Mueller, Direktor des Federal Bureau of Investigation (FBI) mit, daß die Ermittler nun gemeinsam mit Wissenschaftlern versuchen, das in den Briefen verwendete Milzbrandpräparat "nachzubauen", um Erkenntnisse über den Täter zu gewinnen. Mueller sagte, bis zum heutigen Tage gebe es - offiziell - keinen einzigen Verdächtigen. Niemand scheint deswegen frustriert zu sein. Politiker stellen keine unbequeme Fragen mehr an die Ermittlungsbehörden. In den Medien erscheinen nur noch wenige Berichte wie im August über die spektakuläre Haussuchung beim Bioforscher Dr. Stephen Hatfill in Frederick, Maryland, der in einer Pressekonferenz wütend jeden Verdacht von sich wies ("Ich bin ein loyaler Amerikaner und liebe mein Land. Das FBI hat mein Leben verwüstet."). Soweit ist es nicht gelungen, eine ausländische Täterschaft nachzuweisen, es gibt keine Spur, die auf Al Quaida-Terroristen oder auf den irakischen Staat weist.

In Kreisen von Wissenschaftlern und Experten taucht in letzter Zeit immer häufiger eine andere Vermutung auf, eine furchterregende Schlußfolgerung aus den Untersuchungsergebnissen des FBI: Immer mehr Fakten deuten darauf hin, daß es sich bei dem Milzbrandangriff vor einem Jahr um einen "Inside Job" handelt, ausgeführt von einem Täter, der nicht nur intime Kenntnisse über die Produktion von "waffenfähigem Milzbrand" besitzt, sondern auch Zugang zu Biowaffenarsenalen der Vereinigten Staaten.

Vorabend

Der Täter ist ein ungeduldiger Mensch. Möglicherweise ist Kathy Nguyen Opfer dieser Ungeduld.

Er hatte die ersten milzbrandverseuchten Briefe entweder am Abend des 17. September oder am 18. September in Princeton eingeworfen, auf jeden Fall durchliefen sie am 18. September die Sortiermaschinen im Verteilerzentrum Trenton. Ein Brief mußte von einem Mitarbeiter der Post neusortiert werden. Die Adresse war mit der Hand geschrieben, in Druckschrift und großen Buchstaben, aber zu tief auf dem Couvert, sodaß die Lesemaschinen ihren Inhalt nicht verarbeiten konnten. Die Briefe waren an den NBC-Fernsehkommentatoren Tom Brokaw, an die TV-Journalisten Dan Rather bei CBS und Peter Jennings bei ABC und an die New York Post gerichtet. Ein weiterer Brief ging in den Süden, nach Lantana in Florida, adressiert an die Redaktion des National Enquirer, ein Boulevardblatt, das vom Verlag American Media Inc. (AMI) herausgegeben wird.

Etwa zwischen dem 19. und dem 25. September öffnet eine Assistentin Brokaws den Brief. Sie findet darin ein paar Zeilen mit antiamerikanischen Parolen ("Tod für Amerika, Tod für Israel, Allah ist mächtig"), mit der Hand in Druckschrift verfaßt. Die Assistentin erinnert sich an ein "braunes, sandähnliches Granulat", das herausfiel und das sie in den Papierkorb wischte. Den Brief legte sie zu den Akten.

Am darauffolgenden Dienstag, den 2. Oktober, meldet sich in Boca Rota, Florida, etwa 30 Kilometer südlich von Lantana, der 63jährige Fotoredakteur Bob Stevens im Krankenhaus. Stevens arbeitet für "The Sun", ein Magazin, das zum American-Media-Verlag gehört. Er hat hohes Fieber, kann kaum atmen, er blutet an verschiedenen Stellen der Haut. Während die Ärzte an einer Diagnose arbeiten, stellen sie fest, daß Stevens bereits im Sterben liegt. Zwei Tage später, um fünf Uhr nachmittags, ist er tot und erst am darauffolgenden Tag, am 5. Oktober, finden die Ärzte heraus, daß er an Milzbrand erkrankt war, eine bis dahin selten auftretende Virenentzündung. Noch rätselt man, ob Stevens sich während seiner letzten Urlaubsreise angesteckt hat. Doch am 7. Oktober erkrankt in Boca Rota ein weiterer AMI-Mitarbeiter, der Hauspostsortierer Ernesto Blanco, an Milzbrand. Die Polizei riegelt den Verlag ab, die Ermittler betreten die Büros in Spezialanzügen. An Stevens Computertastatur finden sie Milzbrandsporen. Am 8. Oktober übernimmt das FBI die Untersuchung und eröffnet 24 Stunden später die Kriminalermittlung, nachdem ein weiterer Angestellter aus der Poststelle des Verlages an Milzbrand erkrankt.

Wir haben jetzt den 9. Oktober 2001. Es sind nun 22 Tage vergangen, in denen der Täter vergeblich auf ein Resultat seines Angriffes gewartet hat. Wir sehen ihn, wie er täglich die TV-Programme nach Nachrichten durchschaltet. Er sieht die Moderatoren, denen er die Briefe geschickt hatte, immer noch am Bildschirm lächeln. Die Zeitungen erörtern zwar die Gefahr des Bioterrorismus, doch nur als Hypothese, als möglicher Folgehorror des 11. September. In Florida melden lokale Medien nur beiläufig den Tod des Fotoredakteurs in Bota Roca und der Täter merkt dabei, daß er den Brief an eine falsche Adresse gesendet hatte und seine Zustellung deshalb verzögert wurde. Der Verlag war von Lantana nach Boca Raton gezogen. Der Täter hat riskiert, erkannt zu werden, als er die Briefe eingewarf, und er hat seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt, aber die Öffentlichkeit reagiert nicht auf seinen einzigartigen Angriff. Das Land nimmt nicht wahr, daß am Morgen des 9. Oktober das Zeitalter des Biokrieges begonnen hat, in dem ein Brief in eine Massenvernichtungswaffe und jedes Postamt in eine Abschußrampe verwandelt werden kann. Der Täter bereitet die "zweite Welle" vor, einen neuen Angriff, nicht nur mit einer stärkeren Dosis, sondern auch mit größter Präzision: Er versiegelt Ecken und Kanten von zwei weiteren Briefen mit Zellophanklebeband und faltet das Schreiben, eine Fotokopie der Schreiben an die New Yorker Journalisten, zu einer "pharmazeutischen Tüte", eine unter Apothekern und Laboranten bekannte Methode zur Pulverversiegelung. Dann füllt er jeweils zwei Gramm waffenfähige Milzbrandsporen ein, jede Spore nicht größer als 1,5 bis 3 Millionstel Meter, insgesamt etwa zwei Milliarden Sporen. Die Menge, die jeder Brief enthält, ist so groß, daß sie hunderttausend Menschen töten kann. Ziel der Briefe: die Hauptstadt Washington. Die Empfänger: Thomas Daschle, Fraktionsführer der Demokratischen Partei im Senat, und dessen Parteifreund, Senator Patrick Leahy. Absender: der Name eines fiktiven Schulkindes einer "Greendale School", einer Schule, die nicht existiert. Der Täter glaubt, daß Politiker die Briefe von Schulkindern persönlich öffnen und lesen.

Es dauert immerhin noch fünf Tage, bis der Brief an Senator Daschle geöffnet wird. Niemand im Capitol erkrankt, aber es trifft zwei Postangestellte in Washington. Sie können nicht mehr gerettet werden, am 25. Oktober leben sie nicht mehr. Als ein Postsortierer im Außenministerium erkrankt, fällt auf, daß der Brief an Senator Leahy versehentlich in der Poststelle des Ministeriums gelagert wurde, zusammen mit Briefen, die an US-Niederlassungen in aller Welt gerichtet sind. Die Sporen sind so klein, daß sie durch das Umschlagpapier wandern, sich in das Papiergewebe anderer Briefe festsetzen und erst in die Luft schwirren, wenn die Briefe aufgerissen werden. Man findet später Sporen in US-Missionen in Rußland und Peru - und schließlich im Körper von Ottilie Lundgren, einer 94jährigen Frau in Oxford, Connecticut, die am 16 November an Milzbrand stirbt. Sie ist das fünfte und letzte Todesopfer des Bioangriffs. Die Frau war gebrechlich, verließ selten die Wohnung, empfing wenig Besuch. Man hat nicht viel über die letzten Wochen ihres Lebens herausgefunden bis auf eine alte Angewohnheit: Frau Lundgren pflegte die Reklamebriefe zu zerreissen, bevor sie in den Mülleimer landeten.

Teil 2: Eine Virenfamilie aus Amerika. Mysteriöse Drohbriefe. Ein "Drehbuch" von 1999. Dämmerung. Am 12. Oktober, also drei Tage, nachdem er die "zweite Milzbrandwelle" verbreitet hatte, erhält der Täter endlich die öffentliche Würdigung, nach der er sich sehnt: Die Zeitungen alarmieren das Land über Briefe mit Milzbrand, die in terroristischer Absicht verschickt werden. Tagsdrauf erscheint ein erschütterter Tom Brokaw vor der Kamera. Er berichtet von der Erkrankung seiner Assistentin und befürchtet, daß sich auch andere Leute in der TV-Station infiziert haben könnten. Vor dem NBC-Gebäude am Rockefeller Center versammeln sich hunderte Verwandte von Mitarbeitern. Als die ersten Postangestellten, zumeist Sortierer, sich mit Milzbrandfieber niederlegen, wird das New Yorker Hauptpostamt mehrere Tage lang geschlossen. Man versucht, das Gebäude zu reinigen. Dann erkrankt das Kleinkind eines Mitarbeiters des TV-Senders ABC. Das Baby überlebt, aber nicht das Sicherheitsgefühl der New Yorker, das ohnehin durch den Anschlag auf das World Trade Center erschüttert war. Sie stürmen Drogerieläden und kaufen Antibiotikavorräte auf. Tausende weigern sich, die Briefe anzunehmen, die ihnen die Briefträger bringen. Die Briefträger tragen Gummihandschuhe und viele zögern, Post herumzutragen. Sie sind mit den Schutzvorkehrungen in den Postämtern unzufrieden. Ihre Gewerkschaft droht mit Streik, bis die Verteilzentren mit Strahlungsgeräten ausgerüstet werden. Sie sollen Viren abtöten. Zunächst glauben viele, daß Osama bin Ladens Mördertruppe einen neuen Schlag gegen Amerika ausführt. Aber die Schreiben enthalten zwei eigenartige Nachrichten, die islamistische Terroristen als Täter ausschließen: es sind Warnungen. In den Briefen an die Medien rät der Täter: "Jetzt Penacilin nehmen," jedoch ohne auf den Inhalt des braunen Pulvers einzugehen, den er in den Umschlag gefüllt hat. In den Briefen an die Senatoren verzichtet er auf den medizinischen Ratschlag, sondern schreibt - zu diesem Zeitpunkt noch frustriert, weil die Behörden die "erste Welle" nicht erkennen - in Großbuchstaben: "Wir haben diesen Milzbrand. Sie werden jetzt sterben. Haben Sie Angst?" Der Täter versucht, den Verdacht auf die Terroristen des 11. September zu lenken und erweckt den Eindruck, als habe ein Ausländer die Briefe geschrieben. (Er schreibt "Penacilin" statt Penicillin, doch benutzt statt "Gott" das arabische "Allah" in den englischsprachigen Briefen.) Islamistische Terroristen wollen Tod über ihre Opfer bringen, dieser Tater jedoch nur Angst. Er will sie infizieren, aber auch retten. Da er offenbar befürchtet, daß die Botschaften in den Briefen nicht begriffen werden, unternimmt er zwei Tage später, am 20. September, eine weitere Fahrt zu einem Briefkasten, diesmal 1.700 Kilometer von Princeton, dem Absendeort der Originalbriefe entfernt. In St. Petersburg, an der Westküste Floridas, verschickt er Briefe mit blindem Alarm an dieselben Adressaten. Am 5. Oktober, also noch eine Woche vor Bekanntwerden des Angriffs, sendet der Täter erneut von St. Petersburg einen Warnbrief an die New York Times. Er füllt diese Briefe mit harmlosem Talcium-Pulver. In den Begleitschreiben erneuert er seine Warnungen. Diese Briefe werden zunächst von den Empfängern ignoriert, dann von der debattierenden Öffentlichkeit. Das Land wird mittlerweile von blinden Alarmen überflutet (die Behörden mußten von Mitte Oktober bis Mitte November über siebentausend falsche Milzbrandbriefe überprüfen). Das FBI untersucht den Falschbrief an die NBC erst, als hier der erste Krankheitsfall auftritt. Zu diesem Zeitpunkt drängt sich den Ermittlern bereits der Eindruck auf, daß der Täter Amerikaner oder Europäer sein könnte. Aber nicht nur der Täter kommt aus dem Westen, sondern auch der Milzbrandvirus. Vom FBI beauftragte Wissenschafter untersuchen die Viren, die in Florida Bob Stevens getötet und Ernesto Blanco geschwächt hatten. Am Tag, bevor Amerika in den Medien von dem Bioangriff erfährt, stellen sie fest, daß die Milzbrandviren zur sogenannten Ames-Familie gehören. Die "Urmutter" dieses Virus wurde 1932 in der Kleinstadt Ames in Iowa einer Kuh entnommen, die an Milzbrand verendet war. Seitdem hatten Wissenschaftler diesen Virus kultiviert, studiert, weitergereicht an andere Forschungslaboratorien bis schließlich ein mächtiger Interessent seine Hand auf das Virus legte, es sich aneignete und begann, es in industrieller Weise zu vermehren: das Verteidigungsministerium in Washington. Die Ames-Familie wurde die Munition für biologische Waffen, die das Pentagon in den sechziger Jahren produzierte. Ende der sechziger Jahre stellte die US-Regierung, internationalen Vereinbarungen folgend, die Produktion der Biowaffen ein und vernichtete 1972 die meisten Virenbestände. Was von der Ames-Familie übrigblieb, wurde für Forschungszwecke aufbewahrt. "Absender unbekannt" - 3. und letzter Teil: Viren im Umkleideraum. Einzeltat oder Teamarbeit? Eine Expertin spekuliert.. Kaufen Sie für 1,50 Euro die gesamte Reportage als PDF-Datei: Click. Infos über PDF-Dateien auf der Seite "die storys": Click. Morgenlicht. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr verblassen die Spuren in der Makrowelt des Milzbrandfalles - die Erinnerung von Zeugen, der Postweg der Briefe, das überprüfbare Leben von "interessanten Personen". In der Mikrowelt der Viren hingegen werden die Spuren immer klarer, je länger die Wissenschaftler das Beweismaterial unter dem Mikroskop betrachten. Sie hatten die Familie der Viren identifiziert und Ende April, Anfang Mai stoßen sie zu den Generationen der Familie vor. Im Institute for Genomic Research (TIGR) in Rockville, Maryland, testen sie die genetische Sequenz der Viren und in der Northern Arizona University in Flagstaff vergleicht das Team des Genforschers Paul Keim diese Sequenz mit den Vireninformationen in ihrer Datenbank. Wenn Viren sich fortpflanzen, verändern sie den genetischen Code der Nachfahren. Diese Veränderung erzählt von der Herkunft, vom Zweig der Ames-Familie und damit vom Ort ihres Wachsens und Werdens. Für die Wissenschaftler in Rockville und Flagstaff besteht wenig Zweifel, daß dieser Ort das Biowaffenlabor in Fort Detrick ist, das USAMRIID, das US Army Medical Research Institute for Infectious Diseases, das einst Steven Hatfill beschäftigte. Doch was gegen Hatfill als belastend wirkt, kann sich auch als entlastend herausstellen. Jetzt, da Medien und Ermittler das USAMRIID neugierig beobachten, kommen Berichte über Schlampereien zu Tage. Die Sicherheitsregeln wurden lässig behandelt, sodaß praktisch jeder Mitarbeiter die Gelegenheit hatte, Milzbrandviren aus der Schutzzone des Labors zu entnehmen. Selbst nach der Milzbrandattacke, zu einem Zeitpunkt, an dem man verschärfte Sicherheitsbemühungen in Militärlabors annehmen dürfte, konnten im USAMRIID Milzbrandsporen entweichen. Ein Angestellter fand sie in Büros, Gängen und im Umkleideraum. Er hatte Tests vorgenommen und es stellt sich heraus, daß er dazu weder befohlen noch authorisiert war. Wer die Milzbrandschränke öffnet, kann nicht ermittelt werden. Wir erahnen Kämpfe, Intrigen und Eifersüchteleien im USAMRIID im Spätsommer des Jahres 2001, wenn wir einen anonymen, an die Militärpolizei im Marinestützpunkt Quantico, Virginia, gerichteten Brief lesen. Er zeigt, daß manche Leute aus der Biowaffenforschung bereit sind, die Karriere von Forschern zu zerstören. In dem Brief wird ein ehemaliger USAMRIID-Wissenschaftler ägyptischer Herkunft, Dr. Ayaad Assaad, beschuldigt, "einen biologischen Angriff zu planen". Er habe das "Motiv und die Mittel dazu." Es gibt keinen Hinweis auf Milzbrand in dem Brief, aber der unbekannte Briefeschreiber kennt sich im Leben von Assaad und in den internen Vorgängen des Instituts gut aus, nennt sogar den Pendlerzug, den Assaad zu benutzen pflegte. Der Brief trifft offenbar Ende September in Quantico ein, also wenige Tage vor dem Tod des ersten Milzbrandopfers (die Behörden verweigern die Auskunft über das Abstempeldatum). Das FBI lädt Assaad Anfang Oktober zu einer Befragung in Washington ein, entlastet ihn, doch als offenbar wird, daß ein Terrorist Amerika mit Milzbrandviren attackiert, erinnern sich nur einige Tageszeitungen an den Brief. Die kanadische Toronto Globe and Mail weiß vom 25. September als Absendetag des Briefes. Assaad hat keine Ahnung, wer ihn diffamiert. Er verließ USAMRIID im Jahre 1997 und erinnert sich an "rassistische Beleidigungen gegen ihn und Kollegen arabischer Herkunft", denen er in Fort Detrick ausgeliefert gewesen sei, berichtet die Toronto Globe and Mail. Die Atmosphäre unter den Top-Forschern muß vergiftet gewesen sein, voller Mißtrauen und Angst, denn die Regierung hatte gegen Mitte der neunziger Jahre das Budget für USAMRIID gekürzt und arbeitete an Entlassungsplänen. Die Ermittlungen in Fort Detrick sind delikat für das FBI, denn die Ermittler dringen in das Reich der Rivalen vor, des Verteidigungsministeriums und seiner Geheimdienste und jetzt wird klar, warum ihre Untersuchungen verzögert und sabotiert werden: Man stößt auf geheime Programme zur Erforschung biologischer Waffen, von denen mindestens zwei öffentlich bekannt werden. Ein Armeelaboratorium im Bundesstaat Utah produziert Milzbrand für den militärischen Einsatz, und an einem anderen, ungenannten Ort, stellen die Militärs "Bomblets" her, Explosivkörper, die biologische Mittel in der Luft verstreuen können, ein Projekt, das gegen Abrüstungsabkommen verstößt. Die Ermittlungsbehörden sind dennoch in der Lage, die Zahl der Personen zu berechnen, die als Täter in Frage kommen. In den letzten fünf Jahren waren rund 200 Leute, Militärs, Regierungsbeamte, Angestellte und Wissenschafter, an dem Milzbrandprogramm beteiligt. Die Zahl verringert sich, wenn man nur solche Personen berücksichtigt, die unmittelbar mit den Viren zu tun haben und wissen, wie sie erzeugt und behandelt werden. Es sind etwa 50 Forscher aus Laboratorien der Armee oder von Pentagon-Vertragsfirmen. Und wenn das FBI solche einkreist, die ein Motiv, Zeit, Gelegenheit und die jährliche Impfung mit speziellen Abwehrstoffen empfangen haben, dürfte die Zahl der Verdächtigen auf weniger als 35 schrumpfen. Die New Yorker Mikrobiologin Barbara Hatch Rosenberg, B-Waffenspezialistin des amerikanischen Wissenschaftlerverbandes "Federation of American Scientists" und Autorin einer Studie über den Milzbrandangriff, glaubt: "Heute sollte das FBI eigentlich eine gute Vorstellung davon haben, wer der Täter ist." Der Täter scheint nicht viel zu tun, um seine Identität zu verschleiern, und nach der Umsicht zu urteilen, mit der er den Angriff ausgeführt hat, scheint er diese Nachlässigkeit mit Absicht zu zeigen. Er unternimmt eine zweite Fahrt zu einem Briefkasten, um Briefe mit "Blindalarm" zu verschicken, nimmt das Risiko auf sich, erkannt zu werden. Warum zeigt er, daß er das geheime Patent kennt? Warum benutzt er Ames-Generationen, die den Weg nach Fort Detrick weisen? Was will er den Ermittlern sagen? Daß sie keine Macht haben, ihn festzunehmen? Daß er geschützt ist, daß ein Schutzschirm aus politischem Einfluß über ihn gespannt ist? Barbara Hatch Rosenberg spekuliert, daß der Täter "wohl nie gefaßt wird," denn er verfüge über Kenntnisse geheimer B-Waffenprogramme, die er in einem Strafverfahren ausbreiten würde. Nach Rosenbergs Analyse war das Ziel seiner Aktion die Erhöhung der Ausgaben für das Biowaffenprogramm. Sie erkennt zwei Gruppen in der Gemeinde der Biowaffenforscher und Militärs: eine Gruppe, die den Angriff verurteilt, eine andere, die "applaudiert." Die letztere stimme sicherlich David Franz, einem ehemaligen USAMRIID-Kommandeur zu, der am 4. April in einem Interview mit der TV-Station ABC sagte, der Milzbrandangriff habe "viel Gutes" bewirkt. "Vom biologischen oder medizinischen Standpunkt aus betrachtet, haben wir nun fünf Leute, die gestorben sind," sagte Franz, "aber wir haben jetzt sechs Milliarden Dollar in unserem Budget zur Verteidigung gegen Bioterrorismus." Gegen Rosenbergs Theorie sprechen die Mechanismen, deren sich das Pentagon bedient, um Budgeterhöhungen in Washington durchzusetzen. Sie haben noch nie versagt. Die Türen der neuen Administration sind offen für Rüstungslobbyisten. Die Bush-Regierung hat nie ein Hehl aus ihrem Plan gemacht hat, die Militärausgaben zu erhöhen. Es bestand also keinen Grund für Militärforscher, um ihre Zukunft zu bangen und eine Verzweiflungstat zu wagen. Verschiedene Wissenschaftler, mit denen Tageszeitungen und Webmedien in den letzten Wochen und Monaten geredet haben, sind übereinstimmend der Auffassung, daß die Milzbrandattacke unmöglich das Werk eines Einzelgängers gewesen sein konnte. Die Washington Post berichtet am 28. Oktober diesen Jahres über die Zweifel einer "bedeutungsvollen Zahl von Wissenschaftlern und Biokriegsexperten" an der FBI-Theorie vom "enttäuschten, einsamen Forscher", der durchgedreht sei und das Todespulver mit Instrumenten für nicht mehr als 2.500 Dollar in seinem Keller fabriziert habe. Ein Biowaffenexperte erklärt unter Wahrung seiner Anonymität, daß es "extrem schwierig ist, zehn Gramm waffenfähigen Milzbrands aus einem Regierungslabor zu stehlen," denn so viel wurde in den sieben Milzbrandbriefen verschickt. Chemieingenieur Richard Flagan vom California Institute of Technology, der die im Pulver verwendeten chemischen Präparate analysiert, schreibt den Tätern eine "Riesenerfahrung und den Besitz einer großen Menge Milzbrandviren"zu. Flagan: "Ein Material mit so feinen Partikeln entsteht erst in vielen Experimenten." Er schätzt, daß dafür Instrumente im Werte von mehreren hunderttausend Dollar notwendig sind. Und Richard Spertzel, zwischen 1994 und 1998 UN-Chefinspektor für biologische Waffen, rechnet mit einer Entwicklungszeit von einem Jahr, um ein Pulver von der Qualität des Briefmilzbrandes herzustellen - vorausgesetzt, ein Team von Spezialisten arbeitet daran in einem guten Laboratorium. Spertzel fordert, die Ermittler müßten zur Ursprungsidee zurückkehren. Nur ein Staat könnte den Angriff ausgeführt haben. Er weist auf das Ausland, womöglich auf den Irak, aber was hält ihn davon ab, die Suche im Inland zu beginnen? Wenn eine Gruppe von amerikanischen Wissenschaftlern den Milzbrand hergestellt hat, dann nicht ohne die Deckung durch höhere Stellen in der Hierarchie der Militärforschung. Hinter geschlossenen Türen scheint das FBI die "Gruppentheorie" zu erörtern. Anfang August erhielt Bioforscherin Rosenberg Besuch von FBI-Beamten. Sie wollten von ihr wissen, ob es denkbar wäre, daß Militärwissenschaftler versuchen, Steven Hatfill, der "interessanten Person" eine Falle zu stellen. "Sie wiederholten diese Frage immer wieder, nämlich, ob es eine Gruppe im Militär gebe, die Hatfill eine Schuld an den Milzbrandanschlägen anhängen will," erzählt Rosenberg. Das Pentagon ist ein Staat im Staate, eine Bürokratie mit zehntausenden Mitarbeitern, hunderten Interessen und einer unbekannten Anzahl geheimer Biowaffen-Forschungsprojekte. Tausende Vertragsfirmen nähren sich an der Brust des Pentagon, und hunderte hohe Beamte der Bush-Administration haben familienähnliche Bande zum Militär. Gibt es in der Regierung Debatten über die künftige Rolle des Pentagon in einer Welt ohne nennenwerte Gegenmacht? Sicherlich. Gibt es Fraktionen? Denkbar. Gibt es Geheimbünde, geheime Organisationen innerhalb des Pentagon, innerhalb der Administration mit einem eigenen Programm und der Bereitschaft, ihre Ziele mit verbrecherischen Methoden durchzusetzen? Vielleicht. Nachgewiesen wurden sie bislang noch nicht. Wir erinnern uns an die Frustration unter Generälen und Pentagonbeamten über die geringe Lust der Clinton-Administration, militärische Lösungen für die Probleme der Welt zu suchen. Viele glaubten, Clinton habe versäumt, nach dem Ende des Kalten Krieges eine neue Doktrin aufzustellen: Amerika ist nun die mächtigste Nation der Welt und für viele Konservative tat Amerika zu wenig, um diese Macht zu genießen, und zu viel, um sie mit der internationalen Staatengemeinschaft zu teilen. Die Bush-Regierung beginnt nun, die Wünsche der Kritiker zu erfüllen, wie Bioexpertin Rosenberg in der Los Angeles Times berichtete. Sie hatte vor einigen Wochen an einem informellen Diplomatentreffen in Genf teilgenommen. Die Diplomaten bereiteten eine Konferenz der Biowaffenkonvention im November vor, auf der die Unterzeichnerstaaten eine Strategie gegen terroristische B-Waffenbedrohung ausarbeiten sollen. Sie waren überrascht, als die Vereinigten Staaten vorschlug, die für zwei Wochen geplante Konferenz auf einen Tag zu reduzieren und nichts anderes zu vereinbaren als ein weiteres Treffen im Jahre 2006 oder danach. "Für die Diplomaten war es schwierig zu begreifen, warum ein Land, das ein Opfer von Bioterrorismus gewesen ist, die Bemühungen für den Kampf gegen Bioterrorismus behindern sollte," schrieb Rosenberg. Sie glaubt, die Regierung ist nicht mehr daran interessiert, B-Waffen zu bannen, während das Milzbrandrätsel ungelöst und die Namen der Täter unbekannt sind. Für die Wissenschaftlerin beginnt in der militärischen Welt Amerikas nun eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen und Entscheidungen: Als Reaktion auf die Milzbrandangriffe wird die Forschung für Biowaffenabwehr aufgebläht, hunderte Wissenschaftler strömen zu den neuen Laboratorien, die von Vertragsfirmen eröffnet werden. Neue Virenkulturen werden erzeugt und mit ihnen neue Risiken, lasche Sicherheit, mangelnde Aufsicht, übereifrige Forscher, die jede Vorsicht fahren lassen; neugierige Geheimdienstler fremder Länder oder getarnte Terroristen tauchen auf, die gutes Geld für Virenproben zahlen. "Das Problem, das die Milzbrandangriffe ermöglichte," befürchtet Rosenberg, "wird am Ende nicht gelöst, sondern vergrößert." Der Beitrag ist im November 2002 in drei Teilen in der deutschsprachigen New Yorker Internetzeitung "springwords" erschienen (www.springwords.com). Der Autor des Artikels ist auch der Herausgeber der Zeitung.




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