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"Gedenktage sind ohne Sinn, wenn sie nicht in die Gegenwart und Zukunft hineinwirken"

Rede von Professor Moritz Mebel, Moskau, anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung

Am 7. Mai 2005 fand in der Humboldt-Universität Berlin eine festliche Veranstaltung der GBM (Gesellschaft zum Schutz der Bürgerrechte und Menschenrechte) zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus statt. Wir dokumentieren die Rede von Professor Moritz Mebel, der über seinen Weg in der Roten Armee von Moskau bis nach Deutschland sprach. Es ist eine Sichtweise, die sich sehr stark unterscheidet von den Gedenkansprachen, wie sie am selben Wochenende bei zahlreichen offiziellen Veranstaltungen gehalten wurden.



Noch heute kann ich mich an den 14. Oktober 1941 erinnern. Es war am frühen Morgen. Im Kommuniqué der Nachrichtenagentur Sowinformbüro hieß es, daß sich die Lage an der Westfront weiter verschlechtert hat.

Den deutsch-faschistischen Verbänden sei es gelungen, unsere Verteidigung bei Moshaisk (etwa 120 Kilometer westlich von Moskau) zu durchbrechen und ihren Angriff in Richtung Moskau weiter vorzutragen. Der Hauptstadt der Sowjetunion drohe eine tödliche Gefahr. Ich fuhr sofort ins Institut. An der Tür des Konsomolkomitees hing ein Zettel: »Bitte im Kreiskomitee des Stadtbezirks melden«. Dort erfuhr ich, daß in allen Stadtbezirken Kommunistische Arbeiterbataillone aus Freiwilligen, unabhängig ob Kommunist, Komsomolze oder parteilos, zur Verteidigung Moskaus aufgestellt werden. Ich trug mich in eine der ausliegenden Listen ein. Zu Hause wurde mein Entschluß gebilligt. Am nächsten Morgen meldete ich mich im Sammelpunkt. Eine notdürftige militärische Ausbildung begann. Nach einer Woche ging es im Eilmarsch in Richtung Wolokolamsker Chaussee.

Etwa 30 Kilometer vor Moskau bezogen wir Stellung. Es war bitterkalt und wir hatten keine Winterkleidung. Unsere Bewaffnung – Vorderlader aus dem 19. Jahrhundert. Die 3. Moskauer Kommunistische Infanteriedivision, in der die Arbeiterbataillone zusammengefaßt worden waren, erhielt den Kampfauftrag, die unmittelbar nach Moskau führenden Straßen zu sichern. Vor uns waren reguläre Einheiten der Roten Armee, der Panfilow-Division, in schwere verlustreiche Kämpfe mit der faschistischen Wehrmacht verwickelt. Jedoch gelang es ihr nicht, unsere Verteidigungslinie zu durchbrechen. So begann für mich, den achtzehnjährigen Studenten, der mit seinen Eltern 1932 aus Erfurt nach Moskau emigriert war, der freiwillige Fronteinsatz.

Greueltaten der Wehrmacht

Am 8. November gingen wir zum Angriff über und schlugen gemeinsam mit anderen Einheiten der Roten Armee die deutsch-faschistischen Truppen etwa 100 Kilometer zurück. Die von uns befreiten Gebiete boten einen schrecklichen Anblick. In Istra am See, wo ich vor einigen Jahren mit meinen Freunden wanderte und zeltete, niedergebrannte Häuser, umgebrachte kleine Kinder im Ziehbrunnen...

Unglaublich, unvorstellbar. Jetzt sahen wir die Greueltaten der Hitlerwehrmacht mit eigenen Augen.

Im Februar 1942 wurde unsere Infanteriedivision an der Nord-West-Front eingesetzt. Zu dieser Zeit hatten wir bereits richtige Gewehre, Wattejacken‚ Wattehosen, warme Unterwäsche sowie Filzstiefel. Vor eisiger Kälte und Wind konnte man kaum atmen (es waren minus 42 Grad). Wir erhielten den Befehl, das Dorf Pawlowo wieder einzunehmen. Es war zuvor von einer anderen Einheit gestürmt worden, mußte aber unter großen Verlusten wieder aufgegeben werden. Vor uns tiefer Schnee, kein Hügel, der Deckung bot. Mit »Hurra« stampften wir im Schnee vorwärts, einige blieben liegen – tot oder verwundet. Plötzlich wurde es still, kein Schuß fiel mehr. Wir hatten das Dorf, die brennenden Trümmer, eingenommen. Der Feind war geflohen. In einer bunkerartigen Erdhütte fanden wir die Leiche des Regimentskommissars. Er lehnte an der Wand, seine beiden Unterarme waren verkohlt. Vor ihrem Rückzug hatten ihn die Nazisoldaten angebrannt. Leichen von Rotarmisten lagen auf dem hartgefrorenen Boden. Wir trugen sie zusammen. Wie ein Magnet zogen uns die wärmenden, brennenden Häusertrümmer an.

Bald schlugen wieder deutsche Granaten in unserer Nähe ein. Schleunigst bezogen wir Verteidigungsstellungen am Dorfrand. Am nächsten Morgen stießen wir auf das Dorf Butirkino vor und nahmen es ohne Verluste ein. Im Stillen hoffte jeder von uns, daß es so weitergehen möge. Jedoch das war ein großer Irrtum.

Lautsprecher an der Front

Mittlerweile war ich schon nicht mehr bei meiner Kompanie. 180 Mann zählten wir vor Moskau. Drei davon waren noch im Einsatz, darunter auch ich. Die meisten waren gefallen oder schwer verwundet.

Im März 1942 formierte das Oberkommando hinter der Front eine neue, die 53. Armee. Der Rotarmist Moritz Mebel, seine guten Deutschkenntnisse waren bekannt, wurde in die 7. Abteilung versetzt. Die Aufgabe dieser Abteilung bestand darin, die vor uns liegenden Wehrmachtssoldaten über den verbrecherischen Krieg, den sie führten, aufzuklären. Ende März 1943 befand sich die 53. Armee östlich vom Kursker Bogen im relativ ruhigen Hinterland. Es trafen neue Verbände der Roten Armee ein. Alle Einheiten erhielten moderne Kampftechnik. Die Stimmung war gut. Der Sieg bei Stalingrad hatte das militärische Können der Roten Armee für Freund und Feind eindrucksvoll demonstriert. Jedoch stand die faschistische Wehrmacht noch tief im Sowjetland, und die zweite Front in Westeuropa ließ immer noch auf sich warten.

Am 5. Juli begann die Schlacht am Kursker Bogen. In verlustreichen Kämpfen beiderseits konnten die faschistischen Verbände zum Rückzug gezwungen werden. Die von uns befreiten Gebiete waren größtenteils von den zurückweichenden deutschen Truppen verwüstet. Frauen und Mädchen durch die faschistischen Besatzer zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt oder auch in Wehrmachtsbordelle hinter der Front verbracht.

Vor uns der Dnepr. Sein westliches Ufer lag bedeutend höher als das östliche. Am westlichen Ufer hatte die Wehrmacht eine neue Verteidigungslinie aufgebaut – den Ostwall. Um den Vormarsch der Roten Armee zu stoppen, wurde vor dem Dnjepr ein etwa 100 Kilometer breites und tiefes Gebiet total verwüstet: Zone der verbrannten Erde. Noch vorhandene Dorfbewohner, meistens alte Frauen und Männer, Invaliden und Kinder, wurden in Scheunen getrieben und angezündet‚ verbliebene Häuser abgefackelt. Nicht nur SS-Schergen haben diese Greueltaten begangen, sondern auch andere Angehörige der Wehrmacht. Am Leben gebliebene Einwohner, die flüchten konnten, haben das ausgesagt.

Nach schweren Kämpfen konnte von unseren Truppen am westlichen Ufer ein Brückenkopf errichtet werden. Ich erhielt den Befehl, im Brückenkopf zu erkunden, ob man dort mit einer Graben-Lautsprecheranlage zu den vor uns liegenden Wehrmachtstruppen sprechen könne. In einem Schlauchboot, beladen mit Munition für den Brückenkopf, mußte ich übersetzen. Keiner in unserer Abteilung wußte, daß ich nicht schwimmen konnte. Der Feind belegte den breiten Fluß ständig mit Feuer. Das Glück war mir hold, ich kam heil zurück. Zum Lautsprechereinsatz kam es nicht mehr. Unsere Truppen überwanden auf breiter Front den Dnepr.

Der Weg nach Westen

Zu dieser Zeit befand sich ein Vertreter des Nationalkomitees Freies Deutschland in unserer Armee. Er war Leutnant in der Wehrmacht und in Gefangenschaft geraten. Ihm lag daran, das Blutvergießen zu beenden. Bei einer seiner Übertragungen‚ ich war ganz plötzlich erkrankt und er vertrat mich, schlug eine deutsche Granate neben dem Lautsprecherwagen ein. Unser gefangener Leutnant wurde schwer verwundet.

Für uns war sein Ausscheiden ein großer Verlust. Seine Worte regten zum Nachdenken an: »Was haben die Deutschen in einem fremden Land verloren?« – »Es stimmt nicht, daß die Rote Armee keine deutschen Soldaten gefangen nimmt, sondern sofort erschießt.«

Am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie. Endlich war die seit langem versprochene zweite Front eine Tatsache geworden. Eine sehr erfreuliche Nachricht. Über die Erfolge der Alliierten haben wir unsere Gegner sofort informiert

Im weiteren Verlauf nahmen die Einheiten unserer Armee an der Liquidierung bzw. Gefangennahme der deutschen Truppen teil, die bei Korsun-Schewtschenko eingekesselt waren. Hier wäre ich beinah unserem Feind in die Hände gefallen. Ein ausgebrochener deutscher Truppenteil hatte für kurze Zeit die Straße besetzt, auf der ich mich in unserem Lautsprecherwagen auf dem Weg zu einem neuen Einsatzort befand. Wir ahnten nichts Böses, galt doch die Straße als feindfrei. Kurz vor unserem Eintreffen hatten die deutschen Soldaten die Straße geräumt, und wir passierten ungehindert. Zehn Minuten früher und wir wären dem Feind in die Hände geraten. Für mich ein qualvoller Tod: Als deutscher Jude und Politoffizier in der Roten Armee! Gab es doch den berüchtigten Kommissarerlaß Hitlers, den alle Wehrmachtsangehörigen von Anfang an befolgten: Politoffiziere und Juden waren sofort zu erschießen. Für mich stand fest, lieber selbst eine Kugel in den Kopf jagen, aber nicht den Deutschen in die Hände fallen. Hauptsache, man hat noch Zeit dazu.

In Moldawien, in der Stadt Balta, die wir befreiten, gab es noch ein Ghetto. Auf den Straßen und Gassen lagen Leichen von erschossenen Juden, darunter Kinder. Die Überlebenden erzählten uns, daß kurz vor ihrer Flucht deutsche Feldgendarmerie und SS im Ghetto gewütet hatten. Am 20. August forcierten Einheiten unserer Armee den Grenzfluß Prut und drangen auf das Territorium Rumäniens vor. Die rumänische Armee leistete kaum Widerstand.

Das pronazistische Rumänien, vormals ein Königreich, wurde von General Antonescu diktatorisch regiert. Die Königsfamilie hatte nur begrenzte Bewegungsfreiheit und nichts zu sagen, deshalb konspirierte der Königssohn Mihai mit Vertretern der illegalen Kommunistischen Partei Rumäniens, um Antonescu zu stürzen. Mitte August 1944, als Antonescu von einem Treffen mit Hitler zurückkehrte und sich bei Mihai meldete, wurde er von Kommunisten verhaftet. In Bukarest kam es zu einem Aufstand, die Rote Armee stand vor den Toren der Hauptstadt. Sie wurde ohne Blutvergießen von unseren Truppen besetzt.

In Rumänien hatte ich den Befehl erhalten, mit dem Lautsprecherauto von Ploesti nach Bukarest zu fahren. Die Chaussee war noch gut in Schuß, es ging zügig voran. Lediglich an einem riesigen Weingut hielten wir an. Im Weinkeller stand uns das edle Getränk bis an die Knöchel. Es tat uns leid. Aus durchlöcherten Fässern lief der Wein auf den Boden. Aus den noch heilen Fässern füllten wir unsere zwei Kanister, die nicht nach Benzin rochen. Am 2. September gegen Abend kamen wir in Bukarest an.

Nachdem sich Rumänien der Antihitlerkoalition angeschlossen hatte, verließen wir Bukarest. Am 7. Oktober überquerten wir die ungarische Staatsgrenze. Schwere Kämpfe mußten ausgetragen werden. In der Stadt Balassagyrmat bezogen wir Quartier. Es war relativ ruhig. Mit gutem Essen, ungarischen Wein und Wodka konnte ein paar Stunden Silvester gefeiert werden. Das Jahr 1945 war angebrochen.

Kapitulation Hitlerdeutschlands

In Debrecen hatte sich eine Übergangsregierung aus Antifaschisten gebildet. Wir unterstützten sie beim Aufbau einer neuen ungarischen Selbstverwaltung. Nach der Einnahme von Pest standen unsere Einheiten an der Donau. Die von Johann Strauß besungene Donau war weder blau, noch erschien sie uns schön. Der breite Fluß stellte ein schwer zu forcierendes Hindernis dar. Der Feind hatte alle Brücken gesprengt. Die ungarischen und deutschen Faschisten kämpften verbissen. Schließlich gelang es den Einheiten der Roten Armee, die Donau unterhalb von Budapest zu überwinden und den Gegner in die Flucht zu schlagen.

Inzwischen war unsere 53. Armee weiter vorgedrungen und befand sich Ende März in der Slowakei. Immer häufiger verließen Wehrmachtseinheiten im Schutz der Nacht bzw. des Morgengrauens ihre Stellungen, um den Angriffen unserer Truppen zu entgehen und sich westwärts abzusetzen. Mitunter hatten wir Schwierigkeiten, den flüchtenden Gegner einzuholen. Am 31. März, bei der Einnahme der Stadt Nitra, wurde ich in der Nähe des Rathauses durch eine Handgranate verwundet. Wieder mal hatte ich Glück, wie sich im Feldlazarett herausstellen sollte. Der Splitter saß unmittelbar neben der Wirbelsäule, dort befindet er sich heute noch.

In der Slowakei kamen unsere Truppen schnell voran. Der Aufstand und die Kämpfe der slowakischen Partisanen gegen das Tiso-Regime von Hitlers Gnaden waren erfolgreich. Am 1. Mai meldete Radio London, daß Hitler sich erschossen hat. Die schweren Kämpfe um und in Berlin ließen hoffen, daß das Ende Hitlerdeutschlands nicht mehr weit war. Jeder von uns hätte den Sieg über die Hitlerbarbarei gern erlebt. Jedoch – noch war Krieg.

Im Morgengrauen des 8. Mai wurden wir zum Chef der Politabteilung unserer Armee, Oberst Martynow, befohlen. Ich war damals Instrukteur der 7. Abteilung, mein Dienstgrad Gardeoberleutnant. Martynow teilte uns mit, daß vom Stab der 2. Ukrainischen Front die Nachricht eingetroffen sei, daß Hitlerdeutschland vor den Alliierten bedingungslos kapituliert hat. Die Kampfhandlungen müßten ab 12 Uhr des heutigen Tages an allen Fronten eingestellt werden. Unser Stab befand sich unweit von Vyskow, etwa 50 Kilometer östlich von Brno. Vor uns waren Truppen der Heeresgruppe Südost, die kämpfend versuchten, sich so schnell wie möglich von den sowjetischen Truppen in westlicher Richtung abzusetzen. Merkwürdig, die so lange ersehnte Nachricht über die Kapitulation löste keinen Jubel aus. Noch wurde geschossen! Wir mußten versuchen, mit dem Lautsprecherwagen an die zurückweichenden Wehrmachtseinheiten heranzukommen, um sie über die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands zu unterrichten.

An unseren Standort zurückgekehrt, stellte sich heraus, daß die deutschen Einheiten der Heeresgrupe Südost an unserem Abschnitt weiter kämpften. Generalfeldmarschall Schörner hatte befohlen, nicht zu kapitulieren. Zur gleichen Zeit, wie wir später erfuhren, bestieg er auf dem Flugplatz in Nemecky Brod sein Flugzeug und ward nicht mehr gesehen.

Erst in der Nacht zum 11. Mai stellten die letzten Wehrmachtseinheiten an unserem Abschnitt ihre Kampfhandlungen ein – drei Tage nach der offiziellen Kapitulation Hitlerdeutschlands. Nunmehr war auch für uns die Zeit gekommen, mit einer ordentlichen Portion Wodka auf den Sieg und die Befreiung der Völker Europas vom Faschismus anzustoßen.

Der Krieg geht weiter

Ich konnte es kaum fassen, seit dem 14. Oktober 1941 im Fronteinsatz und noch am Leben; außerdem waren meine Einheiten kein einziges Mal vor dem Feind zurückgewichen. Es ging seit Moskau immer nur vorwärts. Jetzt hatte ich nur einen Wunsch, so schnell wie möglich demobilisiert zu werden, um mein Medizinstudium in Moskau fortzusetzen. Doch es sollte anders kommen.

Anfang Juni 1945 wurde unsere Armee in Züge verladen, und ab ging es in Richtung Osten. Am 9. Juni hielten wir auf dem Hauptbahnhof in Dresden, ein Foto erinnerte mich daran. Ein erschütternder Anblick: Trümmer, soweit das Auge reichte. Mitleid kam in mir auf. Doch erinnerte ich mich an die Vernichtung von Coventry durch die deutsche Luftwaffe und die Worte Görings: »coventrieren – ausradieren«, an das Bombeninferno von Rotterdam, Warschau, Minsk, Leningrad. In dieser Stadt wurden allein im ersten Jahr nach Kriegsbeginn, durch Einkesselung und Bombenhagel, eine Million Menschen umgebracht.

Wir fuhren weiter. Unterwegs teilte man uns mit, daß es in die Mongolei geht. Getreu ihren Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten, erklärte die Sowjetunion am 8. August 1945 Japan den Krieg. Die 53. Armee wurde an der 1. Sabaikalischen Front eingesetzt. Zeitgleich erhielt ich den Befehl, mich in der Kaderabteilung des Nordwestlichen Militärbezirks in Nowosibirsk zu melden. Hier teilte mir der Chef, Oberstleutnant Baranow, mit, daß ich als Instrukteur in einem der Lager für japanische Kriegsgefangene, die demnächst eintreffen, eingesetzt werde. Auf meine Bemerkung: »Ich bin der deutschen Sprache mächtig, Japanisch kann ich nicht«, kam eine unerwartete Antwort. Beides seien doch Fremdsprachen, und ich hätte ja genügend Erfahrung im Umgang mit Kriegsgefangenen

Am 2. September kapitulierte Japan. In Nowosibirsk warteten wir vergebens auf Kriegsgefangene. Meiner Bitte, mich zu demobilisieren, wurde jedoch nicht stattgegeben. Im November erhielt ich den Befehl, mich in der Militärverwaltung der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in der politischen Abteilung im Regierungsbezirk Halle-Merseburg zu melden. Während meiner zweijährigen Tätigkeit von November 1945 bis März 1947 bestand eine unserer Hauptaufgaben darin zu helfen, damit die von außen gekommene Befreiung von Krieg und Faschismus nunmehr von der Bevölkerung verinnerlicht wird. Ein schwieriger, langwieriger Prozeß!

Es war und ist eine bittere Tatsache, die wir unterschätzt haben, daß mit der Niederlage Hitlerdeutschlands die Naziideologie nicht verschwunden ist.

Gedenktage sind ohne Sinn, wenn sie nicht in die Gegenwart und Zukunft hineinwirken.

Vergiß’ die Vergangenheit nicht, sie ist die Lehre für die Gegenwart und Zukunft!

Das Gegenteil erleben wir derzeit, wenn es um die historische Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung Hitlerdeutschlands und die Befreiung der Völker Europas vom Faschismus geht. Insbesondere seit Juni 2004 wird in Massenmedien und durch Äußerungen von Politikern suggeriert, daß die Befreiung der Völker Westeuropas vom Faschismus allein durch die Landung der Westalliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie vollzogen wurde. Zu diesem Zeitpunkt stand die Rote Armee an der Weichsel. Im Januar 1945 hatte Winston Churchill in einem Telegramm Stalin ersucht, die für Anfang Februar vorgesehene Offensive der Roten Armee vorzuziehen, um die Westverbündeten in den Ardennen von der Offensive der Wehrmacht zu entlasten. Das geschah. Am 5. April 1945 stellte Churchill im Zusammenhang mit der Niederlage der deutschen Armeen an der Westfront fest: »Die Tatsache, daß sie (die Wehrmacht) im Westen an Landtruppen zahlenmäßig unterlegen waren, ist den glänzenden Angriffen und der Wucht der sowjetischen Armeen zu verdanken.«

Ein weiterer gefährlicher Aspekt der Geschichtsklitterung besteht darin, daß man den Menschen suggeriert, daß Opfer gleich Opfer seien. Die Leiden der fliehenden und vertriebenen Deutschen aus den befreiten Ostgebieten, vergewaltigte deutsche Frauen, zerbombte deutsche Städte seien nicht etwa die Folgen des von Hitlerdeutschland entfesselten Zweiten Weltkriegs. Auch wird verschwiegen, daß von Kommandostellen der Roten Armee gegen Gewalttaten von Angehörigen der Armee hart durchgegriffen wurde. Es sei nur an die Befehle von Generaloberst Bersarin erinnert.

Und was verlangte Hitler in seinem Angriffsbefehl gegen die Sowjetunion von der deutschen Wehrmacht: Die Untermenschen, Teufel und bolschewistischen Verbrecher zu bekämpfen und zu töten. Dieser Befehl wurde von Wehrmachtsoffizieren bekanntgegeben.

Gegen Geschichtsklitterung

Deutschtümelei, neofaschistisches Gedankengut betritt in unterschiedlichen Erscheinungsformen die politische Szene. Neonazis verfügen über neue Organisationsstrukturen und Parteien. Im Freistaat Sachsen und im Land Brandenburg sind sie bereits im Parlament. Der jüngste Auftrieb der Neonazis mit ihren nationalistischen, ausländerfeindlichen Parolen ist nicht zuletzt der Massenarbeitslosigkeit und der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich in unserem Land geschuldet. Perspektivlosigkeit besonders für junge Menschen ist ein fruchtbarer Boden für neofaschistische Parolen. Wir kennen das aus den Jahren 1930 bis 1933.

Da widerspricht es angeblich dem Verfassungsgebot der BRD, neofaschistische Demonstrationen und Veranstaltungen zu verbieten. Es ist meine tiefe Überzeugung, die von vielen Menschen in und außerhalb Deutschlands geteilt wird, daß ein gesetzliches Verbot dem Demokratieverständnis entspricht. Das schulden wir den mehr als 45 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg allein in Europa. Das verlangen von uns 18 Millionen Menschen aus verschiedenen Ländern, die durch die faschistischen KZ und Vernichtungslager gegangen sind, von denen elf Millionen bestialisch ermordet wurden. Das schulden wir den 200 000 ermordeten Widerstandskämpfern gegen das Naziregime in Hitlerdeutschland.

Es bleibt eine unumstößliche Tatsache, daß dank dem Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland, über die faschistischen Aggressoren, die Völker Europas, aber auch anderer Kontinente, vom Absturz der menschlichen Zivilisation in die schlimmste Barbarei gerettet wurden. Den höchsten Blutzoll für diesen Sieg und die Befreiung vom Faschismus mußten die Völker der Sowjetunion zahlen!

Die Rede wurde veröffentlicht am 9., Mai 2005 in der Tageszeitung "junge Welt" unter dem Titel: "Tödliche Gefahr".


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