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"Wir feiern den Tag des Sieges"

Interview. Vladimir V. Kotenev, Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik, über die Bedeutung des 8./9. Mai 1945, Erinnnerungspolitik und aktuelle Versuche, die Geschichte umzuschreiben


Frage: Der »Tag der Befreiung« vom Faschismus und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich 2010 zum 65. Mal. Welche Bedeutung hat dieses Datum im heutigen Rußland?

Kotenev: Bei uns heißt dieses Ereignis »Tag des Sieges« und wird am 9. Mai gefeiert. Es ist wohl der einzige Feiertag, der für die allermeisten Menschen in Rußland unabhängig von Alter oder politischen Überzeugungen gleichermaßen bedeutend ist. Für uns ist das auf jeden Fall ein heiliger Tag. Denn es wird viel mehr als ein gewonnener Krieg gefeiert. Es geht um die Wiedergeburt einer Nation. Einer Nation, der das Existenzrecht abgesprochen wurde, die dieses Recht aber für sich und andere Völker Europas verteidigte und dafür Millionen Opfer erbrachte.

Es war der »Krieg der Kriege« im 20. Jahrhundert, in der Sowjetunion sind 27 Millionen Menschen getötet worden. Sie starben an den Fronten, wurden von den »Einsatzgruppen« der SS ermordet oder sind verhungert, wie fast eine Million Bürger im belagerten Leningrad.

Die Erinnerung an diese Schrecken ist sehr lebendig, denn praktisch jede Familie hat ein Mitglied verloren. Es gibt Menschen, deren sämtliche Angehörige von den Faschisten ausgelöscht wurden. Valentin Falin zum Beispiel, der ehemalige sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik, hat mir erzählt, daß alle seine Angehörigen mütterlicherseits und seine Familie väterlicherseits bestialisch getötet wurden.

Das menschliche Gedächtnis fixiert solche Ereignisse sehr genau. Weil wir Slawen sind, Russen, Ukrainer und andere, sollten wir ausgerottet werden. Das war wirklich ein Kampf ums Überleben – und diesen Kampf haben unsere Großväter und Großmütter gewonnen.

Der »Tag des Sieges« war auch ein verbindendes Element zwischen den vielen Nationen in der Sowjetunion. Und wir sind immer noch ein Land mit über 150 Nationalitäten. Dieses Ereignis von welthistorischer Tragweite hält die Menschen weiterhin zusammen. Das ist ganz wichtig für uns. Deswegen hat die Parade auf dem Roten Platz auch nichts mit Säbelrasseln zu tun. Das wird im Westen gelegentlich so wahrgenommen: Die Russen kommen wieder als Militärgroßmacht daher oder dergleichen. Nein, überhaupt nicht. Es geht um die Nachstellung der damaligen Ereignisse. Die Parade wird natürlich auch zu Ehren der noch lebenden Kriegsveteranen veranstaltet – ihre Zahl wird leider mit jedem Tag geringer.

In der Botschaft der Russischen Föderation wurden am 5. Februar vier deutsche Antifaschisten durch Außenminister Sergej Lawrow mit hohen Auszeichnungen Ihres Landes geehrt. Sie haben an der Zeremonie teilgenommen. Was empfinden Sie persönlich, wenn Sie Veteranen wie den Genannten begegnen?

Unser Außenminister hat vier Deutschen, die gegen Hitler in den Reihen der Sowjetarmee kämpften – dem inzwischen verstorbenen Stefan Doernberg sowie Hanna Podymachina, Moritz Mebel und Fritz Straube – die Medaille »Zum 65.Jahrestag des Sieges« und die Auszeichnung des Außenministeriums »Für den Beitrag zur internationalen Kooperation« verliehen. Wenn ich Menschen wie diesen persönlich begegne – und das geschieht häufig, denn sie sind willkommene Gäste in der Botschaft – kann ich nichts anderes als höchsten Respekt, Bewunderung und Dankbarkeit empfinden. Sie haben wirklich unvorstellbare Entbehrungen auf sich genommen, die Schlachten waren ungeheuer brutal. Keiner wußte damals, ob die sowjetischen Truppen siegen würden. Oft waren sie in der Unterzahl, schlechter ausgerüstet, schlechter ernährt auf jeden Fall. Ohne den Einsatz ihres Lebens würden wir heute in einer ganz anderen Welt leben, wenn wir denn überhaupt lebten.

Stefan Doernberg habe ich in den sechs Jahren meiner Botschaftertätigkeit in Berlin sehr gut kennengelernt und regelrecht ins Herz geschlossen. Wir sind einander schon zu meiner DDR-Zeit kurz begegnet. Ich war damals ein junger Diplomat, er ein angesehener Historiker und Botschafter der DDR. Er war ein wunderbarer Mensch, sein Tod ist ein großer Verlust für uns alle.

Anfang des Jahres erkundigte sich die russische Botschaft bei der Regierung Brandenburgs nach dem Zustand von sowjetischen Kriegsgräbern und Gedenkstätten in dem Bundesland. Gab es konkrete Gründe für diesen Schritt? Wie waren die Reaktionen?

Es ist üblich, daß die Mitarbeiter der russischen Botschaft und der Generalkonsulate vor dem 8./9. Mai zusammen mit den lokalen deutschen Behörden den Zustand von sowjetischen Kriegsgräbern und Gedenkstätten auf deutschem Boden kontrollieren. Ihre Anzahl, besonders im Osten Deutschlands, ist aber so hoch, daß die Botschaftsmitarbeiter nicht alle persönlich besichtigen können. Allein in Brandenburg sind es über 300 – dort, auf dem Weg nach Berlin, fanden ja im Frühjahr 1945 die schwersten Kämpfe statt. Daher haben wir die Landesregierung Brandenburg um eine Bestandsaufnahme gebeten. Eine Antwort auf unsere Anfrage erwarten wir in Kürze.

In der deutschen Medienberichterstattung fällt auf, daß die Eröffnung der Zweiten Front, die Landung der Westalliierten in der Normandie, als eigentlicher Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg dargestellt wird. Wie beurteilen Sie diese Sicht der Dinge?

Der »D-Day« war zweifelsohne ein wichtiges Ereignis des Zweiten Weltkriegs. Dessen Ausgang war zu jenem Zeitpunkt aber bereits entschieden. So sahen es übrigens auch die Westalliierten. US-Präsident Franklin D. Roosevelt schrieb bereits Ende 1943: »Wenn es in Rußland so weitergeht, dann ist es gut möglich, daß im nächsten Frühling die zweite Front gar nicht nötig sein wird«.

Es gibt unterschiedliche Meinungen dazu, welche Schlacht den eigentlichen Wendepunkt des Kriegs in Europa markierte. Auf jeden Fall wurde sie aber an der Ostfront geschlagen. Damit mir keine Voreingenommenheit unterstellt wird, könnte ich mich hier auf die Einschätzungen der Vertreter der Westalliierten beziehen. So bezeichnete der damalige amerikanische Generalstabs­chef George Marshall bereits im Dezember 1941 die Schlacht bei Moskau als »den Wendepunkt des gesamten Krieges«. Nach der Überzeugung der prominenten amerikanischen Militärhistoriker David Glantz und Jonathan House war dies die Schlacht bei Kursk im Juli 1943. Aber die vorherrschende Meinung ist, daß sich die unumkehrbare Wende im Kriegsverlauf im Februar 1943 vollzogen hat, als die Schlacht bei Stalingrad geschlagen wurde.

Fakt ist, daß die größte Anzahl der Wehrmacht-Verbände an der Ostfront eingesetzt wurde. Dort hat Hitler auch die schwersten Verluste erlitten, dort wurde der Krieg entschieden.

Das sowjetische Volk hat damals große Hoffnungen in die zweite Front gesetzt. Stalin und die gesamte Führung der UdSSR haben die Westalliierten immer wieder gepuscht: Macht das bitte, wir brauchen das – aber der Westen hat gezögert. Erst als ganz klar war, daß der Krieg auch ohne diese zweite Front entschieden wird, haben sie die Offensive gestartet, nach drei Jahren. Das war für viele Menschen, insbesondere für die sowjetischen Offiziere und Soldaten, sehr bitter. Aber auch den Beitrag der Westalliierten wollen wir und dürfen wir nicht schmälern. So erinnert sich unser Volk mit Dankbarkeit an die »arktischen Konvois«, die uns, stets den Angriffen der deutschen U-Boote ausgesetzt, unter unvorstellbaren klimatischen Bedingungen Kriegsgerät und Lebensmittel lieferten. Mein Amtskollege in London hat auch an britische Veteranen Auszeichnungen verliehen, die Hilfslieferungen nach Murmansk im Norden Rußlands gebracht haben. Es gibt dort einen großen Friedhof, auf dem englische Matrosen und Offiziere begraben sind.

Wie erklären Sie sich den einseitigen Blick der bundesdeutschen Medien auf den Kriegsverlauf?

Ich glaube, das hat damit zu tun, daß der Geschichtsstandpunkt der Bundesrepublik Deutschland gleich nach der Staatsgründung eher der der Westalliierten – besonders der USA – war. Schließlich war dieses Land der wichtigste Partner der Bundesrepublik, in der NATO und natürlich auch wirtschaftlich. So war eben die Situation, da gibt es nichts zu kritisieren.

Kritisieren darf und muß man aber, daß das zweitwichtigste Datum nach dem »Tag des Sieges«, der 22. Juni 1941, der Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, für Amerika praktisch inexistent ist. In den meisten Chroniken wird er nicht einmal erwähnt. In den 70er Jahren hat der sowjetische Filmemacher Roman Karmen unter dem Titel »The Unknown War: 1941–1945« (»Der unbekannte Krieg«) eine Kriegsdokumentation in zwanzig Folgen für ein westliches Publikum produziert. Er hat das nicht bloß gemacht, weil es ein Auftrag der damaligen sowjetischen Führung war, es war ihm Herzenssache. Und auch ein Ruf in Richtung der Angelsachsen: »Seht her, das ist uns passiert! Es gab auch einen anderen Krieg, den ihr gar nicht kennt oder nicht kennen wollt. Es gab da noch etwas anderes als die Kämpfe in den Ardennen oder in Afrika gegen Rommel.« Und der Film schlug wirklich ein wie eine Bombe, er war eine Sensation. Er wurde 1978 in den USA im Fernsehen gezeigt, dann aber schnell wieder vergessen.

Im Westen wird immer wieder unterstrichen, wie rücksichtslos die sowjetische Generalität den Krieg geführt habe, auch gegen die eigene Bevölkerung.

Von der heutigen Warte aus sind wir geneigt, einige Dinge in der Geschichte anders zu betrachten, aber man muß berücksichtigen, wie das Leben damals war. Was waren eigentlich die Prämissen des Krieges – was war sein Ursprung, was Auslöser und was Folge? Und man darf auch nicht vergessen, daß dieser Stalin-Kurs – ein Aufbau der Gesellschaft, gestützt auf die Sicherheitskräfte und auf die Armee – in einem Land etabliert wurde, das bereits den Ersten Weltkrieg praktisch verloren hatte. Zumindest hatte es die meisten Verluste, und ein Teil des damaligen Russischen Reiches wurde annektiert. Nach der Oktoberrevolution, nach dem blutigen Bürgerkrieg, haben sich viele Mächte eingemischt, und die sind auch gekommen, um Raubkriege in Rußland zu führen. Im Osten war das Japan, im Norden die Amerikaner, die Engländer und andere Nationen. Auch die Polen haben gegen uns gekämpft. Viele Staaten wollten sich ein Stück von diesem verlassenen Kuchen abschneiden. Und das war ein Trauma, nicht nur der damaligen sowjetischen Führung, auch des Volkes. Als die Regierung dann den Menschen nach dem Überfall 1941 erklärte, ihr müßt Entbehrungen ertragen und für das gemeinsame Wohl, für unsere Verteidigung eure persönlichen Freiheiten einschränken, haben sie mit Verständnis reagiert. Das war kein Vieh, das von oben befohlen oder getrieben wurde. Sie haben das bewußt gemacht. So war die Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg. Die sowjetische Führung wollte diesen Krieg nicht, wollte sich nicht einmischen. Aber man hat sich in der damaligen UdSSR keine Illusionen gemacht. Adolf Hitler hatte seine Pläne ja ziemlich präzise in seinem Buch »Mein Kampf« dargelegt, das war also klar.

Und wenn jetzt einige Historiker im Westen diese Dinge anders sehen wollen, sollte man einfach wieder einmal die historischen Dokumente betrachten und beurteilen, wie sich die Westmächte – Großbritannien oder Frankreich etwa – vor dem Krieg verhalten haben. Es ist eindeutig, daß auch sie Angst vor Hitlerdeutschland hatten, davor, daß der Krieg in Westeuropa entfesselt wird. Sie wollten daher unbedingt einen Krieg zwischen Hitler und Stalin, daß also Nazideutschland die Sowjetunion überfällt. Um dann abzuwarten, wer wen schlagen würde bzw. weil sie die Hoffnung hegten, daß beide Mächte in diesem Krieg gemeinsam untergehen. Der Westen wollte der lachende Dritte sein. Es gibt genug Beweise dafür, die Notizen führender englischer Diplomaten und Politiker über Gespräche mit Nazibonzen etwa und vieles mehr. Das war eindeutig.

Vor fünf Jahren wurde hierzulande im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus öffentlich über Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Angehörige der Roten Armee debattiert. Das konnte man als Versuch werten, die Leistungen der Sowjetunion im Kampf gegen Hitler herabzusetzen. Aktuell ist es eher die Gleichsetzung von Hitler und Stalin, die die Berichterstattung beherrscht. Beide Diktatoren hätten ihre Völker mißbraucht und die bürgerlichen Demokratien in Mitteleuropa zerstört. Wie denken Sie über diese Art der Geschichtsbetrachtung?

Obwohl in der Sowjetunion 1936 eine demokratische Verfassung angenommen wurde, wo z. B. das allgemeine Wahlrecht oder – früher als in manchen westlichen Ländern – die Gleichstellung von Mann und Frau festgeschrieben wurde, war Stalins UdSSR ein totalitärer Staat, der auch oft zur Gewalt – vor allem gegen die eigene Bevölkerung – griff. Es gibt aber zwei fundamentale Unterschiede zwischen den Regimes von Hitler und Stalin. Erstens, für Stalin war die Gewalt ein Mittel, für Hitler – der Zweck. Stalin hatte nie das Ansinnen, ganze Völker wegen ihrer angeblichen »Minderwertigkeit« auszulöschen. Hitler verfolgte mit seinem Rassenkrieg und der »Germanisierungspolitik« genau dieses Ziel. Der zweite Unterschied: Stalins Sowjetunion betrieb zwar eine Großmachtpolitik, deren Ziel auch die Erweiterung der eigenen Einflußsphäre war. Aber sie hat keinen Vernichtungskrieg vom Zaun gebrochen.

Im übrigen waren Hitlerdeutschland und die Sowjetunion damals bei weitem nicht die einzigen Staaten in Europa, die man als Diktaturen bezeichnen kann. Es gab jede Menge anderer Länder, die von dem, was heute als Demokratie verstanden wird, meilenweit entfernt waren, auch in Mitteleuropa. Und selbst diejenigen westeuropäischen Staaten, die nach allgemeinem Verständnis als Demokratien galten, waren Kolonialmächte, die in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in den von ihnen besetzten Gebieten bei der Gewaltanwendung nicht zimperlich waren.

Zum ersten Teil Ihrer Frage: Ich habe vor fünf Jahren die Berichterstattung zu angeblichen Massenvergewaltigungen aufmerksam verfolgt. In der Sowjetarmee wurden sehr harte Strafen wegen Plünderungen und Vergewaltigungen verhängt. Wer dabei erwischt wurde, wurde oft standrechtlich verurteilt. Trotzdem hat es in der Schlußphase des Krieges und unmittelbar nach dem Krieg gewiß sexuelle Übergriffe, übrigens nicht nur seitens der Sowjetsoldaten, gegeben. Die Frage ist aber: Hätte man deswegen eine flächendeckende Kampagne lostreten und antirussische Ressentiments schüren müssen? Ich glaube, allein aus Respekt gegenüber Abermillionen von Menschen in der ehemaligen Sowjetunion, deren Verwandte auf den von der Wehrmacht besetzten Gebieten ungeheuerliche – auch sexuelle – Gewalt erdulden mußten und die trotzdem Kraft gefunden haben zu vergeben, sollte man dies vermeiden. Die russisch-deutsche Aussöhnung ist ein zu kostbares Gut, um sie leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Schülerinnen und Schülern, die ehemalige Nazikonzentrationslager wie Sachsenhausen oder Buchenwald besuchen, wird suggeriert, nach der Befreiung hätten dort unter sowjetischer Besatzung vergleichbare Zustände geherrscht wie vor 1945. Auch in der Geschichtswissenschaft und der Publizistik hört man immer öfter, Moskau habe Deutschland eine zweite Diktatur und die Teilung gebracht. Ist diese Darstellung Ihrer Meinung nach durch die historischen Fakten gedeckt?

Was die deutsche Teilung angeht, so belegen die historischen Fakten das Gegenteil. Wenn man die Protokolle von Gesprächen in Jalta und Potsdam liest, so wird deutlich, daß die Westalliierten zunächst die Aufteilung Deutschlands in mehrere Kleinstaaten vorschlugen. Die UdSSR war von Anfang an für das einheitliche Deutschland. Auch vier Jahre später, als zwei deutsche Staaten entstanden, wurde zuerst im Mai 1949 die Bundesrepublik proklamiert. Die Gründung der DDR folgte erst im Oktober. 1952 hat die Sowjetunion in der bekannten »Stalin-Note« die Wiedervereinigung Deutschlands als neutralem Staat vorgeschlagen – eine Idee, die im Falle Österreichs hervorragend funktionierte. Dieser Vorschlag wurde aber von Konrad Adenauer abgelehnt.

Auch die Gleichsetzung des DDR-Systems– unabhängig davon, wie man dazu steht – mit dem Nazistaat ist infam. Als die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde, sahen viele Menschen sie gerade als das Gegenteil zum nazistischen Regime. Warum sonst sind Intellektuelle wie Bertolt Brecht, die damals problemlos in den Westen hätten gehen können, dort geblieben?

Wenn man nun sagt, in den ehemaligen KZ hätten ähnliche Zustände geherrscht wie vor 1945, ist das eine maßlose Übertreibung. Es stimmt, daß in manchen von ihnen Interimslager für Kriegsgefangene eingerichtet worden sind. Wie kann man diese aber mit der organisierten Tötungsindustrie des »Dritten Reiches« – wo unschuldige Menschen zu Millionen bewußt in den Tod getrieben wurden – vergleichen? In Westberlin habe ich zu Beginn meiner Karriere Menschen getroffen, die mir von sich aus über ihre Kriegsgefangenschaft berichtet haben – mitten im Kalten Krieg, die waren natürlich gegen Moskau und absolut antikommunistisch eingestellt. Sie sagten, daß sie den einfachen Frauen und Kindern in der Sowjet­union sehr dankbar sind. Und haben nicht von Greueltaten berichtet, sondern davon, daß die ihnen Brot gegeben haben, wo sie selbst kaum etwas hatten. Sie wußten sehr genau, daß die täglichen Rationen für die Gefangenen und die Zivilbevölkerung die gleichen waren – und haben überlebt. Keiner wurde dort gefoltert, und keiner hat sie in Öfen verbrannt.

Man könnte den Eindruck gewinnen, daß in einigen Nachfolgestaaten der Sowjet­­union die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges in Frage gestellt werden. In Lettlands Hauptstadt Riga marschieren regelmäßig SS-Veteranen durch die Straßen, in Estland, genauer Tallinn, und Georgien, Kutaissi, wurden sowjetische Ehrenmale aus dem Stadtbild entfernt bzw. gesprengt. Wie beurteilen Sie diese Vorgänge?

Als Hohn gegenüber Millionen Menschen, die den Nazis zum Opfer gefallen waren, und den zahlreichen Kriegsveteranen gegenüber, auch in den genannten Ländern, die ihr Leben im Kampf gegen Hitler riskierten. Und als politische Ignoranz. Diejenigen, die die von Ihnen beschriebenen Vorgänge initiierten, verkennen die Urteile des Nürnberger Tribunals. Man fragt sich, inwieweit solche Menschen überhaupt in die »westliche Wertegemeinschaft« passen, als deren Teil sie sich gern präsentieren. Wir hören oft, auch von manchen Politikern hierzulande, Rußland teile nicht die europäischen Werte, aber in diesem Fall wird offenbar mit zweierlei Maß gemessen, auch im Europaparlament. Ein Freund von mir, ein Deutscher, erzählte mir entsetzt, in Tallinn gebe es ein offizielles Museum für die Geschichte der SS – das wird tatsächlich staatlich unterstützt. Wie kann man das erklären? Ich kann es nicht.

Der sowjetische Außenminister Maxim Litwinow hat 1934/35 versucht, der sich abzeichnenden Appeasement-Politik von Frankreich und Großbritannien eine »Architektur kollektiver Sicherheit« für Europa gegen den Faschismus entgegenzusetzen. Diese Bemühungen der UdSSR um Frieden finden in bundesdeutschen Schulbüchern keine Erwähnung. Ist das in Rußland anders?

Leider ist dieses Thema auch in unserem Land zu wenig präsent, zumindest im Schulprogramm. Vielleicht liegt es daran, daß die sowjetische Führung Maxim Litwinow später nicht besonders gewogen war. Die Bemühungen Moskaus um das System der kollektiven Sicherheit zu Beginn der 30er Jahre sind es aber auf jeden Fall wert, studiert zu werden. Sie haben völlig recht: Dieser geschichtliche Abschnitt müßte eigentlich viel genauer betrachtet werden, von vielen Historikern, nicht nur von russischen. Damals trat die Sowjetunion zum ersten Mal mit dem Konzept der »Unteilbarkeit des Friedens« auf. Das bedeutete, wenn der Frieden irgendwo in Gefahr ist, ist er überall in Gefahr. Auch eine umfassende Abrüstung wurde gefordert.

Wir müssen diese Dinge in unseren Geschichtsbüchern unter die Lupe nehmen, auch, um sie den nächsten Generationen begreiflich zu machen. Deswegen bin ich sehr zuversichtlich, was das gemeinsame Geschichtsbuch betrifft, das jetzt entstehen soll – es gibt eine entsprechende Vereinbarung auf russisch-deutscher Regierungsebene, die 2009 auf der Sitzung des »Petersburger Dialogs« in Anwesenheit unseres Präsidenten Medwedew und von Bundeskanzlerin Merkel getroffen wurde.

Litwinows Thesen sind auch heute aktuell. Damals hinderten vor allem die ideologischen Gegensätze die Staaten daran, ein wirklich umfassendes System der kollektiven Sicherheit aufzubauen. Die Folgen sind hinreichend bekannt. Heute gibt es diese Gegensätze nicht mehr. Daher sollte der Verwirklichung der Idee des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew, einen rechtlich bindenden Vertrag über die europäische Sicherheit zu schließen, nichts im Wege stehen.

Interview: Stefan Huth

* Aus: junge Welt, 8. Mai 2010


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