Als Berliner Jude in der Roten Armee
Stefan Doernberg: Anmerkungen zum 8. Mai 1945 aus persönlicher Sicht
Stefan Doernberg war als Leutnant der Roten Armee an den Kämpfen um Berlin im April und Mai 1945 und als Dolmetscher an den Verhandlungen um die Kapitulation der Nazi-Wehrmacht beteiligt. In der DDR war er unter anderem Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Botschafter in Finnland. Vor zwei Wochen brachte er uns sein Manuskript über seine Erinnerungen an das Kriegsende in die ND-Redaktion. Es war sein letzter Text. Der am 21. Juni 1924 in Berlin geborene und aus einer jüdischen kommunistischen Familie stammende Historiker starb am 3. Mai in seiner Heimatstadt.
Unvergessen bleibt für mich der Mai 1945. Nach wie halte ich dieses Frühjahr als meine schönste Erinnerung fest, bedeutete doch der Abschluss des antifaschistischen Befreiungskrieges gegen den deutschen Faschismus zugleich das Ende der schlimmsten Tragödie im Leben der europäischen Völker, auch des deutschen Volkes, auch jener, die dies damals noch nicht so einschätzten. Das Kriegsende fiel für mich mit dem Abschluss der noch so blutigen Schlacht um die Reichshauptstadt, mit der Kapitulation der Reste der Berliner Garnison am 2. Mai zusammen. So war ich als Deutscher und zugleich als sowjetischer Offizier in der 7. Abteilung der 8. Gardearmee Augenzeuge eines der bedeutsamsten Ereignisse des vorigen Jahrhundert.
Ich gehörte zu den deutschen Emigranten, die in den Reihen der Streitkräfte der Staaten der Antihitlerkoalition als Freiwillige am Kampf für die Befreiung der europäischen Völker, damit auch des deutschen Volkes von der faschistischen Barbarei teilgenommen haben. Insgesamt waren es nur wenige Deutsche, die in dieser Form ihren bescheidenen Beitrag im antifaschistischen Krieg geleistet hatten. Es war auch ein Abschnitt des deutschen Widerstands, zweifellos nicht der wichtigste. Er darf nicht überschätzt, wenn auch nicht vergessen werden. Nach gegenwärtigen Forschungen dürften es einige tausend Deutsche gewesen sein, die sich in die Streitkräfte der Sowjetunion, Großbritanniens, Frankreichs und der USA sowie in Partisanenabteilungen nicht weniger Länder eingereiht hatten. In der Roten Armee waren es nach unseren Forschungen nicht einmal einhundert Deutsche, die in den Jahren des Krieges auf diese Weise bestrebt waren, auch für die Neugeburt eines friedliebenden und zutiefst demokratischen Deutschland zu wirken. Nur vier von ihnen waren Teilnehmer der letzten großen Schlacht, erlebten das Kriegsende in Berlin.
Mir wurde ein doppeltes Glück zuteil. Ich wurde nicht wie so viele ein Opfer dieses schrecklichen Krieges, erlebte sein Ende noch dazu in Berlin, dort, wo ich 21 Jahre vorher das Licht der Welt erblickt hatte. Ich suchte unmittelbar nach dem Abschluss der Kämpfe sogar das Haus auf, in dem ich mit meinen Eltern in Berlin meine Kindheit verbracht hatte. Die Nachbarn konnten sich nach über zehn Jahren noch an die Eltern erinnern.
Das Ende des Zweiten Weltkrieges, vor allem die letzten Tage der harten Häuserkämpfe in Berlin, werde ich nie vergessen. Es war dabei ein gemischtes Gefühl. Zum einen war ich natürlich überzeugt, dass dieser furchtbare Krieg in wenigen Tagen enden müsste. Zum anderen aber konnte ich mir nicht vorstellen, dass man schon am nächsten oder übernächsten Tag inmitten dieser Trümmerstadt in einem friedlichen Berlin, also ohne ständigen Kanonendonner und peitschende MG-Garben aufwachen würde. Zum Grübeln über die Zukunft hatte ich jedoch kaum Zeit.
Am frühen Morgen des 2. Mai wurde ich zum Gefechtsstand des Befehlshabers der 8. Gardearmee Generaloberst Wassili Tschuikow beordert. Dort war der Chef des Verteidigungsbereichs Berlin, der Wehrmachtsgeneral Weidling eingetroffen, der sich zur Kapitulation der deutschen Truppen in der Reichshauptstadt bereit erklärt hatte. Nicht ohne Aufregung tippte ich seinen Befehl auf einer Schreibmaschine mit deutscher Schrift, die ich dazu mitgebracht hatte. Etwas merkwürdig empfand ich den ersten Satz dieses ansonsten historisch bedeutsamen Dokuments. »Am 30.4.45 hat sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm die Treue geschworen hatten, im Stich gelassen.«
Das sollte also die wichtigste Begründung für die folgende leider viel zu späte Feststellung sein: »Jeder, der jetzt noch im Kampf um Berlin fällt, bringt seine Opfer umsonst.« Dann aber erfolgte die letztendlich richtige Aufforderung, sofort den Kampf einzustellen. Und das war schließlich das Wichtigste. Gemeinsam mit einem Offizier aus Weidlings Stab verkündete ich über unseren Lautsprecherwagen den Befehl zur Kapitulation an mehrere Einheiten, zu denen Weidling in der damaligen Situation bereits keine Verbindung mehr hatte. Fast 90 000 Soldaten und Offiziere, darunter einige Generale, gaben sich bis zum Nachmittag gefangen. Niemand hatte erwartet, dass noch so viele den Durchhaltebefehlen gefolgt waren.
Die in Weidlings letztem Befehl enthaltene Mitteilung über den Selbstmord Hitlers war für mich schon keine sensationelle Nachricht, hatte ich doch davon bereits am Vortag erfahren. Es hatte sich so ergeben, dass ich als einer von mehreren Dolmetschern teilweise Zeuge von Verhandlungen wurde, über deren tieferen Zweck sich die deutsche Geschichtsschreibung nach wie vor ausschweigt. In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai war General Hans Krebs, seit kurzem Chef des deutschen Generalstabs, als Parlamentär auf dem Gefechtsstand von Generaloberst Tschuikow erschienen. Er befand sich zwischen dem Flugplatz Tempelhof und dem Potsdamer Platz, also bereits in der Stadtmitte von Berlin. General Krebs konnte ausgerüstet mit einer weißen Fahne weitgehend zu Fuß den Weg von der Reichskanzlei bis zum Gefechtsstand des Oberbefehlshabers der 8. Gardearmee zurücklegen.
Als erstes beeilte sich Krebs mitzuteilen, dass Hitler Selbstmord verübt habe. Zuvor habe er Goebbels zum Reichskanzler ernannt. Neuer Reichspräsident sei Großadmiral Dönitz. Der Chef des deutschen Generalstabs als höchster Vertreter der militärischen Führung in Berlin käme im Auftrag des neuen Reichskanzlers, der sich mit einem dringlichen Schreiben an die sowjetische Staatsführung wende. Es gehe um nicht weniger als um den Abschluss einer Friedensvereinbarung zwischen Deutschland und der Sowjetunion.
General Tschuikow hatte mit dem Angebot zu einer Kapitulation der verbliebenen Reste der Wehrmacht in Berlin gerechnet. Er erklärte auch unumwunden, dass er als Militär zu nichts anderem bevollmächtigt sei. Die Alliierten hätten zudem seit Jahren beschlossen, dass für das Dritte Reich und die Wehrmacht nur eine bedingungslose Kapitulation in Frage komme. Über das Angebot von Goebbels informierte General Tschuikow unverzüglich Marschall Shukow, der noch in der Nacht zum 1. Mai Stalin anrief. Wie nicht anders zu erwarten, kam aus Moskau unverzüglich die Bestätigung, dass ein separater Waffenstillstand oder gar die Akzeptierung der neugebackenen Regierung unter Goebbels nicht in Frage komme.
Krebs brachte unterdessen ein Argument nach dem anderen vor, um sich seines Auftrags zu erledigen. Sie waren demagogisch, entsprachen der bekannten Manier seines Auftraggebers, bewiesen zugleich, dass auch die Militärführung nach wie vor in ihrer Denkweise von abenteuerlichen Plänen durchdrungen war. So verstieg er sich zu der Behauptung, dass es zwischen dem damaligen Deutschen Reich und Sowjetrussland angeblich mehr Gemeinsames gebe als zwischen Deutschland und den USA und Großbritannien.
Die sowjetischen Militärs meinten zunächst, die Übersetzung könne nicht exakt sein, so unglaublich klang doch diese Behauptung. Immerhin war Deutschland genau so wie die westlichen Verbündeten der Sowjetunion ein kapitalistischer Staat, wodurch sich schon viele gemeinsame Grundzüge nicht nur der Eigentumsformen ergaben. Allgemein bekannt war auch, dass der sozialistische Staat oder, wie die Machthaber in Berlin es seit langem formuliert hatten, der »jüdische Bolschewismus« zum Hauptfeind erklärt worden war. Gegen die Sowjetunion hatte sich auch in barbarischster Weise der Vernichtungskrieg gerichtet. Das alles sollte bedeutungslos sein und die Sowjetunion würde die Antihitlerkoalition aufkündigen?
Auf Anregung von Goebbels wurde auch eine direkte Telefonleitung zwischen der Reichskanzlei und dem Gefechtsstand von General Tschuikow gelegt. Möglicherweise wollte sich der gerissene Propagandaminister in seinem neuen, wenn auch nur imaginären Amt selbst in die Verhandlungen einschalten. Es kam jedoch nur zu einer rein technischen Verbindung, bei der auch Soldaten einer sowjetischen Nachrichteneinheit verletzt wurden.
General Krebs musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Das Ende des Blutvergießens in Berlin ordnete weder der neue Kanzler noch der Generalstabschef an. Beide verübten am Abend des 1. Mai Selbstmord, da sie mit ihren abenteuerlichen Plänen, die eigentlich auf eine Fortsetzung des Krieges abzielten, gescheitert waren. Sowjetischerseits hatte man, wie es heute auch dokumentarisch belegt ist, die Absichten der Insassen der Reichskanzlei durchschaut. Sie unterschieden sich kaum von den Plänen, die bereits von Hitler und seiner Gefolgschaft in den letzten Monaten angesichts der nicht mehr zu verhindernden militärischen Niederlage verfolgt wurden.
Ich hatte das merkwürdige Gehabe von Krebs zweifellos damals noch nicht voll durchschaut, erahnte nur, dass es Ausdruck einer panischen Angst vor den absehbaren Folgen sei, denen sich die Schuldigen an dem Vernichtungskrieg gewiss sein mussten. Auf der Konferenz von Jalta hatten Stalin, Roosevelt und Churchill im Februar 1945 unumwunden erklärt, dass alle nazistischen Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen seien. Das sollte wohl durch einen Trick verhindert werden.
Im Grunde ging es um den Versuch, die Bereitschaft der Sowjetunion zu separaten Verhandlungen vorzutäuschen, um dadurch die westlichen Alliierten zu einen Separatfrieden zu bewegen. Dönitz sollte als neuer Reichspräsident die Möglichkeit erhalten, diese Falschkarte auszuspielen, und die immer noch nicht geringen Kräfte der Wehrmacht als Bundesgenosse im Kampf zur »Rettung der Festung Europa vor dem Ansturm der Roten Armee« anbieten. Nicht zufällig hatte das Oberkommando der Wehrmacht in den letzten Wochen den Widerstand gegen die vorrückenden Verbände der Alliierten an der Westfront fast völlig eingestellt, dagegen alle verfügbaren Einheiten, nicht nur den eiligst aufgestellten Volkssturm, an die Ostfront geworfen.
Die Agonie der Führungskaste des Dritten Reichs äußerte sich auch darin, dass selbst Göring und Himmler wie auch einzelne hohe Militärs, von den Wirtschaftsführern ganz zu schweigen, auf eigene Faust danach suchten, wie sie sich in letzter Minute noch den bisherigen Gegnern anbiedern könnten. Dabei gingen sie davon aus, dass sie von der Sowjetunion zweifellos weniger Milde erwarten konnten, hatten sie doch im Osten ihren Vernichtungskrieg besonders grausam geführt.
Parallel zu den Bemühungen von Goebbels und Krebs bat Admiral Voss als Vertreter von Großadmiral Dönitz im OKW, ihm zu gestatten, sich zum neuen Reichspräsidenten zu begeben und ihm zu erklären, dass sich auch Hitler angeblich für separate Verhandlungen mit der Sowjetunion ausgesprochen habe, obwohl er nach der Auffassung von Dönitz in der jetzt ausweglosen Situation eine Vereinbarung mit den Westmächten vorgezogen habe. Nach dem Tod von Roosevelt hätte sich auch nach Hitlers Meinung hierfür eine Möglichkeit ergeben. Der Admiral dachte wohl, die Russen als »Untermenschen« müssten sehr einfaltig sein. Doch er konnte sein nur zu durchsichtiges Vorhaben, Dönitz über den scheinheiligen neuen und so ungewöhnlichen Vorstoß von Goebbels und Krebs ins richtige Licht zu setzen, nicht ausführen. Er blieb in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Dönitz versuchte auch weiterhin, sich den Vertretern der USA und Großbritanniens anzubiedern, bis er schließlich am 23. Mai, also Wochen nach der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation durch den Chef des OKW Generalfeldmarschall Keitel, festgenommen wurde.
Möglicherweise hätten sich unter den Militärs und Politikern der USA und Großbritanniens einige gefunden, die zu einem Frontwechsel bereit und schon damals den Kategorien des späteren Kalten Krieges verfallen waren. Doch nicht sie bestimmten die Politik. Zudem mussten sie sich im Klaren sein, dass ihnen niemand die Aufkündigung der Antihitlerkoalition gestattet hätte. Damals war das Ansehen der Sowjetunion und ihrer Armee dank ihres entscheidenden Beitrags zur Niederringung des Faschismus in der Weltöffentlichkeit, nicht zuletzt in den USA und in Großbritannien, so groß, dass ein Abkommen mit dem erklärten Feind hinter dem Rücken des eigenen Verbündeten a priori nicht in Frage kam.
Wie dem auch sei, empfand ich den 2. Mai als das eigentliche Kriegsende, damit auch die vollendete Befreiung Europas vom Faschismus. Die noch folgende Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde in Karlshorst am 8. Mai erschien mir dann eher als ein notwendiger formeller Akt, war doch der Krieg bereits aus. Erst später erkannte ich, wie wichtig dieser Akt war, um die Antihitlerkoalition, die sich im Krieg so überragend bewährt hatte, auch weiter als Instrument zur Stabilisierung des so schwer errungenen Friedens zu festigen. Das entsprach auch der Erklärung der »Großen Drei« in Jalta. Sie hatten dort ihren gemeinsamen Entschluss bestätigt, »die Einheitlichkeit der Zielsetzung und des Vorgehens, welche den Vereinten Nationen den Sieg in diesem Krieg ermöglicht und gesichert hat, im kommenden Frieden aufrechtzuerhalten und zu stärken. Wir glauben, dass dies eine heilige Pflicht ist, deren Erfüllung unsere Regierungen ihren eigenen Völkern sowie den Völkern der Welt schulden.«
Nach meiner Erinnerung war ich am frühen Vormittag des 8. Mai 1945 in den Räumen einer kleinen Druckerei in Berlin-Schöneweide mit der Korrektur der neuen Ausgabe einer Zeitung beschäftigt, die seit den ersten Maitagen von unserer Gruppe herausgegeben wurde. Seit dem Ende der Kampfhandlungen in Berlin hatten wir uns dazu entschlossen. Sie enthielt neben wenigen von Offizieren unserer Gruppe angefertigten und wenn notwendig von mir übersetzten Beiträgen hauptsächlich offizielle Nachrichten über die Situation in Berlin und die letzten Tage des Krieges. Sie wurde dann an die Bevölkerung in den umliegendenBezirken verteilt. Das Interesse für diese vierseitige kleinformatige Zeitung war groß.
Dort in der Druckerei erhielt ich die Anweisung, zusammen mit anderen Offizieren ein Tonaufzeichnungsgerät aus dem Funkhaus in der Masurenallee nach Karlshorst zum Stab des Militärkommandanten von Berlin General Bersarin zu bringen. Zur Orientierung hatten wir zwar eine Karte von Berlin, doch erwies es sich für mich gar nicht so schwer, das Funkhaus zu finden. Von 1933 bis 1935 hatte ich eine jüdische Schule besucht, die sich unweit der Masurenallee, genauer gesagt in der Nähe des Reichskanzlerplatzes befunden hatte, der damals schon in Adolf-Hitler-Platz umbenannt worden war. Erst in Karlshorst erfuhren wir, dass dort die bedingungslose Kapitulation der faschistischen Wehrmacht auf höchster Ebene unterzeichnet und damit die Beendigung des Krieges juristisch, also aktenkundig, fixiert werden sollte. Wir lieferten das Gerät ab. Es sollte zur Aufzeichnung des Vorgangs bei der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation genutzt werden. Möglicherweise stammten die Tonaufzeichnungen angefertigter Dokumentarfilme von unserem Gerät.
Das Haus, in dem sich heute ein Museum befindet, blieb mir in Erinnerung, auch das Geschehen rundum, so die gar nicht so strengen Kontrollen zur Absicherung dieses Vorgangs wie dann das Eintreffen von vielen Militärs in unterschiedlichen Uniformen. Wir verließen Karlshort kurz bevor der historische Akt stattfand, konnten dann in Johannistal am Standort des Stabs unserer 8. Gardearmee bereits die Neuigkeit verkünden. Doch erst nach unserer Ankunft zu später Nachtstunde wurde der feierliche Akt für alle unüberhörbar zur bleibenden Gewissheit. Ganz spontan, ohne jeglichen Befehl setzte ein langes Salutschießen ein, bei dem an Munition nicht gespart wurde. So oder so würde jetzt im Frieden die noch verbliebene entsorgt werden müssen.
Viele Gedanken kamen mir in den ersten Tagen des noch so jungen Friedens. An mein eigenes Schicksal dachte ich weniger, war doch alles noch so ungewiss. Ich meinte höchstens, dass ich recht bald meine Uniform ausziehen und dann schon irgendeine Aufgabe beim demokratischen Neuaufbau übernehmen würde. Genauere Vorstellungen konnte ich nicht haben, schmiedete schon deshalb keine persönlichen Zukunftspläne. Leicht würde diese Neugeburt Deutschlands nicht sein. Um so mehr Zeit hatte ich, an die mir noch gegenwärtige Vergangenheit zurückzudenken.
Ich hoffte, dass weltweit aus früheren Verfehlungen die notwendigen Schlussfolgerungen für die Gestaltung einer besseren Zukunft gezogen würden. Vor allem galt es den Einfluss jener mächtigen, in ihrer Profitsucht unersättlichen Kreise des Großkapitals entschieden zurückzudrängen, die mit ihrer expansionistischen Grundhaltung und ihrem verbissenen Antikommunismus dem Faschismus zunächst als ihrem Erfüllungsgehilfen den Weg zur Staatsmacht und dann zur Entfesselung des Krieges geebnet hatten. Voraussetzung dafür war nicht zuletzt ein geistiger Umbruch, war doch die faschistische Irrlehre mit ihrer völkischen Demagogie, darunter dem abscheulichen Rassismus, tief in alle Schichten eingedrungen.
In meinem Gedächtnis hatte sich aber auch eingeprägt, wie dieser Vernichtungskrieg langfristig und mit äußerster Perfektion, wenn auch in abenteuerlicher Verblendung über die eigene Machtfülle vorbereitet und in die Tat umgesetzt worden war. Eine gewisse Mitschuld trugen jene Politiker, die nicht rechtzeitig die Aggressionspolitik der faschistischen Machthaber durchkreuzt, vor allem ihrer Verwirklichung nicht ein kollektives Sicherheitssystem entgegengesetzt haben. Das erleichterte den Aggressoren, ihre seit langem vorbereiteten Pläne in den ersten Kriegsjahren durchzusetzen. Die Antihitlerkoalition als das notwendige Bollwerk zur Rettung der menschlichen Zivilisation kam dadurch erst zu einem Zeitpunkt zustande, als der Krieg bereits fast alle europäischen Völker erfasst und in ihrer Existenz bedroht hatte.
Großbritannien und Frankreich erklärten zwar nach dem deutschen Überfall auf Polen Deutschland den Krieg, kamen aber Polen nicht zu Hilfe und unternahmen auch weiterhin keine militärischen Operationen. Dem »komischen Krieg« im Westen folgten Hitlers »Blitzkrieg« gegen Frankreich im Frühsommer 1940 sowie weitere Aggressionshandlungen, in deren Ergebnis das »Dritte Reich« die Potenzen fast des ganzen europäischen Kontinents für den perfektioniert geplanten Überfall auf die Sowjetunion nutzen konnte.
Der Moskauer Führung lagen genügend Informationen über die deutschen Pläne vor. Trotzdem hielt Stalin an der falschen Annahme fest, dass Hitler seine Aggressionspläne gegen die Sowjetunion erst dann umsetzen werde, wenn er Großbritannien als Kriegsgegner ausgeschaltet hätte und Deutschland sich damit nicht in der Situation eines Zweifrontenkrieges befinde. Folgenschwer musste sich auswirken, dass die an der Westgrenze konzentrierten Truppen wie auch die staatlichen Organe insgesamt nicht genügend auf die akute Gefahr des deutschen Überfalls vorbereitet waren. Stalin untersagte sogar notwendige Vorsichtsmaßnahmen, weil sie von Hitler und seinen Generalen als Provokation ausgelegt und noch mehr für die Begründung eines Überfalls missbraucht werden konnten. So war die Rote Armee in doppelter Hinsicht auf den Kriegsbeginn nicht oder zumindest nicht ausreichend vorbereitet. 1937/38 war ihre Führung durch die Terrorwelle enthauptet worden. Über zwei Drittel der höchsten Kommandeure waren diesem Verbrechen zum Opfer gefallen.
In nur wenigen Jahren konnte sich die Armee von diesem Blutbad nicht erholen. Das hatte das Ausmaß des Rückzugs und der Verluste der Roten Armee 1941 noch mehr erhöht. Die Hauptursache für die katastrophale Niederlage der Roten Armee bestand in der Anfangsperiode des Krieges jedoch darin, dass die Wehrmacht in vieler Hinsicht, darunter durch ihre materielle Ausrüstung und dank der Nutzung bereits gewonnener Kriegserfahrungen der Roten Armee beträchtlich überlegen war. Trotzdem erreichte sie nicht das anvisierte Ziel, innerhalb von sechs Wochen einen erfolgreichen Blitzkrieg zu führen, in dessen Ergebnis schließlich eine Linie von Archangelsk bis zur Mündung der Wolga erreicht werden sollte.
Beides konnte mir jedoch nicht bewusst sein, als ich mich am 22. Juni 1941 als Freiwilliger zum Eintritt in die Rote Armee meldete. Sicher hätte sich an meinem Entschluss auch bei Kenntnis dieser Umstände nichts geändert. Meine Handlung war spontan, ich betrachtete sie als etwas Selbstverständliches. Ich wollte die Unabhängigkeit und Freiheit des Landes verteidigen, das uns politisches Asyl und mir dazu die Möglichkeit einer guten Schulbildung gewährt hatte. Wie so viele andere war ich der Überzeugung, dass der durch den deutschen Überfall der Sowjetunion aufgezwungene Krieg in nicht so ferner Zukunft mit dem Sieg über das Hitlerregime enden würde.
Das bestätigte sich aber erst im Frühjahr 1945, nach fast vier Jahren und einem so furchtbaren Krieg, der viele Millionen Opfer gefordert und große Teile des europäischen Kontinents, vor allem seines östlichen Teils verwüstet hatte. Ich hatte Anfang 1945 nicht erwartet, dass der Widerstand der deutschen Wehrmacht auch auf deutschem Boden noch so hartnäckig sein würde.
Aus meiner Tätigkeit als Offizier in einer der in den Armeestäben bestehenden 7. Abteilungen, die sich der politischen Aufklärung unter den Soldaten und Offizieren der Wehrmacht widmete (in der US-Armee bezeichnete man ähnliche Abteilungen nicht zu Unrecht als Einheiten der psychologischen Kriegsführung), war mir die sich zunehmend ändernde Stimmungslage unter den Frontsoldaten, den deutschen Landsern, nicht unbekannt. Trotzdem war auch ich davon enttäuscht, wie wenig Wirkung die Flugblätter erzeugten, die ich wie andere verfasste, wie auch die Lautsprechersendungen, mit denen wir an der vordersten Frontlinie die Offiziere und Soldaten von der nicht mehr abzuwendenden Niederlage und der um so mehr verbrecherischen Anweisung, den Krieg bis fünf Minuten nach zwölf fortzusetzen, zu überzeugen suchten. Es waren zwar schon wesentlich mehr Soldaten und auch Offiziere, die nicht mehr zum »Heldentod für Führer und Vaterland« bereit waren und eine günstige Gelegenheit suchten, um ihr Leben auch dadurch zu retten, dass sie sich entgegen den Befehlen ihrer Vorgesetzten gefangen gaben. Dennoch war ihre Zahl 1945 während der Winteroffensive der Roten Armee von der Weichsel bis zur Oder, selbst bei der Kesselschlacht um die Festung Posen, noch immer zu gering.
Besonders enttäuschend gestaltete sich im April die Schlacht um die Seelower Höhen. An ihrem Vorabend wurde ich zusammen mit anderen Offizieren unserer Abteilung zum Gefechtsstand von Marschall Shukow beordert, der sich in dieser Nacht unweit der Frontlinie auf einem hohen Hügel, dem Reitweiner Sporn, befand. Generalleutnant Telegin, ein Stellvertreter des Marschalls, wies uns in seinem Auftrag an, über unsere Lautsprecheranlage zu verkünden, dass im Morgengrauen der sowjetische Großangriff auf die Reichshauptstadt einsetze. Wir sollten hinzufügen, es könne sich nur um Tage handeln, bis endlich der Frieden wiederhergestellt sei. Marschall Shukow garantiere jedem, der sich in dieser letzten Stunde gefangen gebe, das Leben und damit die Möglichkeit des Wiedersehens mit seiner Familie.
Befehle sind bekanntlich ohne Widerrede auszuführen. Dennoch fragte ich nicht ganz vorschriftsmäßig den General, ob wir dadurch nicht ein militärisches Geheimnis preisgeben würden. Die Antwort war prompt und für mich auch überzeugend. Es müsse alles getan werden, um in den bevorstehenden letzten Tagen des Krieges die Zahl der Opfer möglichst gering zu halten, nicht zuletzt natürlich der sowjetischen. Auch die deutschen Soldaten und Offiziere müssen doch erkannt haben, wie sinnlos jeder weitere Widerstand ist. Insbesondere erwarte man von den Truppenoffizieren an der vordersten Front, dass sie eigenständig im Interesse ihrer Soldaten handeln und auch selbst nicht mehr den so unsinnigen Durchhaltebefehlen der militärischen Führung folgen.
Mehrere Stunden lang erging dann unser Appell. Er war nicht wirkungslos, blieb für mich dennoch enttäuschend. An den folgenden zwei Tagen sah ich bald mehr gefallene Soldaten als beim Beginn früherer Offensiven. In den Jahren des Krieges hatte ich immer wieder schlimme Zeugnisse für seinen barbarischen Charakter wahrgenommen. Unvergessen war der Anblick der völlig zerstörten Ortschaften in der Ukraine und dann auch in Polen, noch mehr des Vernichtungslagers Majdanek mit seinen Gasöfen oder des Ghettos im Stadtzentrum von Lodz, auch des Konzentrationslagers von Sonnenburg wenig östlich der Oder, wo die Schergen der SS noch am letzten Tag vor der Befreiung des Lagers Hunderte Häftlinge hingemordet hatten.
Die Durchhaltebefehle, die von den Generalen der Wehrmacht im Einklang mit den Anweisungen Hitlers und der Führung des OKW im April 1945 erteilt wurden, empfand ich als fast ein gleiches Verbrechen. Sie standen in der Kontinuität jener abenteuerlichen und menschenfeindlichen Politik, die seit der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, eigentlich schon bei seiner langfristigen Vorbereitung, die ganze Politik des Dritten Reichs bestimmt hatte. Allein im letzten Kriegsjahr, ganz besonders auch in der Abschlussphase gab es mehr deutsche Todesopfer als in den fünf Jahren davor, nicht zuletzt aus der Zivilbevölkerung.
Unsere Frontpropaganda trug dazu bei, dass sich mehr und mehr Soldaten und auch Offiziere der Wehrmacht den sträflichen Befehlen der Führung verweigerten, sich gefangen gaben, um so ihr Leben nicht mehr für den verbrecherischen Krieg zu opfern. Zumindest verhalfen die Flugblätter und Lautsprechersendungen aus vorderstem Graben im bescheidenen Maße dazu, dass der Zweite Weltkrieg auf beiden Seiten nicht noch mehr Opfer forderte.
Dennoch musste der Aggressor militärisch geschlagen werden. Es war alles andere als ein Zufall, dass im Mai 1945 die Sowjetarmee in Berlin einzog und auch auf diese Weise vor aller Welt dokumentiert wurde, dass ihr und der Sowjetunion als Staat der entscheidende Beitrag zur Niederschlagung des Faschismus zukam. Die Sowjetunion hatte mit Abstand die größten Opfer getragen. Die Zahl der Kriegsopfer war noch weitaus größer als ich 1945 erahnen konnte.
Es gehört dabei zur historischen Wahrheit, dass die Sowjetunion, und zwar als sozialistischer Staat, im vorigen Jahrhundert die einzige Macht war, die den faschistischen Aggressoren widerstehen konnte. Die Oktoberrevolution von 1917, aus der sich unter so schwierigen Bedingungen eine neuartige Gesellschaftsformation entwickelte, war die Voraussetzung dafür gewesen. Sie hatte viele Mängel, wies unverzeihliche Deformationen auf. Manches konnte und musste ich bereits 1945 erahnen, das ganze Ausmaß und ihre schlimme Nachhaltigkeit erkannte ich jedoch damals nicht.
Das bezieht sich auch auf den Anteil Stalins am Sieg über den Faschismus. Zweifellos hat er als Regierungschef und Vorsitzender des Staatlichen Verteidigungskomitees beträchtliche Leistungen vollbracht. Als der Oberste Befehlshaber der Streitkräfte trug er in zunehmender Weise zur Kriegswende bei. Insgesamt positiv dürfte auch seine Rolle bei der Festigung der Antihitlerkoalition bewertet werden. Deshalb hatte ich damals volles Verständnis für das hohe Ansehen, das er 1945 im Sowjetvolk wie im Ausland genoss. Nach heutigen Erkenntnissen fallen all seine Fehler, seine negativen Entscheidungen, von den so schlimm belastenden verbrecherischen Handlungen ganz zu schweigen, noch mehr ins Gewicht. Ich bleibe daher bei einer von mir vor vielen Jahren geäußerten Einschätzung: Das Ansehen des siegreichen ersten sozialistischen Staates war 1945 nicht dank sondern trotz Stalin gewachsen.
Ich kann nicht verheimlichen, dass ich im Frühjahr 1945 ein Gefühl des Stolzes spürte, einen bescheidenen Beitrag zur Befreiung vom Faschismus in jenen Streitkräften geleistet zu haben, denen der entscheidende Anteil an diesem für die ganze Welt so schicksalhaften Ringen zukam. Und doch marterte mich ein gespaltenes Gefühl. Ich war auch als Offizier der Roten Armee Deutscher geblieben, hatte deshalb mehr Verständnis für die Nöte und Sorgen, auch für die Gedanken, die in den ersten Tagen des Friedens die Menschen in Deutschland bewegten.
Von Befreiung sprach verständlicherweise niemand. Die meisten gebrauchten den Begriff »Zusammenbruch«. Damit meinten sie nicht so sehr die totale militärische Niederlage oder den Bankrott der lange überwiegend begrüßten Pläne zur Eroberung anderer Länder, die als Erweiterung des deutschen Lebensraums ausgegeben wurden. Unter Zusammenbruch verstand man die in vieler Hinsicht chaotische Situation, in der nichts mehr richtig funktionierte, weder der Verwaltungsapparat noch das Verkehrswesen, auch keine Belieferung der Lebensmittelkarten. In Berlin und weiteren Orten gab es weder Strom noch Gas, die Wasserleitungen waren nicht intakt. Dieser totale Zusammenbruch der Infrastruktur war mehr zu spüren als der Zusammenbruch der Staatsmacht und wirkte sich nachhaltig auf das Alltagleben aus.
Nach meiner Auffassung musste eine längere Zeit verstreichen, bis sich die Kenntnis über die Ursachen des Krieges und damit das Verständnis für einen eigenen deutschen Beitrag zur entschiedenen Ausmerzung der Wurzeln des Faschismus durchsetzte. Im Osten Deutschlands verlief dieser Prozess schneller als ich zunächst angenommen hatte. Aber auch dort dauerte es, bis man in der DDR den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung vom Faschismus bezeichnete. In der BRD hat sich das bis heute trotz einer unmissverständlichen Erklärung von Richard von Weizsäcker im Mai 1985 nicht durchgesetzt. Der 8. Mai 1945 wird wertneutral als Tag des Kriegsendes bezeichnet. Zudem dominiert das Schlagwort »Versöhnung« oftmals über die eindeutige Anprangerung des Vernichtungskrieges und seiner Verursacher. Dabei dürfte es heute nicht weniger notwendig sein, aus dem größten Verbrechen und dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte die erforderlichen Lehren zu ziehen.
* Aus: Neues Deutschland, 8. Mai 2010
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