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Rituale der Erniedrigung

Miriam Gebhardts Buch über sexuelle Gewalt der Alliierten korrigiert antisowjetische Propaganda

Von Sabine Kebir *

Für ihr aus einer universitären Forschung mit studentischer Beteiligung hervorgegangenes Buch »Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs« hat Miriam Gebhardt umfangreiches Quellenmaterial aus Pfarrämtern, Archiven des US-amerikanischen und französischen Militärs gesichtet. Dabei stellte sich heraus, dass auch in den von den Westalliierten befreiten Zonen massenhafte Plünderungen und Vergewaltigungen, sexuelle Verbrechen gegen Minderjährige und gelegentlich auch gegen Männer dokumentiert sind.

Gebhardts Studie korrigiert das ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannte Bild, wonach nur Angehörige der Sowjetarmee vergewaltigten, während Amerikaner Frauen mit Zigaretten und Schokolade köderten. Die Autorin schätzt, das von den geschätzten mehr als 860.000 Vergewaltigungsopfern mindestens 190.000 und »vielleicht auch mehr (…) sexuelle Gewalt durch einen amerikanischen Armeeangehörigen, andere durch britische, belgische oder französische Soldaten« erfuhren. Auch die von der Roten Armee begangenen Verbrechen an Frauen werden dargestellt. Doch räumt das Buch mit der bis heute fortwirkenden Nazipropaganda auf, wonach Stalin einen Befehl dazu gegeben haben soll.

Allerdings wurden Vergewaltigungen oft von den Offizieren geduldet, teilweise vollzogen sie sie selbst. Aber nach Kriegsende wurden Sexualdelikte bald unter Todesstrafe gestellt, und den Truppen wurde jeglicher Kontakt mit Deutschen streng untersagt. Anders in den westlichen Zonen, in denen das anfängliche Fraternisierungsverbot – das, wie Gebhardt zeigt, Vergewaltigungen nicht verhinderte – rasch aufgehoben wurde. Die Opfer hatten meist keine Möglichkeit, die an ihnen verübten Verbrechen strafrechtlich verfolgen zu lassen. Bis zu den 1955 abgeschlossenen Pariser Verträgen durften sich weder deutsche Polizei noch Ermittlungsbehörden mit Vergewaltigungsopfern der Alliierten befassen. Deren Militärgerichte zogen wiederum häufig Vertuschung einer Bestrafung vor. So blieben die betroffenen Frauen mit ihren körperlichen und seelischen Verletzungen allein, sahen sich oft von ihren Familien missachtet und sozial an den gesellschaftlichen Rand gedrängt. Und nach 1955 mussten Vergewaltigungsopfer unter inquisitorischen Bedingungen beweisen, keine »Ami-Liebchen« gewesen zu sein, um Lastenausgleich für sich bzw. für durch Vergewaltigung gezeugte Kinder zu erhalten. Den Grund sieht Gebhardt nicht nur in überkommenen Moralvorstellungen, sondern vor allem in politischen Bestrebungen in der BRD, unter allen Umständen das bürgerlich-patriarchale Familienideal zu restaurieren.

Von besonderem Interesse sind Gebhardts differenzierte Betrachtungen über die Grauzone zwischen Vergewaltigung und freiwilligen Beziehungen zu Besatzern. Letztere waren nicht selten vom Hunger oder vom Bestreben motiviert, eine Vergewaltigung zu verhindern, indem sich Frau einen »Beschützer« zulegte. Dass solche Motive gerade in der Bundesrepublik als moralisch verwerflich galten, zeigt die von Gebhardt kritisch nachgezeichnete Rezeption der ersten deutschen Auflage des 1959 anonym veröffentlichten Buchs »Eine Frau in Berlin« von Marta Hillers, gegen das die alten Vorurteile auch bei der Neuauflage von 2003 noch fortwirkten.

Gebhardt hinterfragt auch eindimensionale Festschreibungen der Ursachen sexueller Gewalt im Kriegsgeschehen. Dazu gehört die Vorstellung, dass es sich um Rache der Sieger gehandelt habe, weil die Besiegten zuvor in deren Land immense Verbrechen begangen hatten. Das könnte auf sowjetische und in der Roten Armee dienende polnische Soldaten zutreffen. Aber weder GIs noch Soldaten aus Kanada hatten diesen Vorwand, um deutsche Frauen zu vergewaltigen. Dagegen spricht auch, dass die Vergewaltigungen durch die GIs nicht erst in Deutschland begannen, sondern schon nach der Landung im verbündeten Frankreich, und zwar fast im gleichen Ausmaß. Auch scheint die Ursache der Vergewaltigungen in Besatzungszeiten nicht nur in aufgestauten männlichen Sexualbedürfnissen zu liegen. Denn mit der seither zugenommenen Einbeziehung von Soldatinnen in das Kriegsgeschehen wird offenbar, dass Frauen nicht nur als Zuschauerinnen, sondern auch als Handelnde an sexueller Gewalt beteiligt sein können. Das, was sich in kriegerischen Konflikten immer wieder abspielt, sind – oft gemeinschaftlich geplante und durchgeführte – Riten sexueller Erniedrigung der Besatzer gegenüber den Besiegten. Weil niemand als halber Kerl oder gar als impotent gelten will, beteiligen sich oft auch Soldaten, denen der Sinn nach solchen »Zerstreuungen« gar nicht steht. Krieg entfesselt offenbar gruppendynamische Prozesse, die erreichte Zivilisationsstandards zerstören.

Miriam Gebhardt: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs. DVA, München 2015, 352 Seiten, 21,99 Euro

* Aus: junge Welt, Dienstag, 28. April 2015


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