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Hoch auf dem Roten Berg ...

Wie der Berliner Widerstandskämpfer Horst Behrendt in Krasnogorsk den Tag der Befreiung erlebte

Von Karlen Vesper *

Den heutigen Tag der Befreiung will Horst Behrendt mit seiner Frau im Kapitulationsmuseum in Berlin-Karlshorst feiern. Wie jedes Jahr. »Das lassen wir uns nicht nehmen«, sagt der bald 92-Jährige im Gespräch mit »neues deutschland«.

»Wir sind in Bombay kurz vor dem 8. Mai gelandet. Dieses Datum, der Tag der Befreiung, war und ist für uns ein besonderer Tag. 1955 war für uns mit diesem Tag noch ein anderes, besonderes Ereignis verknüpft. Wir haben die Handelsvertretung der DDR im heutigen Mumbay eröffnet«, berichtet der studierte Jurist, Diplomat und Außenhändler. Horst Behrendt ist viel in der Welt herumgekommen. »Die DDR war zwar der kleinere deutsche Staat, aber man hat uns ernstgenommen, vor allem in der so genannten Dritten Welt. Man wusste in den jungen Nationalstaaten in Asien und Afrika, dass wir in Chemie und Maschinenbau stark waren, und nahm unsere Hilfe gern an.«

Seine ersten Auslandsreisen unternahm er in jungen Jahren illegal: 1936 nach Stockholm zu einer internationalen Konferenz sozialdemokratischer Jugendlicher und im Jahr darauf zu einem Treffen von Arbeitersportlern im tschechischen Riesengebirge. Später verschlug es ihn nach Frankreich, Italien und in die Ukraine - unfreiwillig und widerwillig, gepresst in die verhasste Uniform einer Eroberungsarmee.

Ein Roter Falke unter Kommunisten

Am 19. Mai 1920 erblickt Horst Behrendt in Bromberg/Bydgoszcz das Licht der Welt. Die pommersche Stadt gehört nun, nach dem von Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg, zum neu gegründeten polnischen Staat. Die Deutschen sind nicht mehr wohl gelitten. Die Familie Behrendt siedelt um. Nach Berlin.

Der 30. Januar 1933 bedeutet auch in ihrem Leben einen tiefen Einschnitt. »Die Nazis verlangten von allen Beamten den Treueeid auf die Hakenkreuzfahne. Da mein Vater sich weigerte, verlor er seine Anstellung in der Stadtverwaltung von Lichtenberg.« Max Behrendt ist Mitglied der SPD seit 1918, seine Frau Elisabeth seit 1922. Der Rote Falke Horst tritt nicht der Hitlerjugend bei, weshalb er von Mitschülern schikaniert wird. Im November 1935 muss er deshalb auch das Gymnasium vorzeitig verlassen. Ein Glück, wie sich vier Jahre später erweist. 1939 ist er alt genug, um zur Wehrmacht rekrutiert zu werden. »Ich wurde zwar als k.v., kriegsverwendungsfähig, erklärt, aber dennoch zurückgestellt.« Denn er hat auf Rat des Vaters inzwischen Feinoptiker gelernt, arbeitet in einem kriegswichtigen Beruf.

Während seiner Ausbildung in verschiedenen Berliner Betrieben hat Horst Behrendt Mitglieder der KPD kennengelernt, die dem jungen, aufgeschlossenen Sozialdemokraten vertrauen und ihn alsbald in ihre antifaschistischen Aktivitäten einbeziehen. Eine enge Freundschaft verbindet ihn mit dem neun Jahre älteren Erwin Reisler, Schweißer bei Rheinmetall-Borsig und Mitglied des Berliner Widerstandskreises um Robert Uhrig. Zu diesem gehört auch Fritz Starke, der als Glasschleifer in der Firma R. Fueß in Steglitz arbeitet, zu der Horst Behrendt im Januar 1941 dienstverpflichtet wird. »Fritz Starke wurde nach dem Krieg von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Bezirksbürgermeister berufen. Die Amerikaner haben ihn aber schon im Sommer 1945 wieder abgesetzt. Und heute will man in Steglitz von Fritz Starke überhaupt nichts mehr wissen, weil er Kommunist war und später auch in der SEW«, sagt der Veteran. Ud erzählt sodann, wie er als 20-Jähriger mit dem damals 49-Jährigen bei Fueß eine antifaschistische Betriebszelle gründete.

Das Unternehmen stellt Bordgeräte für die deutsche Luftwaffe her. Die Illegalen sorgen für eine Verlangsamung des Produktionsprozesses. Dies ist beispielsweise möglich, wenn mit der Einführung einer neuen Technologie im Betrieb umgerüstet wird. Auch bieten die Bombenangriffe auf Berlin und das folgende Verkehrschaos überzeugenden Entschuldigungsgrund, verspätet zur Arbeit zu kommen. Gegen stramme Nazis im Betrieb, die Verdacht schöpfen, sammeln die Illegalen Erpressungsmaterial, was sich in Zeiten der Rationierung und blühenden Schwarzhandels recht leicht findet.

Für den jungen Horst Behrendt gibt es bald einen neuen, speziellen Auftrag. Er hat auf der Abendschule Englisch und Französisch gelernt. Im Herbst 1941 kommen die ersten Zwangsarbeiter aus Frankreich in die Firma Fueß. Horst Behrendt übermittelt ihnen die Nachrichten von den Fronten, die Radio Moskau und London senden. Wie begierig die Zwangsarbeiter danach sind, zeigt sich darin, dass sie den deutschen Antifaschisten zu einem besseren Empfang verhelfen. »Henri David, Radiospezialist aus Paris, konstruierte eine Antenne, mit der wir Moskau wesentlich besser verstehen konnten.« Anderthalb Jahre ist der junge Horst Behrendt engster Vertrauter der Fremdarbeiter. »Die Franzosen sagten, ich sei ein Deutscher mit einem französischen Herzen«, berichtet der Veteran nicht ohne Stolz. »Ich erwiderte: Ich bin Internationalist.«

Am 26. März 1943 muss sich jedoch auch Horst Behrendt in einer Kaserne einfinden. In Potsdam-Nedlitz. Die Schlacht um Stalingrad ist verloren. Der Vater beschwört den Sohn, sich nicht vom »Komiss« unterkriegen und schon gar nicht tot schießen zu lassen. Horst Behrendt wird für den Funk- und Fernmeldedienst ausgebildet und in die Bretagne abkommandiert, zum Regiment 669 der 371. Infanteriedivision. Vor seinem Abmarsch raten ihm seine kommunistischen Freunde, bei erstbester Gelegenheit zu desertieren, sich der Résistance anzuschließen.

Einfacher gesagt als getan.

Doch eines Tages tut sich eine Chance auf: Er soll einen Leutnant begleiten, der für das Regiment aus Paris vier Geschütze abholen soll. In der Stadt an der Seine sucht Horst Behrendt die Frau von Henri David auf. Sie ist zu Tode erschrocken, als er in der Tür steht. »Kein Wunder, ich stand in voller Montur vor ihr. Ein deutscher Soldat. Ich habe sie erst mal beruhigen müssen. Ich überbrachte ihr die Grüße ihres Mannes, sprach von unserer gemeinsamen Widerstandsarbeit in Berlin und meinem Wunsch, mich der Résistance anzuschließen.« Eine halbe Stunde später sitzen mehrere Frauen und ältere Männer in der Wohnstube der Davids und beratschlagen des Deutschen Begehr, mit dem Ergebnis: zu gefährlich. Er soll in seiner Einheit aufklärend wirken. Das sei sinnvoller.

»Ich war enttäuscht. Aber sie haben mir gesagt, dass es in der Nähe von Tours sicher möglich wäre, sich zur Résistance durchzuschlagen.« Während der Rückfahrt nach Brest will er es wagen. Beim Halt am Bahnhof von Le Mans, auf halber Strecke zwischen Paris und Brest, verlässt er den Zug und hofft, auf der Landstraße von einem zivilen Fahrzeug mitgenommen zu werden. Doch es kommt ein deutsches Motorrad mit Beiwagen: Feldgendarmerie. »Die wussten sofort: Der will abhauen.« Horst Behrendt versichert, er habe sich nur die Beine vertreten wollen. Der Zug ist noch nicht abgefahren. »Wenn Sie wieder einsteigen und dorthin fahren, wohin Ihr Fahrbefehl Sie beordert, vergesse ich die Sache«, erbarmt sich der Offizier der »Kettenhunde«. Als Horst Behrendt in Brest anlangt, ist man indes schon über sein unerlaubtes Entfernen informiert. »Ich bekam drei Tage Bau.«

Im Englischen Klub an der Ostfront

Im Januar 1944 kommt die 371. Infanteriedivision als Teil der Heeresgruppe Süd an die Ostfront. Nordwestlich von Winnyzja soll sie den Vormarsch der 1. Ukrainischen Front stoppen. Vergeblich. Die Verluste der deutschen Truppen sind immens. Und der Unmut unter Soldaten wie Offizieren wächst. Horst Behrendt schließt Bekanntschaft mit zwei Offiziersanwärtern, die Anglistik studiert und einen »Englischen Klub« an der Ostfront gegründet haben. Sie nehmen den englischkundigen Berliner in ihren elitären Kreis auf. Da wird BBC gehört, auf Hitler geschimpft und ein Separatfrieden mit den Anglo-Amerikanern diskutiert. Die Klubmitglieder sind stramme Antikommunisten, bis auf Behrendt, der freilich seine wahren Gedanken verheimlicht. Er äußert jedoch Zweifel, dass es gelingen könne, einen Keil zwischen die Alliierten zu treiben, wie es sich die Sprösslinge aus großbourgeoisen Familien wünschen.

Anfang März 1944 ist panischer Rückzug angesagt. »Da habe ich mir gesagt, was dir in Frankreich nicht gelungen ist, muss dir jetzt gelingen.« Behrendts Bataillon hat ein paar Tage Verschnaufpause in einem Dorf namens Kyrilowka. »Unser Kommandeur setzte sich als erster ab. Auch ich wurde aufgefordert, mein Funkgerät schleunigst einzupacken.« Doch Horst Behrendt lässt sich Zeit. Er offenbart sich einem Bauern. Dieser glaubt ihm und versteckt ihn im Keller seines Hauses. 15 Stunden harrt Horst Behrendt dort aus. Dann kommt ein Mädchen und sagt mit strahlendem Lächeln: »Die Unseren sind da.« Es ist der 15. März 1944.

Horst Behrendt wird verhört. Man glaubt ihm. Am nächsten Tag weiht er einen russischen Nachrichtenoffizier in die Funkgeheimnisse, Verschlüsselungscodes seines Regiments ein. Diese wertvolle Gabe bewahrt ihn nicht vor dem Kriegsgefangenenlager, doch dort trägt er sich in eine Liste ein, wird Mitarbeiter des Nationalkomitees »Freies Deutschland«. Der 23-Jährige leitet ein Antifa-Aktiv und agitiert seine Landsleute.

Eigentlich will er lieber in der Roten Armee kämpfen. »Gebt mir eine Uniform und ich marschiere mit euch nach Berlin«, bittet er. »Njet«, wird ihm beschieden. »Du musst deine Deutschen umerziehen, damit sie wieder Menschen werden.« Die Aufklärungsarbeit ist nicht nur mühselig, sondern auch lebensgefährlich. Den deutschen Antifaschisten schlagen Misstrauen und Hass entgegen. Morddrohungen werden ausgestoßen, zwei Mal sogar versucht, diese in die Tat umzusetzen. »Fanatische Nazis brachen die Tür zu unserem Raum auf und wollten uns alle umbringen. Zum Glück sind uns Polen beigesprungen.«

Eine schmerzhafte Erfahrung

Auch bei einigen Rotarmisten stößt der deutsche Hitlergegner auf Aversionen. Wen wundert's. Der Veteran erinnert sich, wie eines Tages ein russischer Offizier hoch zu Ross seinen Weg kreuzte. »Was weiß ich, was der für ein Schicksal hatte. Ich hatte ja noch die Wehrmachtsuniform an, wenn auch ohne Hoheitszeichen. Da ist er vom Pferd gestiegen und hat mir ein paar kräftige, schmerzhafte Ohrfeigen verpasst. Dann ist er wieder auf sein Pferd und weiter geritten. Nein, das hat mich nicht umgebracht. Aber das war hart für mich. Na ja, schuld daran war eben dieser verdammte Krieg.«

Dessen Ende erlebt der Berliner in der Zentralen Antifa-Schule in Krasnogorsk, wo am 12./13. Juli 1943 das Nationalkomitee »Freies Deutschland« gegründet worden ist. »Krasnogorsk liegt südwestlich von Moskau. Man kann von dort, vom so genannten Roten Berg, sehr schön auf die russische Hauptstadt blicken. So konnten wir am 9. Mai, dem Tag des Sieges, das Feuerwerk miterleben. Es war grandios. Wir waren freudetrunken. Wir hatten gesiegt.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Mai 2012


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