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Eine Frage der Verantwortung

Die Bürger haben niemandem ein Mandat gegeben, die "Kultur der Zurückhaltung" aufzugeben

Von Monika Knoche *

Die Große Koalition wirft die Fesseln der deutschen Geschichte ab, um neue »Verantwortung« zu übernehmen. Der Widerstand gegen die Modernisierung des Militärischen braucht neue Impulse.

Die Große Koalition wagt den großen Aufschlag. Von wegen Politik der kleinen Schritte. Vorbei ist es mit der »Gemütlichkeit«. Deutschland ist erwachsen geworden, übernimmt »militärische Verantwortung«. Eine Frau wird die Aufgabe übernehmen, Westerwelles weiche Diplomatie end-abzuwickeln. Die Nachkriegsgeschichte ist vorüber. Die Zeiten haben sich geändert.

Die neuen außen- und sicherheitspolitischen Verlautbarungen zeugen von reiflicher Überlegung. Ursula von der Leyen (CDU) hat die Marschroute Europas im 21. Jahrhundert sicher im Tornister: Sie packt an, was sich diverse Alt-68er einst kühn erträumten. Niemand muss ihr erklären, wie Deutschland im Konzert der Lissabonner Vertragsstaaten agieren soll. Ihr Ziel der »Vereinigten Staaten von Europa« korrespondiert damit, den Parlamentsvorbehalt für Auslandsmissionen der Berufsarmee »loszuwerden«. Dieses Anliegen teilt sie mit ihrem Kabinettskollegen Frank-Walter Steinmeier (SPD). Die erforderliche verfassungsändernde Mehrheit hätten sie.

Fünfundsiebzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende der bipolaren Weltordnung bedarf Deutschland keiner zivilisierenden Selbstfesselung mehr. Die Bundesrepublik hat ihre Lektionen gelernt. Sie ist weder nationalistisch noch militaristisch. Deutschland ist freiwillig fest eingebunden in die Strukturen der Europäischen Union und in das Nordatlantische Bündnis. Weder imperialistische Angriffskriege, noch eine Abkehr von der bereitwilligen Übernahme geopolitischer Ordnungsaufgaben an der Seite der USA sind zu erwarten. Die eigene Bevölkerung muss nicht mehr direkt verteidigt werden. Es ist längst nicht mehr zwingend, alle militärischen Fähigkeiten vorzuhalten. Die Wehrpflicht wurde ausgesetzt. So kann man in einem Berufsheer im europäischen Kontext effektiver tätig werden. Ein deutscher Sonderweg ist also nicht zu befürchten. Als militärische Abstinenz soll er aber zukünftig keinesfalls mehr legitimiert werden dürfen. Nicht die Militärintervention, sondern die militärische Zurückhaltung gilt fürderhin als »kulturlos«. Niemand soll sagen, die große Koalition verfolge keinen großen Plan. Christdemokratischen Granden wird bei soviel vorwärts gerichteter Dynamik bereits schwindelig.

Manche reiben sich verwundert die Augen. Neu ist die neue Normalität eigentlich nicht. Neu ist die beiläufige Sprache, mit der sie der kriegsunwilligen Bevölkerung beigebracht wird. Seit den Kriegsbeteiligungen im Kosovo und in Afghanistan sind tausende Bundeswehrsoldaten im Ausland engagiert. Unser Land wurde schon von der rot-grünen Bundesregierung aus der faschistisch-rassistischen Vergangenheit »heraus-gekämpft«. Im doppelten Wortsinn. Seither hat »Zögern«, »Zurückhaltung« den Makel des Weibischen, Verantwortungslosen an sich haften. Guido Westerwelle (FDP) hat Deutschland isoliert, heißt es. Er hätte mehr Mut zur Intervention zeigen sollen.

Man erinnere sich: Joschka Fischer (Grüne) sagte als damaliger Außenminister: »Nie wieder Auschwitz«. Dann fielen Bomben auf Belgrad. Kurz darauf verkündete Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) »uneingeschränkte Solidarität« mit den USA und erzwang mit der Vertrauensfrage den »Krieg gegen Terror«. Seither ist Deutschland erwachsen.

Die »Kultur des Zögerns« wird durch die »Kultur der Verantwortung« ersetzt. Man zeigt sich handlungsorientiert, potent. Um Ordnung zu schaffen. Nicht um Interessen zu realisieren. Soweit wagt sich Außenminister Steinmeier nicht vor. Er geht vorerst lediglich zu Westerwelles Äquidistanz zu den USA auf Abstand. War die FDP nach der arabischen Revolution noch zu »soft«, ist die SPD im Beistand zu den Franzosen jetzt »taff«. Konkurrierende Männlichkeit? Oder geht es um eine Neuverteilung geopolitischer Aufgaben der Industriemächte?

Charmant und konziliant setzt sich die neue Verteidigungsministerin über Fragen des Völkerrechts hinweg. Dieses gebietet noch immer, sich nicht mit militärischen Mitteln in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten einzumischen. Lediglich ein Hilferuf des betroffenen Staates an die UN könnte eine solche »Intervention« rechtfertigen.

Anders als eine frühere US-Außenministerin inszeniert sich von der Leyen keinesfalls so maskulin, wie das Madeleine Albright seinerzeit getan hat. Sie sagte: »Ich habe wenigsten Eier.« Es ging um die Selbstmandatierung der USA. Weil die einzige Weltmacht beanspruchte, den Balkan neu zu ordnen, interessierten die durchsetzungsfähige Politikerin die Regularien der Vereinten Nationen wenig. Dementgegen pflegt die deutsche Verteidigungsministerin eine gepflegte Sprache und nutzt schönere Sprachbilder, macht sich mit ihren ambitionierten politischen Gestaltungsoptionen wenig angreifbar. »Ethik der Verantwortung«. Das wird ins kollektive Gedächtnis eingehen.

Doch bleiben gravierende Fragen offen. Wie verhält sich die moralische Kategorie »Verantwortung« zu der Macht begrenzenden Kategorie »Recht«? Wie kann es kommen, dass man von Kultur spricht, wenn es doch in Wirklichkeit um Interessen geht? Es geht um wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen und um eine neue Rolle Europas in einer sich wandelnden Welt. Wie kann es kommen, dass »erwachsen sein« in die Selbstbeschreibung einer Nation eingehen und mit »militärisch präsent« gleichgesetzt werden kann? War die »Kultur der Zurückhaltung« etwa kindisch? War die Erziehung der Nation vorher noch nicht abgeschlossen? War die »Kultur des Friedens« mit friedlichen Mitteln verantwortungslos?

Man darf die Wirkmacht der Sprache und ihre kulturelle Konnotation nicht unterschätzen. Vielleicht muss man sogar zuerst gegen die Sprachbilder ankämpfen, bevor man die dahinterstehende Politik entziffern, denunzieren kann. Und: Man darf nicht unterschätzen, mit welcher geschliffenen Eloquenz eine perfekte, untadelige moderne Frau rechtskonservative Politik vermitteln und ihr zur allgemeinen Akzeptanz verhelfen kann.

Die Frau an der Spitze des Militärs ist eine ausgewiesene Intellektuelle. Es war ein Schachzug der Bundeskanzlerin, sie in dieses Amt zu bringen. Geschlechterrollenzuschreibungen fallen wie Kartenhäuser zusammen, seit die »zierliche« Frau zeigt, wie sie ganz pragmatisch die Exklusivrechte des »starken Geschlechts« schleift und die Geschlechterfrage egalisieren kann. Sie schultert das. Sie kann das. Die Traditionspartei CDU ist die modernste im Land. Deutschland ist nicht länger rückständig, weder in Militär- noch in Frauenfragen. Ursula von der Leyen wird diese Herausforderung meistern und der Bevölkerung diese Art neuer deutscher Normalität unaufdringlich beibringen. Eine neue Lesart hat sie bereits kommuniziert.

Militärisch, das bedeutet nicht mehr das Ende der Politik. Auch ist nicht – wie in früheren Zeiten – die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln gemeint. Nein. Militärische Mittel sollen Politik überhaupt erst wieder ermöglichen. So die Sprachregelung. Den zivilisierenden Nutzen der »zivil-militärischen« Einsätze kann am fortdauernden, asymmetrischen »Krieg gegen Terror« tagtäglich beobachten. Die neu gewonnene Gestaltungsautonomie der betroffenen Bevölkerung auch. Nicht wahr?

Wohlweislich bilanziert die Große Koalition die Folgen der »uneingeschränkten Solidarität« seit »Nine-Eleven« nicht. Man wendet sich lieber neuen Aufgaben zu. Mit einem Unterschied freilich. Vor 2014 hat man dem Heer der USA lediglich assistiert; ab 2014 nimmt man im Verbund mit der EU eigenständig geopolitische Aufgaben wahr. Geringe räumliche Distanz zu Afrika und Flüchtlingsströme nach Europa begründen das neue Engagement. Afghanistan liegt viele Flugstunden weiter weg als Afrika. Jedoch hat Afrika, anders als Zentralasien, in der Afrikanischen Union eine eigenständige Sicherheitsarchitektur. Auch ist bislang nicht bekannt, dass sich der südliche Kontinent unzivilisiert gegenüber den rohstoffhungrigen Industriestaaten gebärdet hätte. Paternalistische Fürsorge? Warum sollen deutsche Soldaten stärker in Afrika präsent sein? Deutsche Außenpolitik hat Afrika jahrzehntelang vernachlässigt. Immer lediglich »Entwicklungshilfe«.

Es liegt an der Mittelmeer- und der Afrika-Politik der EU. Kaum jemand kennt die diesbezüglichen Festlegungen, die zur »kohärenten« Abstimmung zwingen, von der die Verteidigungsministerin spricht. Auch die NATO hat seit ihrem Gipfel in Straßburg verändert. Der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsstandort Europa wirkt arbeitsteilig mit den USA in der NATO-Strategie. Nur weiß die eigene Bevölkerung eben nicht, wie planvoll Deutschland bereits seit etwa fünfzehn Jahren seine neue militärische Rolle vorbereitet hat.

Die USA wollen sich von saudischem ÖL unabhängig machen. Weil sich neue Bündnisse, auch militärischer Art, in der Welt formieren, muss sich die Weltmacht stärker im pazifischen Raum bewegen. Der deutschen Politik ist es parteiübergreifend gelungen, die komplexer gewordene Welt außen vor zu lassen.

Wenn es um die Zukunft Deutschlands in der Welt geht, fühlt man sich als Bürgerin nicht informiert. Man darf fragen: Herrscht jetzt die Macht des Faktischen, weil sich die USA umorientiert haben? Will die Obama-Administration die liberale, zu eigenständige deutsche Außenpolitik nicht länger akzeptieren? Das könnte sein. Herr Westerwelle behielt sich eine souveräne Meinung zu den Bürgerkriegen nach dem arabischen Frühling vor, wollte die Aufständigen nicht zusätzlich bewaffnen. Wollte er gar langfristig mehr UN-Vermittlung?

Außenminister Steinmeier klärt die Sachverhalte nicht auf. Er sagt lediglich: Wir müssen den Franzosen in Afrika helfen, weil sie schon dort sind. Die mündigen Bürger fragen sich: Um was geht es eigentlich? Um Blutdiamanten, seltene Erden, Öl, Uran oder lediglich um die Freundschaft zweier Sozialdemokraten, Hollande und Steinmeier, als starke Partner in Europa? Man hätte zu gern eine Antwort.

Die Debatte um die außenpolitische Orientierung Deutschlands braucht neue Impulse. Wie wäre es, um Abrüstung und Rüstungskonversion zu ringen, eine emanzipierte gesamteuropäische Sicherheitsdoktrin zu entwerfen? Ein Ende des Waffenhandels zu vereinbaren und der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges dies als Friedensdividende zurückzugeben? Wenn eine gerechte Wirtschaftsordnung und ökologisch sinnvolle und sozial faire Handelsverträge zur Grundlage für geopolitische Interessensicherung gemacht würden – auf Augenhöhe mit den Rohstoffländern? Wenn Korruption und Unterdrückung nicht weiterhin mit Staatsbudgetfinanzierung aus Entwicklungsfonds geduldet werden würde, wenn Kriegsherren nicht »ausgeschaltet« sondern der Internationale Gerichtshof eingeschaltet werden würde? Die Friedensfragen heutiger Zeit sind ökologische und Ressourcenfragen – und damit verbunden soziale Gerechtigkeitsfragen. Alle wissen das, gerade die Verantwortungsträger in der Metropole Berlin.

Alle Parteien müssten die Chance nutzen und über deutsche Interessen sprechen. Über legitime und über illegitime Interessen. Über friedenserhaltende Diplomatie, über ökologische Nachhaltigkeit weltweit, über gerechte justiziable Handelsabkommen, über eine humanistische, selbstlose Flüchtlings- und Asylpolitik. Die vielfältigen erfolgreichen Konfliktregelungsmechanismen der Vereinten Nationen müssten die Debatte prägen: Und Ursula von der Leyen sollten nicht länger die Erkenntnisse namhafter afrikanischer Friedensnobelpreisträger vorenthalten bleiben. Sogar die deutsche Friedensbewegung könnte aus ihrer anklagenden Tonalität herausfinden und zeigen, dass Friedenspolitik mehr bedeutet, als gegen Krieg zu demonstrieren. Ein qualitativ neuer Diskurs.

Die Chancen dafür stehen gut. Die Bevölkerung will keine Auslandseinsätze, sie wählt keinen Kriegskanzler. Sie hat mehrheitlich konservativ votiert, weil sie bei christlichen Politikern wertegebundene Entscheidungen erwartet. Und weil sie die moralisch-ethische Verantwortung für Frieden bei den rot-grünen Politikern nicht aufgehoben sah, können nun neue Allianzen entstehen. Nicht macht- oder parteipolitisch, sondern friedenspolitisch.

So kann man das Wahlergebnis vom September 2013 interpretieren. Wer im Hohen Haus wird die alternative »Koalition der Willigen« bilden? Die Grünen werden es nicht sein. Sie verzichten mittlerweile auf konzeptionelle Friedenspolitik. Bleiben noch die LINKEN. Die einzig verbliebene Friedenspartei will keine weiteren Auslandseinsätze. Ihre Vorsitzende Katja Kipping sagt, sie sei Pazifistin. Das allein wird nicht genügen. Denn Gregor Gysi wollte vor der Bundestagswahl lieber den Einzelfall betrachten. Er befürchtet, ansonsten nie von der Oppositionsbank aufrücken zu können. Verständlich. Er war nie ein grundsätzlicher Gegner des jeweils vorherrschenden Systems.

Man kann, das ist aus verschiedensten Aspekten gesehen, die Debatte nicht an das Parlament delegieren. Man muss sie in der Gesellschaft führen. Die Bürger haben niemandem im Parlament ein Mandat gegeben, die »Kultur der Zurückhaltung« aufzugeben. Ein Mandat für Verantwortung und erwachsenes Verhalten – ja. Eine Mehrheit verlangt von der Regierung, Selbstdisziplin walten zu lassen, sich zu groß gehaltener Machtgesten zu enthalten.

Bleibt die Diskussion über die künftige außenpolitische Orientierung Deutschlands aus, hat Ursula von der Leyen gute Chancen, das männliche Machtmuster des Militärischen zu modernisieren. Gerade weil sie keine Feministin ist.

* Monika Knoche gehörte Ende der 1970er Jahre zu den Mitbegründern der Grünen, für die sie von 1994 bis 2002 im Bundestag saß. Unter anderem wegen deren Außen- und Kriegspolitik trat sie im Sommer 2005 aus der Partei aus. Im Juni 2007 wurde Knoche, die gebürtige Kirrlacherin (Baden-Württemberg), Mitglied in der gerade fusionierten Linkspartei. 2005 rückte sie erneut in den Bundestag ein und wurde Vizevorsitzende der Fraktion sowie Leiterin des Arbeitskreises für Internationale Politik. Bei der Bundestagswahl 2009 verpasste sie den Wiedereinzug ins Parlament.

Aus: neues deutschland, Montag, 17. Februar 2014



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