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Begräbt die EU ihren zivilen Charakter?

Thesen zur aktuellen deutsche Außen- und Militärpolitik

Von Lühr Henken

Die nachfolgenden Thesen stellte Lühr Henken, Hamburg, auf dem gemeinsamen Wochenendseminar Friedensratschlag und Deutschem Friedensrat am 27.-29. Juni 2003 in Oberhof (Thüringen) vor.

In meinen thesenartigen Ausführungen steht zunächst die Hardware des Militärischen im Vordergrund. Wenn im Anschluss daran die politischen Aspekte an Bedeutung gewinnen, so sind auch sie stark vom Militärischen geprägt.

Bundeswehr

1. Die von Minister Struck am 21. Mai erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien legen fest, dass künftig die Einsätze der Bundeswehr sich "weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen lassen." D.h. Rot-Grün nimmt Abschied von der klassischen Landesverteidigung und geht über zum weltweiten offensiven Einsatz der Bundeswehr. Dies ist ein nun auch öffentlich vollzogener Paradigmenwechsel, der seit langem vorbereitet wurde. Die militarisierte deutsche Außenpolitik - ausdrücklich im Verbund von NATO und/oder EU - soll damit unwiderruflich in die weltweite Dimension geführt werden.

2. Die im Jahr 2000 von Rot-Grün beschlossene Aufstockung der sogenannten Einsatzkräfte der Bundeswehr auf 150.000 Mann wird planmäßig bis 2006 abgeschlossen sein. Während unter Einbeziehung des Kongoeinsatzes in den kommenden Wochen rund 8.400 Bundeswehrsoldaten in zehn Ländern im Auslandseinsatz stationiert sind, können es ab dann 50.000 sein. Nicht 150.000, denn je 50.000 davon sind in der Vorbereitung bzw. pausieren nach dem Einsatz für ein halbes Jahr. Aktuell wird die Erweiterung des Bundeswehreinsatzes im Westen Afghanistans zum Schutz von Aufbauhelfern diskutiert. Allerdings scheint das Erkundungsteam mit einem negativen Befund aus Afghanistan zurückgekommen zu sein. Entschieden soll erst nach der Sommerpause werden. Die NATO übernimmt in Afghanistan ab Herbst das Kommando vom deutsch-niederländischen Korps. Das NATO-Kommando bleibt jedoch in der Hand eines deutschen Generals. Darüber hinaus werden Bundeswehreinsätzen öffentlich diskutiert. A) im Kongo: Minister Struck hat nicht ausgeschlossen, dass das Bundeswehrengagement im Kongo ausgeweitet wird, wenn der UN-Sicherheitsrat dem Vorschlag Kofi Annans folgt, die UN-Truppe um 11.000 Mann zu verstärken. B) Vom Tisch ist auch nicht Schröders Angebot, dass die Bundeswehr sich an einem UN-Blauhelm-Einsatz in Israel/Palästina beteiligt. C) Vor dem Hintergrund, dass Innenminister Schily in den USA das Angebot unterbreitet hat, das Technische Hilfswerk könne im Irak Aufbauhilfe leisten, verdient der Vorschlag NATO-Generalsekretär Robertsons Beachtung, die NATO solle im Irak eingesetzt werden.

3. Um erfolgreich global militärisch mitmischen zu können, sind die Beschaffungsaufträge für die entsprechenden Kriegswaffen und Ausrüstungen der Bundeswehr weitgehend unter Dach und Fach. Der Zulauf beginnt spürbar ab dem nächsten Jahr und wird den vorläufigen Höhepunkt gegen Ende des Jahrzehnts erreichen, wenngleich die kostspieligen Military-Airbusse für den strategischen weltweiten Schnell-Transport von Vorauskommandos samt gepanzerten Fahrzeugen erst ab Beginn des nächsten Jahrzehnts zur Verfügung stehen werden. Bis dahin will man sich mit Mietflugzeugen behelfen. Die Bundeswehr wird für alle denkbaren Konfliktszenarien mit dem Neuesten vom Neuesten ausgerüstet. Die folgende unvollständige Liste unterstreicht den kriegerischen Charakter: Den Tornados und Eurofightern werden Marschflugkörper und lasergelenkte Bomben untergehängt. Die Marine erhält bis Ende des Jahrzehnts Korvetten, deren Marschflugkörper und manuell lenkbare Präzisionsflugkörper insbesondere für den Landbeschuss geeignet sind. Mit 80 hochmodernen Kampfhubschraubern TIGER nimmt das deutsche Heer eine europäische Spitzenstellung ein. In der Entwicklung befindliche automatisierte Kampfdrohnen sollen das später noch unterstützen. Um weltweit rund um die Uhr und wetterunabhängig erspähen zu können, was am Boden geschieht, erhält die Bundeswehr ab 2005 ein Radarsatellitensystem. Und, wie den VPR zu entnehmen ist, wird der Plan weiterverfolgt, ein kostspieliges Raketenabwehrsystem für Truppen im Einsatz zu entwickeln. Also Raketenverteidigung nicht für den Heimatschutz, sondern für die Truppen im Auslandseinsatz.

4. Die Kosten der Bundeswehraufrüstung werden sich in den kommenden 20 Jahren schätzungsweise auf 140 bis 150 Mrd. Euro belaufen - allein für neue Waffen und Ausrüstungen. Bis 2006 können diese Aufwendungen im Haushalt noch kompensiert werden durch Einsparungen bei Betriebsmitteln, Zivilpersonal, durch Stilllegung von Kasernen, eines Tornadogeschwaders, eines Schnellbootgeschwaders, Dezimierung der Kampfpanzerverbände auf knapp ein Drittel (d.h. ihrer Kaderung, nicht Verschrottung) usw.. Zu Beginn dieser Woche, also noch vor der Verkündung der Streichorgie des Haushalts 2004, haben sich die Minister Eichel und Struck darauf geeinigt, den Verteidigungshaushalt "vom Jahr 2007 an jährlich um 800 Millionen Euro zu erhöhen." (FAZ 24.6.03) Er würde in 2007 dann offiziell 25,2 Mrd. Euro betragen und 2008 dann 26 Mrd. Euro usw.

5. Der deutsche Rüstungsexport wird sich im nächsten und übernächsten Jahr gegenüber dem letzten Jahr etwa verdreifachen und gegenüber diesem Jahr etwa verdoppeln. Zudem ist mit dem Antritt der Regierung Schröder/Fischer der Wert der Exportgenehmigungen von Kleinwaffen samt Munition erheblich angestiegen. Ein Vergleich der Werte der drei letzten Regierungsjahre Kohls mit den drei ersten Regierungsjahren Schröders verzeichnet bei Kleinwaffen ein Plus von mehr als 50 Prozent. Der von Rot-Grün propagierte Begriff, sie handhabten den Rüstungsexport restriktiv, ist reine Propaganda. Auch in den Jahren danach ist mit hohen Rüstungsexportzahlen zu rechnen, weil die Bundeswehr zur Finanzierung des gigantischen Aufrüstungsbedarfs alte Waffen im Ausland verscherbeln will und die Rüstungsindustrie am Export der neuen Waffen sehr interessiert ist.

NATO und EU

Die deutsche Außenpolitik ist nach dem Ende der Blockkonfrontation durch ihre Militarisierung und Ausweitung des Einsatzgebiets der Bundeswehr gekennzeichnet. Sie fährt dabei zweigleisig. Sie richtet sich auf NATO- und EU-Einsätze aus.

1. In diesem Jahr noch wird die Schnelle Eingreiftruppe der EU einsatzbereit. Der 80.000 Mann-Truppe aus Heeres-, Luftwaffen- und Marineverbänden zunächst aus 14 EU-Staaten steht neben der Heeresausrüstung, die öffentlich nicht bekannt ist, und 383 Kampfflugzeugen der Luftwaffen, vier Flugzeugträger, 17 Fregatten und 5 U-Boote zur Verfügung. Die Bundeswehr stellt mit 18.000 Mann das mit Abstand größte nationale Kontingent zur Verfügung. Insbesondere im Bereich der Luftwaffe engagiert sich Deutschland: 108 der 383 Kampfflugzeuge stellt die Bundeswehr. Die deutsche Prägung wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Rot-Grün für den Soldaten-Pool von 100.000 Mann, aus der die Truppe jeweils zusammengestellt wird, 33.000 Mann anbietet. Ab 2005 genießt die Bundeswehr eine komfortable Stellung in der EU. Ab dann ist sie mit dem radargestützten Satellitensystem SAR-Lupe in der Lage, wetter- und tageszeitunabhängig auf 50 cm genau die Erdoberfläche zu beobachten.

2. Die Bundesregierung stellt für die von den USA angeregte schnelle Eingreiftruppe der NATO (NRP), die 21.000 Mann umfassen soll, Heeres- und Marineeinheiten zur Verfügung. Welche deutschen Kontingente vorgesehen sind, ist bisher öffentlich nicht bekannt. Die NRF soll am 1.10.2004 begrenzt einsatzfähig und am 1.10.2006 voll einsatzfähig sein.

3. Der Militarisierung der EU kommt von deutscher Seite Priorität zu. Die neuen VPR setzen dabei auf "selbständiges europäisches Handeln, wo die NATO nicht tätig sein will oder muss." In den Entwurf für eine europäische Verfassung haben Chirac und Schröder einen europäischen Außenminister verankern können, für den als einziger Kandidat zur Zeit Josef Fischer gehandelt wird. Ziel der Außenpolitik Europas ist eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsunion. Die Absicht Schröders, das Einstimmigkeitsprinzip in der EU-Außenpolitik zu Gunsten einer qualifizierten Mehrheits-Entscheidung aufzuweichen, stößt allerdings bisher noch auf Widerstand vor allem bei Briten und Spaniern.

4. Wie ernst Deutschland und Frankreich ihr Bestreben nehmen, die Unabhängigkeit der EU-Militärmacht von den USA auch zu institutionalisieren, macht ihr Beschluss auf dem "Pralinengipfel" Ende April deutlich, in dem es heißt: "Schaffung eines Nukleus einer kollektiven Fähigkeit zur Planung und Führung von Einsätzen für die EU. Sie soll die EU anstelle nationaler Mittel für EU-geführte Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO zur Verfügung gestellt werden können.." (FAZ 30.4.03) Das ist der institutionelle Einstieg in die Selbständigkeit einer Militärmacht EU, die den Kriterien der Zustimmung zu diesem Projekt durch die USA widerspricht. Ein Kriterium war, "bestehende Strukturen nicht (zu) verdoppeln" (FAZ 19.6.2000).

Wenn auch vieles darauf hindeutet, dass die EU den Aufbau ihrer militärischen Fähigkeiten zum Zweck der Verselbständigung anstrebt, so läuft parallel dazu ein entgegengesetzter Trend.

Zurück zur Tagesordnung

Nach dem schnellen militärischen Sieg der "Koalition der Kriegswilligen" über den "Schurken" Saddam Hussein waren die kriegskritischen Regierungen Europas bemüht, zügig wieder auf der politischen Ebene zur Tagesordnung überzugehen. Ihr zentrales Anliegen war, sich möglichst nicht wieder spalten zu lassen, schon gar nicht während ein gemeinsamer Verfassungsentwurf ausgearbeitet wurde. Die EU hat zu virulenten US-Konflikten von weltpolitischer Bedeutung, zu Nordkorea und Iran, überraschend schnell Position bezogen, nämlich, indem sie den Schulterschluss mit den USA vollzog: a) Der EU-Gipfel in Thessaloniki fordert Nordkorea eindringlich auf, "sein Atomprogramm sichtbar, nachprüfbar und unumkehrbar abzubauen." Das ist die identische Formulierung, die Bush beim Treffen mit Putin kürzlich in St. Petersburg wählte. Die EU erklärt sich zur Unterstützung von Verhandlungen bereit, jedoch müsse Nordkorea diesen "grundlegenden ersten Schritt hin zur Erleichterung einer umfassenden und friedlichen Lösung" tun. Damit schiebt die EU Nordkorea den schwarzen Peter zu. Von den USA wird nicht etwa die Beendigung der Drohungen, geschweige denn die Gewährung von verifizierbaren Sicherheitsgarantien für Nordkorea gefordert. Die USA kommen in der EU-Erklärung überhaupt nicht vor. Die EU-Führer ergreifen in diesem Konflikt einseitig Partei für die USA. B) Selbiges Verhalten ist im Konflikt um das Atomprogramm im Iran zu beobachten: Von Iran verlangen die Staats- und Regierungschefs die Offenlegung des Nuklearprogramms und die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zum Nichtverbreitungsvertrag, so wie es das Generaldirektorat der Atomenergiekommission fordert. Sonst nichts: auch hier keine Kritik an den USA. Wenige Tage zuvor schon hatten die EU-Außenminister - mit Josef Fischer - die Unterzeichnung eines von Iran dringend gewünschten Handels- und Kooperationsabkommens mit der EU davon abhängig gemacht, dass zunächst sichergestellt sein müsse, dass das iranische Atomprogramm rein friedlichen Zwecken diene. Auch hier keine Distanzierung von den USA. Deren Staatssekretär im Außenministerium, Bolton, verkündete kurz darauf, dass auch ein militärischer Einsatz gegen den Iran "eine Option" sei. (FAZ 21.6.03). Ich halte das unkritische Vorgehen der EU für eine sehr gefährliche Weichenstellung. Sich zu diesem Zeitpunkt an die Seite der USA in ihrem Vorgehen gegen die "Achse des Bösen" zu stellen, bedeutet erfahrungsgemäß, den zu befürchtenden Konfrontationskurs mitzumachen. Die verheerenden Beispiele Jugoslawien, Afghanistan und Irak belegen, dass er im Krieg gipfelt.

Die EU begräbt ihren zivilen Charakter. Nachdem die EU-Außenminister am 16. Juni beim Vorgehen gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zum ersten Mal die Anwendung von Gewalt nicht ausschlossen, präsentierte der Außenbeauftragte Solana einen Entwurf einer EU-Sicherheitsstrategie. "In der Zeit neuer Bedrohungen - genannt werden Massenvernichtungswaffen, der Terrorismus und das Vorhandensein instabiler, schlecht regierter Staaten - werde die Verteidigungslinie dagegen oft außerhalb der Landesgrenzen liegen," berichtet die FAZ aus dem Papier. Die Reaktion könne auch militärisch sein. Wörtlich heißt es in Solanas Doktrin-Entwurf: "Als eine Union mit 25 Mitgliedern, die insgesamt 160 Milliarden Euro für die Verteidigung aufwendet, sollten wir nötigenfalls in der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig aufrechtzuerhalten. Wir müssen eine strategische Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen begünstigt." Direkt bezogen auf diese Passage des Solana-Papiers bemerkte sein Nachfolger im Amt des NATO-Generalsekretärs, der Brite Robertson, dass "im Vergleich dazu [...] die Forderungen des Prager Nato-Gipfels im vorigen Herbst ‚nahezu milde'" seien. Robertson zeigte sich ob dieses Strategie-Papiers "optimistisch, dass die Sicherheitsstrategien der Vereinigten Staaten und Europas miteinander vereinbar seien." (FAZ 25.6.03) Im Klartext: Beide orientieren auf den Präventivkrieg. Das Solana-Papier wurde auf dem EU-Gipfel nach den Worten Schröders allseits "akzeptiert". Beobachter gehen davon aus, dass es von den EU-Regierungschefs am EU-Gipfel zum Ende der italienischen Ratspräsidentschaft im kommenden Dezember im wesentlichen angenommen wird.

Allerdings stößt das militärische Vorgehen der EU in unserem Land auf überwiegende Ablehnung. Eine repräsentative Umfrage von NFI-Infratest vom 17. bis 19. Juni 2003 unter rund 1000 Deutschen im Auftrag des Spiegel lässt hoffen: "Frage: Die EU will künftig Staaten, die sich an der Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln beteiligen, als letztes Mittel auch mit militärischer Gewalt drohen. Was halten sie von dieser Strategie?" Befürworte ich: 18 %; lehne ich ab: 80 % (Der Spiegel 23.6.03, Nr. 26/03, S. 20).

Hoffen soll nicht heißen, die Hände in den Schoß zu legen, sondern im Gegenteil, handeln wir, um die Mehrheit gegen die drohenden EU-Kriege zu mobilisieren. Hiroshimatag und Antikriegstag bieten dazu schon bald Gelegenheit.


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