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"Das ist ein klares, ein bestimmtes Nein"

Außenminister Fischer will nicht EU-Außenminister werden und distanziert sich vom "Kerneuropa"-Gedanken

Bundesaußenminister Fischer gab Ende Februar 2004 der Berliner Zeitung ein Interview, das in mehrerer Hinsicht aufschlussreich ist. Einmal distanziert er sich darin von der "Kerneuropa"-Idee, die er noch in seiner dafür berühmte Rede in der Humboldt-Universität 2000 vertreten hatte. Zum zweiten legt er sich endgültig (falls dieses Wort für Politiker überhaupt etwas bedeutet) fest, auf keinen Fall Außenminister der EU werden zu wollen. Und zum dritten erteilt er allen Bestrebungen, über die Annahme der EU-Verfassung auch in Deutschland eine Volksabstimmung durchzuführen, eine klare Absage. Für Volksabstimmungen gebe es keine "Tradition" in Deutschland, behauptet Fischer und fährt wörtlich fort: "Worüber wollen Sie die Leute überhaupt abstimmen lassen? Über die Europäische Verfassung, über den Nizza-Vertrag? Wer versteht denn das? Anders als meine Partei - das gebe ich zu - sehe ich persönlich die Notwendigkeit einer Volksabstimmung nicht." - Dies alles war nicht nur ein beiläufiges Interview. Die Tatsache, dass es auch auf der Homepage des Auswärtigen Amts veröffentlicht ist (www.auswaertiges-amt.de), zeigt sein besonderes Gewicht.

Im Folgenden dokumentieren wir einen großen Teil des Interviews aus der Berliner Zeitung vom 28. Februar 2004.



"Klein-europäische Vorstellungen funktionieren einfach nicht mehr" - Interview von Bundesaußenminister Fischer mit der "Berliner Zeitung" vom 28.02.2004

Herr Außenminister, können Sie verstehen, dass Leute Angst haben vor dem EU-Beitritt der Türkei? Dass es ihnen vorkommt, als stünden die Türken zum zweiten Mal vor Wien?

Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich bin als katholischer Süddeutscher aufgewachsen. Aber ich teile es nicht.

Aber Sie sind trotzdem dafür, Beitrittsverhandlungen zu beginnen?

Es gibt die landläufige Meinung, dass Politiker lernresistent sind. Ich bin das nicht. Früher habe ich zu denen gehört, die zu 51 Prozent für den Türkei-Beitritt waren und zu 49 Prozent Zweifel hatten. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich das bei mir grundlegend verändert. Seitdem wurde immer klarer, dass die europäische Einigung auch eine strategische Dimension hat. Hier wäre eine Türkei, die europäischen Standards entspricht, ebenso von größter Bedeutung wie die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU.

Was heißt strategische Dimension?

Europa ist geschaffen worden als Antwort auf die Katastrophe der beiden Weltkriege. Es wurde pragmatisch mit der Wirtschaft begonnen, aber es hatte wesentlich eine historische Dimension: die Versöhnung von Deutschen und Franzosen. Pragmatik und Geschichte haben die Gründerväter bewegt. Doch jetzt stellen wir fest, dass die Union auch zum strategischen Projekt geworden ist. Das hängt mit zwei Daten zusammen: dem 9. November 1989 und eben dem 11. September 2001. Beide haben das Bild von der Europäischen Union verändert und zugleich verstärkt.

Seit dem ersten Datum sind 14 Jahre vergangen. Eine späte Erkenntnis?

Schauen Sie: Das Ende des Kalten Kriegs hat lange Zeit die Sicht auf die Zukunft verstellt. In der Ersten Welt haben wir in den 90-er Jahren eine rauschende Fete gefeiert. Aber genau in dieser Zeit ist in Afghanistan eine völlig neue Gefahr herangewachsen. Aus einem zusammengebrochenen Staat heraus wurde die Erste Welt bedroht. Nicht militärisch; die Militärmacht der USA hat durch den 11. September kaum einen Kratzer abbekommen. Es war die Kriegserklärung einer terroristischen Gruppe, deren Weltbild auf einer totalitären Idee fußt. Das ist die Gefahr für unsere offene Gesellschaft und für unsere Art zu leben.

Ein neuer Feind.

Ja. Wir müssen begreifen, dass man diese Konflikte nicht mehr ins Kellergeschoss der internationalen Politik verbannen und sagen kann: Moralisch schlimm, humanitär auch, aber für uns nicht bedrohlich. Wir haben eine neue Aufgabe, die dieses Jahrhundert bestimmen wird: Wir müssen die Globalisierung politisch gestalten. Die asymmetrischen Konflikte zu beherrschen und nach Möglichkeit zu lösen, das geht nur, wenn man in kontinentalen Größenordnungen handeln kann. Russland, China, Indien und natürlich die Vereinigten Staaten - die haben die notwendige Größe. Für uns Europäer stellt sich die Frage, ob wir eng genug zusammen wachsen können, um unser Gewicht geltend zu machen. In diesem Lichte muss man auch die Türkei-Diskussion sehen.

Sie glauben, Europa wird durch die Erweiterungen nicht geschwächt, sondern gestärkt?

Ja. Die klein-europäischen Vorstellungen funktionieren einfach nicht mehr. Damit kann unser Kontinent die strategische Dimension nicht ausfüllen. Und die ist unverzichtbar.

Sie selbst klangen früher anders.

Zum Teil ja. Aber dies war vor der weltpolitischen Zäsur des 11. September. Mir fällt zunehmend auf, dass wir das europäische Denken noch nicht genug an die Wirklichkeit angepasst haben. Wir haben heute auf europäischer Ebene eine ähnliche Schwierigkeit, gedanklich die Veränderungen nachzuvollziehen wie einst die Westdeutschen: Damals haben wir gedacht, die Einheit bedeutet, dass die DDR beitritt, und in der Bundesrepublik alles so bleibt wie es war. Das war ein großer Irrtum. Wir hätten begreifen müssen, dass etwas Neues entsteht. So ist es jetzt auch in Europa. Nach der Erweiterung wird die Union eine andere sein.

Noch im Jahr 2000 haben Sie an der Humboldt-Universität das Europa der Zukunft kleinteiliger beschrieben.

Ich würde die Humboldt-Rede heute in Teilen anders halten. Ich bin zwar mehr denn je überzeugt, dass Europa mehr Integration und stärkere Institutionen braucht. Aber klein-europäische Vorstellungen teile ich nicht mehr. Das Konzept einer europäischen Avantgarde ...

... also eine Gruppe einzelner EU-Länder, die in der Integration schneller voranschreiten will...

... kann unter Umständen zeitweise nützlich sein. Aber nur innerhalb des fest verankerten Rahmens der europäischen Verfassung.

Die Idee von Kerneuropa ist passé?

Ich meine: Ja.

Aber funktioniert Europa denn mit 25 oder 30 Mitgliedsstaaten noch?

Natürlich bedeutet diese Größe und strategische Ausrichtung einen Zwang zur Integration, der weit über das bisher Versuchte hinausgeht. Bei so vielen verschiedenen Ländern müssen wir den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken. Die Verabschiedung der EU-Verfassung wird dafür ganz entscheidend sein.

Lässt sich denn mit dieser Verfassung auch die nächste und übernächste Erweiterung noch bewältigen?

Ja, bestimmt. Die Verfassung ist hervorragend. Sie ist flexibel, sie ist dynamisch, sie hat Entwicklungsmöglichkeiten.

Aber sie ist noch nicht verabschiedet. Glauben Sie, dass es dieses Jahr, im zweiten Anlauf, gelingt?

Ich hoffe es.

Die Bundesregierung will unbedingt, dass die EU ihre Beschlüsse mit doppelter Mehrheit fasst - mit einer Mehrheit der Staaten, die auch für eine Mehrheit der Bürger stehen müssen. Ist das Ihr letztes Wort?

Wir sind der festen Überzeugung: Besser jetzt keine als eine schlechte Verfassung. Eine Verwässerung in diesem Kernbereich würde aber zu einer schlechten Verfassung führen. Dann sollte man lieber mit den bisherigen EU-Verträgen weiter machen und sehen, wie weit man kommt. Ich glaube, nicht sehr weit.

Würde dann Kerneuropa entstehen? Mit - sagen wir - dem Zentrum Deutschland und Frankreich und einem Rest, der sich anschließen kann, wenn er mag?

Nein. Das sehe ich nicht.

Was passiert denn dann?

Europa wird in sehr schwieriges Fahrwasser kommen. Es wird sich Druck aufbauen, weil ohne die Verfassung keine optimalen Lösungen möglich sind. Es werden verschiedene Integrationsgeschwindigkeiten zwischen den Staaten entstehen. Wir wollen das nicht. Es kann deswegen auch nur eine Übergangsphase sein. Ich glaube, der Druck wird so stark werden, dass die Geschichte die Dinge in die richtige Richtung schiebt.

Europa könnte aber auch auseinander fliegen.

Nein. Dazu ist Europa zu alt, die Institutionen zu gefestigt. Ein Scheitern können wir uns einfach nicht erlauben.

Das klingt sehr nach: Die Krise ist keine Krise, sondern eine Chance...

... keine Entwicklung ohne Krise, das ist eine Grundkonstante. Eine Krise ist keine Krankheit, sondern entsteht, weil Form und Inhalt wieder aneinander angepasst werden müssen. Im Prozess des Erwachsenwerdens erlebt man immer wieder, dass Entwicklungen, die lange unsichtbar verlaufen, in biografische Krisen führen. Das gilt auch für Nationen, für Völker, für die Politik. Und das gilt auch für Europa.

Was sagen Sie Ihren Landsleuten, von denen nicht einmal jeder Zweite findet, dass die EU-Mitgliedschaft Nutzen für Deutschland bringt?

Das ist eine virtuelle Frage. Sie gehen auf die Straße und fragen jemanden: Was halten Sie von Europa? Der hat schlecht geschlafen oder ist schlecht gelaunt. Also sagt er: Alles Mist! Aber wenn Sie fragen würden: Wollen wir die europäische Integration voranbringen oder raus aus der Europäischen Union? Verfassung oder in letzter Konsequenz Austritt? Das wäre eine echte Abstimmung, und nicht nur der Vorwand für negativen Populismus.

Und wie würde die Abstimmung ausgehen?

Ganz klar für Europa - dafür würde sich die übergroße Mehrheit der Deutschen entscheiden. Die Leute sagen doch alle: Europa muss dieses machen, Europa muss jenes machen. Darin wird die Einsicht der Menschen klar, dass Europa unverzichtbar ist. In den USA wird vieles Washington angelastet, bei uns ist man gegen Brüssel. Das ist ein Reflex gegen die Zentralisierungstendenzen, die große Zusammenschlüsse mit sich bringen. Das halte ich für einen normalen Vorgang.

Was spricht dann in Deutschland gegen eine Volksabstimmung über die Europäische Verfassung?

Dafür haben wir die Tradition nicht. Worüber wollen Sie die Leute überhaupt abstimmen lassen? Über die Europäische Verfassung, über den Nizza-Vertrag? Wer versteht denn das? Anders als meine Partei - das gebe ich zu - sehe ich persönlich die Notwendigkeit einer Volksabstimmung nicht.

Würden Sie gerne Superkommissar werden?

Nein.

Sie sehen Ihre Zukunft hier?

Ja, ich sehe meine Zukunft hier. Und später dann ganz woanders.

Auch nicht als erster Außenminister der Europäischen Union?

Nein. Hören Sie genau zu: Das ist ein klares, ein bestimmtes Nein.
(...)

Erschienen: 28.02.2004 Berliner Zeitung

Quelle: Homepage des Auswärtigen Amtes (www.auswaertiges-amt.de)



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