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Aggressive Pendeldiplomatie

Analyse: Washington hat unlängst das "pazifische Jahrhundert" der Vereinigten Staaten verkündet. Um nicht ins Abseits zu geraten, versucht die deutsche Außenpolitik auf Schleichwegen, in der Asien-Pazifik-Region besser Fuß zu fassen

Von Jörg Kronauer *

Kein geringerer als Wolfgang ­Ischinger erhob zu Jahresbeginn warnend seine Stimme. Der Strategiewechsel, den die Vereinigten Staaten unter dem Schlagwort »pazifisches Jahrhundert« eingeleitet hätten, müsse »für Europa ein dringender Weckruf sein«, äußerte der altgediente Diplomat, als die Militärzeitschrift Europäische Sicherheit&Technik (Heft 1/2012) ihn zur aktuellen weltpolitischen Lage befragte. »Nichts wird mehr so sein wie früher«, prophezeite Ischinger, der einst unter Genscher, Kinkel und Fischer im Auswärtigen Amt Karriere gemacht hatte, Staatssekretär im Außenministerium und Botschafter in Washington gewesen war, bevor er 2008 die Leitung der Münchener »Sicherheitskonferenz« übernahm. Die Neuausrichtung der US-Außenpolitik werde schon bald gravierende Folgen für Deutschland und die EU haben, wenn hierzulande kein Umdenken erfolge, sagte er voraus: Europa sei »dabei, als außen- und sicherheitspolitischer Akteur vom Radarschirm der Regierungen in Asien, aber auch in Washington zunehmend zu verschwinden«. Das müsse unbedingt verhindert werden.

 Im November 2011 hat die US-Regierung einen tatsächlich sehr weitreichenden außenpolitischen Schwenk gleichsam zu ihrer offiziellen Doktrin erhoben: die Wende vom Atlantik zum Pazifik. Hintergrund ist der seit Jahrzehnten anhaltende Aufstieg der Volksrepublik China, der eines völlig klargemacht hat: »Die Rivalität der beiden Supermächte China und Amerika wird das 21. Jahrhundert bestimmen«, so formulierte es etwa das Elitennetzwerk »Atlantik-Brücke«, das sich der Pflege guter Beziehungen zwischen Deutschland und den USA verschrieben hat. Die Erkenntnis ist nicht neu. Bereits US-Präsident George W. Bush hatte im Februar 2002 anläßlich eines Aufenthalts in Japan von einem »pazifischen Jahrhundert« gesprochen, um zu verdeutlichen, daß der zentrale Zukunftskonflikt in Ostasien liege: China werde zu stark. Ebenfalls in Japan hatte sein Nachfolger Barack Obama im November 2009 erklärt, er wolle »Amerikas erster pazifischer Präsident« sein. Zuvor, im Februar 2009, war Außenministerin Hillary Clinton zu ihrer symbolträchtigen ersten Auslandsreise im Amt aufgebrochen – nach Japan. Im November 2011 gab Washington seine Umorientierung nun in aller Form bekannt: Während einer Asienreise des Präsidenten erschien in der prominenten US-Zeitschrift Foreign Policy, die sich an ein breiteres Publikum wendet, ein programmatischer Beitrag der Außenministerin – unter dem prägnanten Titel »Amerikas pazifisches Jahrhundert«.

Von West nach Ost

Daß dies Folgen für die deutsche Außenpolitik hat, liegt auf der Hand. Jahrzehntelang, nicht nur in der Zeit der Systemkonfrontation, sondern auch noch danach, hatte Europa ganz im Mittelpunkt der Weltpolitik gestanden. Das ändert sich nun. »Die weltwirtschaftlichen und damit auch die weltpolitischen Gewichte verschieben sich von West nach Ost, vom Atlantik zum Pazifik«, war zum Beispiel auf der Website der »Atlantik-Brücke« im letzten Herbst zu lesen. In Washington sei »heute immer häufiger zu hören: Unsere Zukunft ist transpazifisch, nicht transatlantisch«. Bei der »Atlantik-Brücke« kam man zu dem Schluß: »Auf diese Machtverschiebung müssen wir Europäer uns einstellen.« Dasselbe forderte kurz vor der Münchener »Sicherheitskonferenz« auch deren Leiter Ischinger. »In der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß sich die weltpolitischen Gewichtungen verschoben haben und weiter verschieben werden«, urteilte er. Bedauernd fügte er hinzu: »Während die USA ihre Politik immer stärker auf Asien ausrichten, fehlt es Europa immer noch am strategischen Gesamtkonzept.« Das müsse sich nun dringend ändern.

Die Überlegungen, die in Berlin angestellt werden, um auf die Verschiebung der weltpolitischen Schwerpunkte zu reagieren, sind durchaus unterschiedlich. Einig sind sich die Experten darin, daß es unbedingt wünschenswert wäre, in der gesamten Asien-Pazifik-Region, dem Ort der zentralen weltpolitischen Entwicklungen der Zukunft, möglichst stark präsent zu sein. In der Realität aber, heißt es immer wieder, schrumpften seit einiger Zeit der deutsche und der europäi­sche Einfluß dort recht deutlich. Die Bedeutung, die der EU in Ost- und Südostasien beigemessen werde, sei gegenwärtig auf einem »Tiefpunkt«, berichtete der zuständige Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Mitte November. Während der pazifische Schwenk der US-Außenpolitik – je nach Ansicht wohlwollend oder skeptisch – wahr- und höchst ernstgenommen werde, »schreibt und spricht die politische und wirtschaftliche Elite der Region über Europa« angesichts der Euro-Krise »wie über einen kranken Mann«. »Europäer, die in asiatischen Hauptstädten leben, berichten, daß kaum noch ein Gespräch vergehe, ohne daß sie auf die Krise in ihren Heimatländern angesprochen würden«, hieß es weiter: Einige Diplomaten reagierten »auf das ›Europa-Bashing‹ schon gereizt«.

Dabei schlage sich die spürbare Geringschätzung für Europa, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung weiter, durchaus auch schon auf unmittelbar politischer Ebene nieder. So hätten beim APEC-Gipfel Mitte November »immerhin noch EU-Beobachter das Geschehen verfolgen« dürfen. APEC, das 1989 von den USA gegründete »Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsforum« (Asia-Pacific Economic Cooperation), besitzt auf ökonomischer Ebene durchaus Bedeutung: Ihm gehören nicht nur Staaten Ost- und Südost­asiens sowie Australien und Neuseeland, sondern neben den USA und Kanada auch einige ausgewählte lateinamerikanische Länder und Rußland an. APEC bildet damit einen wichtigen Rahmen für Washingtons »pazifisches Jahrhundert«, und insofern war es für Berlin und die EU keineswegs irrelevant, wenigstens Beobachter zu dem Gipfel entsenden zu können, auch wenn die FAZ klagte, es sei »eher über als mit Europa« diskutiert worden. Alarmiert war das Blatt jedoch vor allem, weil es Brüssel nicht gestattet worden war, in welcher Form auch immer am nur eine Woche später stattfindenden »Ostasiatischen Gipfel« teilzunehmen. Dort werde über bedeutende politische Fragen auch jenseits der Ökonomie gesprochen, erläuterte die Zeitung, und es seien mit China und den USA die zentralen Mächte der Zukunft dabei. »Entsprechend zähneknirschend berichten europäische Diplomaten, daß Brüssels Bitte um Mitwirkung geradezu brüsk abgewiesen wurde«, teilte der Korrespondent mit: Man spreche hinter vorgehaltener Hand empört »von einer Ohrfeige«. Die Staaten im künftigen asiatisch-pazifischen Zentrum des Weltgeschehens wollten offenbar »den alten Kontinent nicht dabeihaben«.

China: Partner und Rivale

Um gegenzusteuern, forciert Berlin bereits seit Jahren nicht nur den Ausbau der Kooperation mit der Volksrepublik China, die in absehbarer Zeit zum wichtigsten Wirtschaftspartner Deutschlands überhaupt werden dürfte. Um Chinas Boom nicht nur ökonomisch zu nutzen, sondern ihm gleich auch etwas entgegenzusetzen – China gilt schließlich weithin als zukünftiger Rivale auch Berlins –, bemüht sich die Bundesrepublik seit Jahren außerdem um eine intensive Zusammenarbeit mit den zehn Ländern des südost­asiatischen Staatenbundes ASEAN (Association of Southeast Asian Nations), also mit Chinas unmittelbarer Einflußsphäre. So treibt sie den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen systematisch voran – durchaus nicht ohne Erfolg: Nach dem krisenbedingten Einbruch von 2009 wachsen deutscher Handel und deutsche Investitionen in Südostasien inzwischen wieder spürbar. Unter den Handelspartnern des ASEAN-Bündnisses befindet sich die EU immerhin noch auf einer Augenhöhe mit den drei großen ökonomischen Rivalen in der Region – mit den USA, Japan und natürlich China. Allerdings läuft aus deutscher Sicht beileibe nicht alles wirklich rund. Während 2010 ein Freihandelsabkommen zwischen ASEAN und China in Kraft trat, sind Gespräche über ein Freihandelsabkommen zwischen ASEAN und EU im Jahr 2009 gescheitert. Brüssel muß jetzt mit einzelnen Staaten über Verträge verhandeln. Das kostet wertvolle Zeit und läßt Europa auf lange Sicht wohl zurückfallen.

Die deutschen Einflußbemühungen in Südostasien haben keineswegs nur eine ökonomische Dimension. Bereits in den 1990er Jahren hat die EU begonnen, mit den Ländern der Region über sogenannte Sicherheitsfragen zu verhandeln. Dabei ging es insbesondere um Seewege, etwa um die Straße von Malakka zwischen Indonesien, Malaysia und Singapur. Bis zu einem Viertel des globalen Seehandels, unter anderem der deutsche Ostasien-Handel, verläuft durch die Straße von Malakka, woraus sich die hohe geostrategische Bedeutung der Meerenge ergibt. An ihrem Eingang liegt die indonesische Provinz Aceh, und als sich nach dem verheerenden Tsunami Ende 2004 der Bundeswehr die Chance bot, dort mit einem Hilfseinsatz Fuß zu fassen, da griff Berlin beherzt zu. Es folgte ein EU-Einsatz (»Aceh Monitoring Mission«), offiziell selbstverständlich zur Beilegung der inneren Konflikte in dem Gebiet. Die deutsch-europäischen Interventionen könnten »in der Region als Hinweis betrachtet werden, daß wir Verantwortung schätzen und bereit sind, Hilfe zu leisten«, ließ sich Anfang 2007 der Leiter der EU-Delegation in Südostasien vernehmen. Zu dieser Zeit hatte die Bundesrepublik gerade die EU-Ratspräsidentschaft inne und nutzte sie, um die Kontakte vor allem zu ASEAN zu intensivieren – auch, wie das Auswärtige Amt damals mitteilte, auf dem Gebiet der sogenannten Sicherheitspolitik.

Militärisch braut sich in Ost- und Südostasien einiges zusammen, seit die USA angekündigt haben, dort stärker aktiv zu werden. Bekanntestes Beispiel sind die Konflikte um verschiedene Inselgruppen vor allem im Südchinesischen Meer, die jeweils von China sowie einem oder mehreren anderen Staaten der Region beansprucht werden. Washington hat letztes Jahr ausdrücklich erklärt, in derlei Konflikten die kleineren Staaten wie Vietnam gegen China zu unterstützen. Bereits 2010 hatten US-Kriegsschiffe an der Küste Vietnams ankern können, Anfang August 2011 unterzeichneten die Regierungen beider Länder schließlich ein erstes Abkommen über militärische Zusammenarbeit. Die Bundesrepublik bezieht Vietnam in ihre Bemühungen, in Südostasien Fuß zu fassen, ebenfalls militärpolitisch ein. Erste Beziehungen bauten die Streitkräfte Deutschlands und Vietnams im Jahr 2009 mit Kooperationen der Sanitätsdienste auf. In der Bundeswehr war anschließend zu erfahren, Deutschland sei »für die vietnamesische Seite der Wunschkandidat für eine noch intensivere Zusammenarbeit mit dem Westen«. Bei seinem Versuch, die eigene Position in Südostasien auszubauen und dabei auch stärkere militärpolitische Aktivitäten zu entfalten, trifft sich Berlin also wieder mit dem zum Pazifik hingewandten Washington.

Stärkung prowestlicher Mächte

Das kann kaum ohne Folgen bleiben. Deutsche Regierungsberater haben die Einflußmaßnahmen der USA in der Asien-Pazifik-Region sehr genau im Blick. Als US-Präsident Obama im November 2011 ankündigte, in Darwin im Norden Australiens gut 2500 Soldaten dauerhaft zu stationieren, da erläuterte ein USA-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Josef Braml, den Hintergrund. Schon 2007, berichtete er, hätten die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Singapur, Australien, Indien und Japan ein Seemanöver an der Straße von Malakka durchgeführt. Man müsse davon ausgehen, daß China die Bemühungen des Westens um die Kontrolle der wichtigen Meerenge sehr sorgfältig registriere; schließlich führe es durch sie beispielsweise bis zu 60 Prozent seines Erdöls ein. Daher erwarteten US-Experten, schrieb Braml vor kurzem, daß Beijing sich bemühen werde, »die beiden anderen Seewege zum Indischen Ozean« zu sichern – die Sunda- und die Lombok-Straße, die beide zwischen indonesischen Inseln verlaufen. Das allerdings erfordere es, daß China »eine gewisse Militärpräsenz im Seegebiet nahe der Nordküste Australiens« aufbaue (zit. n. Asien. The German Journal on Contemporary Asia, Heft 1/2012). Das ist genau die Region, in der Obama nun die neue australische US-Militärbasis bauen läßt.

Die Vereinigten Staaten errichteten einen »Feuer­ring«, der »präventiv um China gelegt« werde und den Washington »im Konfliktfall auch durchaus zu aktivieren gewillt« sei, urteilte ein Experte im Juni 2011 auf einer China-Tagung der »Bundesakademie für Sicherheitspolitik« in Berlin. Man stelle sich dabei explizit auf »einen potentiellen militärischen Schlagabtausch mit der Volksrepublik« ein. Deutschland mischt seinerseits mit. Zwar werden US-Überlegungen, einige Staaten der Region – etwa Australien, Japan und Südkorea – in die NATO aufzunehmen, von der Bundesregierung bisher abgelehnt. Doch laufen die militär- und vor allem die rüstungspolitischen Aktivitäten Berlins ebenfalls auf eine Stärkung der prowestlichen Kriegsmächte in der Asien-Pazifik-Region hinaus. Beispiel Militärkooperation: Zwar lehnt Deutschland eine formelle ­NATO-Erweiterung in Asien ab, ist jedoch zu einer militärischen Zusammenarbeit der NATO etwa mit Australien bereit. Mit Japan und mit Südkorea will die Bundeswehr in Zukunft selbst enger kooperieren. Südkorea gehörte im vergangenen Jahrzehnt zu den zehn bedeutendsten Empfängern deutscher Rüstungsprodukte und stand auf der Käuferliste im Jahr 2008 sogar auf Platz eins. Auch Australien erwarb zuletzt Militärgüter für zwei- bis dreistellige Millionenbeträge im Jahr. Singapur erwarb vor einigen Jahren rund 100 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A4, was bemerkenswert ist – braucht Singapur als kleiner Stadtstaat wirklich 100 deutsche Kampfpanzer zur Selbstverteidigung? Immerhin: Eine Einweisung in die Leopard-Benutzung erhielten singapurische Soldaten direkt an der Panzertruppenschule in Munster. Selbst das ASEAN-Mitglied Brunei Darussalam, ein Sultanat, in dem weniger als eine halbe Million Menschen leben, wird von der Bundesrepublik aufgerüstet. Im Jahr 2009 war es als Käufer von Patrouillenbooten der viertgrößte Empfänger deutschen Kriegsgeräts. Brunei erhebt Anspruch auf die Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer – ganz wie die Volksrepublik China.

Aus dem Windschatten

Bei alledem ist absehbar, daß Deutschland, selbst wenn es national und mit Hilfe der EU in der Asien-Pazifik-Region besser Fuß fassen sollte, sich mit Aktivitäten dieser Art kaum auf Dauer gegen die militärisch dominanten Vereinigten Staaten durchsetzen kann. Im Windschatten der USA in einen großen Krieg mit China segeln – das kann, das meinen so manche im Berliner Establishment, doch wohl kaum die machtpolitisch beste Lösung sein. Euro-Krise hin, Euro-Krise her: Den Anspruch, auf der obersten Ebene der Weltpolitik mitzuspielen, will kaum jemand in der deutschen Hauptstadt preisgeben. Und so hat die Bundesregierung, während Washington seinen Schwenk hin zum Pazifik vorbereitete und ihn schließlich im November 2011 ganz offiziell verkündete, sich an eine Strategie gewagt, die es möglich machen soll, eine gegenüber den pazifisch gewendeten USA eigenständige globale Machtpolitik zu betreiben, ohne direkt in Konflikt mit dem transatlantischen Verbündeten zu geraten. Herausgekommen ist das sogenannte Gestaltungsmächte-Konzept, das das Kabinett am 8. Februar gebilligt hat und das gleich darauf im Auswärtigen Amt der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Die Stoßrichtung des »Gestaltungsmächte-Konzepts« kann man detailliert den Vorarbeiten für die Strategie entnehmen, die unter anderem die vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) durchgeführt hat. Die Ergebnisse eines ausführlichen Forschungsprojektes zum Thema liegen in einem Sammelband vor, der anstelle des zu PR-Zwecken erfundenen Orwell’schen Worts »Gestaltungsmächte« den nicht ganz so verschleiernden Begriff »regionale Führungsmächte« benutzt.[1] Deutschland könne, heißt es darin, sein Machtpotential nur dann in aller Welt voll in Anschlag bringen, wenn es zusätzlich zu seinen bestehenden Bündnissen weitere »Koalitionen und Allianzen« mit bedeutenden Mächten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens eingehe. Der Hintergedanke ist simpel: Arbeitet man mit Staaten wie Brasilien, Südafrika oder Indien, die ihrerseits die Hegemonie über ihre Nachbarländer anstreben, eng zusammen, dann kann man die regionale Vormacht möglicherweise gemeinsam erlangen. Bei Bedarf biete es sich an, auch die EU zu derlei Bestrebungen zu nutzen, heißt es in der Publikation; allerdings dürfe »die Entwicklung eigener Potentiale und Optionen« keinesfalls »einer voreiligen Europäisierung geopfert werden«. Etwas einfacher ausgedrückt: Das nationale Interesse geht natürlich vor.

Ausgehend von dieser Grundidee entwirft das »Gestaltungsmächte-Konzept« zahlreiche ­Ideen, die zur Umsetzung der Strategie beitragen können. Wolle man gemeinsam mit regionalen Mächten, die »einen starken Gestaltungswillen« zum Ausdruck brächten, »den Spielraum, die Reichweite und das Wirkungsvermögen unserer gemeinsamen, globalen Gestaltungskraft (…) erhalten und ausbauen«, dann müsse man durchaus alle Register ziehen, heißt es. Das beinhalte neben der ökonomischen Kooperation besonders die Einbindung der jeweiligen nationalen Eliten – diese übernehmen ja ihrerseits eine zentrale Rolle beim Aufbau der regionalen Hegemonie. Von »Netzwerken« in Wissenschaft, Forschung und Kultur ist viel die Rede; schließlich sei es »in unserem politischen und wirtschaftlichen Interesse, die künftigen Fach- und Führungskräfte der neuen Gestaltungsmächte nachhaltig für Deutschland zu gewinnen«. Auch mit den jeweiligen »Sicherheitsbehörden« wolle man eine »regelmäßige und institutionalisierte Zusammenarbeit« einleiten; »bilaterale Ausbildungs- und Ausstattungshilfe« wird explizit genannt. Welche Länder kommen nun in Frage, um im Rahmen dieses neuen deutschen Konzepts zum Aufbau deutscher Macht auf allen Kontinenten beizutragen? Nun, das Konzept ist sehr flexibel. Als »gesetzt« können Brasilien, eventuell Mexiko, sicherlich Südafrika und vielleicht Nigeria, bestimmt Indien und mit einer erheblichen Wahrscheinlichkeit auch Vietnam gelten. Über Indien und Vietnam arbeitet sich Berlin also auch hier wieder zur Kooperation mit potentiellen Gegnern Chinas vor.

»Scharnierstellung« der BRD

Muß man eigentlich, wenn man mit Hilfe regionaler Hegemonialmächte eine gegenüber den pazifisch gewendeten USA eigenständige Weltmachtpolitik betreibt, die Volksrepublik China als Gegner betrachten? Zumindest kurz- und mittelfristig ist das aus Sicht einiger Berliner Strategen keineswegs ausgemacht. Wolfgang Ischinger etwa hat im Januar, vor der diesjährigen Münchener »Sicherheitskonferenz«, für den Versuch geworben, die Zusammenarbeit mit Beijing zu intensivieren. Die Konferenz wird seit einigen Jahren von einem »Core Group Meeting« vorbereitet, das 2009 in Washington, 2010 in Moskau und 2011 tatsächlich in Beijing stattfand. An der Konferenz selbst nahm der stellvertretende chinesische Außenminister Zhang Zhijun teil. Einer Stellungnahme Ischingers läßt sich entnehmen, wie eine enge deutsche Kooperation mit China zu Versuchen paßt, der Bundesrepublik, die sich im »pazifischen Jahrhundert« der Vereinigten Staaten geographisch fernab vom Zentrum des Weltgeschehens befindet, einen Platz in den entscheidenden Machtzirkeln zu sichern. »Als Scharnier zwischen Ost und West«, ließ sich ­Ischinger ausdrücklich vernehmen, wolle die Münchener Sicherheitskonferenz »ihren Beitrag leisten, um umfassende strategische Beziehungen zwischen China, den neuen Machtzentren in der Region und der euro-atlantischen Sicherheitsgemeinschaft aufzubauen«. Daß die Konferenz dabei als Kern und Modell für eine generelle, mit erheblichem Einfluß verbundene »Scharnierstellung« Deutschlands gilt, ließ Ischinger deutlich anklingen: »Für alle muß klarsein, daß ohne ein enges und partnerschaftliches Zusammenwirken zwischen Asien und der euro-atlantischen Gemeinschaft die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht zu bewältigen sein werden.«

Die unterschiedlichen Versuche Berlins, auf die pazifische Wende der US-Außenpolitik zu reagieren, widersprechen sich zunächst keineswegs. Man kann eine ganze Weile gemeinsam mit sogenannten regionalen Führungsmächten in aller Welt seine Macht ausbauen und gleichzeitig die eigene Stellung sowohl in China wie auch in Südostasien stärken, ohne in unlösbare Widersprüche zu geraten. Zu Schwierigkeiten könnte es allerdings führen, daß Berlin mit Aufrüstung und Militärkooperation die asiatisch-pazifischen Partner des Westens stärkt – selbstverständlich gegen Beijing, das wohl nicht auf Dauer bei solchen Aktivitäten tatenlos zuschauen kann. Erst wenn sich die Rivalitäten stärker zuspitzen, wird Berlin deutlicher Stellung beziehen müssen. Bis dahin aber kann man ohne ernsthafte Probleme mit allen Seiten kooperieren und das zugleich als »Wandel durch Annäherung« verkaufen – ganz wie damals.

[1] Husar, Jörg u.a. (Hg.): Neue Führungsmächte: Partner deutscher Außenpolitik? Baden-Baden 2009

* Jörg Kronauer ist Sozialwissenschaftler, freier Journalist und Redakteur bei german-foreign-policy.com

Aus: junge Welt, 3. März 2012



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