"Die Enttabuisierung des Krieges in der deutschen Außenpolitik ist fast abgeschlossen"
Jochen Hippler über die Etappen der "Normalisierung" seit dem Ende des Kalten Krieges
Unter dem Titel "Endstation Abenteuer" zeichnet der Friedenswissenschaftler und Nahost-Experte Jochen Hippler vom Institut Entwicklung und Frieden-INEF in einem Artikel für den "Freitag" die Etappen nach, welche die Bundesrepublik seit dem Ende des Kalten Krieges durchschritt, um zu einem "normalen" Staat mit weltweiten militärischen Ambitionen zu werden. Wir dokumentieren im Folgenden den Artikel.
Vor kaum mehr als einem Jahrzehnt, in der Schlussphase der "alten"
Bundesrepublik, gab es einen Konsens: die Bundeswehr konnte und sollte
nicht außerhalb des NATO-Geltungsbereichs eingesetzt werden. Darin
bestand Einigkeit von den damals noch friedensbewegten Grünen bis zur
CSU. Diese Position hat sich seither ebenso gravierend verändert wie die
Militärdoktrin der NATO.
Das Ende des Kalten Krieges veränderte die sicherheitspolitischen
Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik einschneidend: Bereits
1988/89 hatten - sehr zaghaft zunächst - Debatten um neue Einsatzformen
der Bundeswehr begonnen, zuerst bezogen auf den Persischen Golf
(Minenräumen) und das Mittelmeer (Ersatz von US-Schiffen, die zum Golf
verlegt wurden). Dann gewann die Diskussion bald an Fahrt - es wurde
über die Notwendigkeit räsoniert, deutsche Soldaten außerhalb des
NATO-Gebietes einzusetzen: aber natürlich nur aus humanitären und
friedenserhaltenden Gründen - und ausschließlich im Rahmen der UNO
und als "Blauhelme" - also ohne Kampfauftrag (peace keeping-Missionen)
und nur bei Zustimmung der betroffenen Konfliktparteien. Ein schöner
Diskurs, bei dem sich die Befürworter neuer Militäreinsätze mächtig ins
moralische Zeug legten: Es gehe ja gar nicht um das Militär, sondern
letztlich um die Stärkung der UNO. Und wer eine aktivere Rolle der
Vereinten Nationen in der Welt wolle, so hieß es, der müsse ihnen auch
deutsche Soldaten zur Verfügung stellen.
Deutsche Soldaten auf dem Balkan - zur Not ohne UN-Mandat
Die nächste Stufe der Debatte Anfang der neunziger Jahre kreiste ebenfalls
noch um die UNO - allerdings: die Einschränkung auf Blauhelme wurde
bald fallengelassen. Zwar ging es noch nicht um tatsächliche
Kampfeinsätze - dazu war der innenpolitische Widerstand zu groß -, aber
die deutschen Truppen in Somalia (1993/94) waren schon keine Blauhelme
mehr, sondern Teil einer Strategie zur Friedenserzwingung (peace
enforcement).
Danach verschob sich die Debatte weiter, über Bosnien, den Krieg gegen
Serbien bis zum Kosovo: Da war zunehmend auch die Rolle der UNO nicht
mehr erforderlich, eine Selbstmandatierung der NATO reichte inzwischen
völlig aus, um deutsche Soldaten auf dem Balkan einzusetzen. Der
Luftkrieg gegen Belgrad zwischen März und Juli 1999 wurde natürlich
einerseits als hochgradig humanitäre Angelegenheit annonciert, war aber
zugleich ein Akt der "Solidarität" mit den NATO-Verbündeten. Um hier
nicht zu weit vorzupreschen, wurden die Stationierungen der IFOR
beziehungsweise SFOR-Truppen (Bosnien) nach dem Dayton-Abkommen
vom Dezember 1995 und der KFOR-Truppen (Kosovo) im Juli 1999 wieder
in einen UN-Rahmen eingebettet. In den späten neunziger Jahre dominierte
nach dem Somalia-Debakel (1992-1995) in der westlichen Außenpolitik -
bezogen auf die UNO - eine neue Sichtweise: die Träume von einer
globalen Friedenspolitik waren fortan obsolet, nun sollte - wenn möglich -
die Weltorganisation nur noch "eingebunden" werden. Sie sollte nicht das
politische Entscheidungszentrum sein, sondern anderswo getroffene
Entscheidungen (in Washington oder in Brüssel) im Nachhinein absegnen.
Tat sie das nicht (Kosovo, Afghanistan) - dann war sie offensichtlich
"handlungsunfähig" und musste umgangen werden. Damit entfiel die
zentrale Politikbegründung der früheren Jahre für die größere Rolle der
Bundeswehr - die Rolle der UNO. Interessanterweise wurden die
Entscheidungen erweiterter Einsatzformen trotz geänderter
Geschäftsgrundlagen nicht etwa rückgängig gemacht, sondern im
Gegenteil massiv vorangetrieben.
Die in der vergangenen Woche beschlossene Entsendung deutscher
Truppen in den Afghanistan-Krieg mag sehr unklar bleiben, da weder
Zeitpunkt, noch Ort oder Aufgaben definiert wurden. Eines aber ist klar: der
Einsatz erfolgt weder auf der Grundlage eines Beschlusses der UNO, noch
im Rahmen der NATO. Die Truppenentsendung ist eine im Kern unilaterale
Entscheidung zur Unterstützung des wichtigsten Verbündeten, der USA.
Damit ist wieder eine wichtige Grenzlinie überschritten worden: der
Truppeneinsatz außerhalb jeder Institution, entweder der kollektiven
Sicherheit oder eines Bündnisses.
Schröder geht über die Herz-Jesu-Begründung weit hinaus
Ähnlich wie die institutionelle Einbindung der deutschen Militäreinsätze
verschob sich auch der Begründungszusammenhang. Zwar ist es richtig,
dass die offiziellen Begründungen selten mit den realen Einsatzgründen
übereinstimmten - um so bezeichnender aber die Verschiebung in der
offiziellen Rechtfertigung der Einsätze. Hier verlief die Entwicklung in drei
groben Stufen: zuerst, wie erwähnt, dominierten allgemeine
Weltordnungsargumente, die sich um die Stärkung der UNO und einer
internationalen Friedensordnung gruppierten. Dann wurden humanitäre
Argumente betont, etwa der Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen -
insbesondere Völkermord. Vor allem beim Kosovo-Krieg wurden diese
Argumente auf die Spitze getrieben und manchmal geradezu absurd
überspitzt. Verteidigungsminister Scharping waren die tatsächlichen
Verbrechen der Milos?evic´-Regierung in Belgrad nicht schrecklich genug -
er hielt es zur Legitimation des Krieges für angebracht, weit über die
Peinlichkeitsgrenze hinaus zu erfinden und zu übertreiben. Aber auch
diese Phase der Rechtfertigung hat zwischenzeitlich ihren Höhepunkt
überschritten, wenn humanitäre Argumente auch in Zukunft immer wieder
wichtig werden, wenn sie eine umstrittene Politik rechtfertigen können.
Bundeskanzler Schröder ist allerdings im Herbst 2001 über solche
Herz-Jesu-Begründungen des Krieges weit hinaus gegangen. Er sprach
davon, dass in Zukunft militärische Interventionen - Schröder bestand auf
diesem Wort - nicht allein zur Förderung des Friedens und der
Menschenrechte erfolgen sollten, sondern auch zur Durchsetzung von
"Sicherheit und Stabilität". Sicherheit und Stabilität sind Formulierungen,
die letztlich jede Form eines militärischen Einsatzes rechtfertigen können:
Beide Begriffe sind so vage und unbestimmt, dass sie je nach Bedarf
interpretiert werden können. Letztlich sind sie interessensabhängig und
allumfassend. Da wundert man sich kaum noch, wenn Schröder mehrfach
von der Enttabuisierung des Militärischen in der deutschen Außenpolitik
gesprochen hat - als hätte die deutsche Geschichte bisher an einem
Mangel an militärischen Abenteurern gelitten, als wäre dieses Tabu nicht
ein wichtiger zivilisatorischer Fortschritt gewesen.
Fassen wir den Trend der Ausweitung deutscher Militäreinsätze außerhalb
des NATO-Geltungsbereiches zusammen, ergeben sich drei Ergebnisse:
sie wurden scheibchenweise von der Bindung an UNO-Blauhelmaktionen
bis zur unilateralen Einsatzform in Kooperation mit ausgewählten
Verbündeten ausgeweitet. Ihr geografischer Einsatzbereich ist nun
praktisch weltweit: Bundeswehrsoldaten wurden inzwischen unter anderem
in Osttimor, Kambodscha, auf dem Balkan, in Somalia und anderswo
eingesetzt. Mit der jetzt von Rot-Grün beschlossenen Entsendung gilt ein
noch größerer regionaler Bereich ohne Präzisierung. Deutsche Soldaten
können und sollen in Zukunft zu fast beliebigen Zwecken eingesetzt
werden, solange sie nur nützlich erscheinen. Fazit - die Nachkriegszeit ist
vorbei, Deutschland ist wieder eine normale Militärmacht, die Krieg bei
Bedarf enttabuisiert zur Interessenswahrnehmung betreiben kann. So
schön kann rot-grüne Außenpolitik sein. Aber wie hatte der Außenminister
bei seinem Amtsantritt so trefflich formuliert: Es gebe keine grüne, sondern
nur deutsche Außenpolitik. Diese Drohung hat die Koalition inzwischen
wahrgemacht.
Aus: Freitag, Nr. 48, 23. November 2001
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