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Neuer Griff nach Weltmacht

Unterstützt von der "Bertelsmann Stiftung" entwickelt das "Centrum für angewandte Politikforschung" ein europäisches Großmachtkonzept aus der Perspektive der BRD

Von Werner Biermann *

Die Bertelsmann AG, ein Konzern mit christlicher und Nazivergangenheit, ist in der Bundesrepublik der größte und weltweit am stärksten verflochtene Medienriese; global stärker vernetzt als seine nächsten Konkurrenten Time Warner und Vivendi. Gegenwärtig erwirtschaftet das Familienunternehmen – es ist nicht an der Börse gelistet – mit mehr als 90000 Mitarbeitern einen Umsatz von über 20 Milliarden Euro, davon mehr als zwei Drittel im Ausland (siehe jW vom 31.7. und 1.8.2006).

Der Einfluß des Bertelsmann-Konzerns auf die Politik reicht über den eines Globalplayers hinaus. Denn 1977 gründete der Unternehmenschef Reinhard Mohn die »Bertelsmann Stiftung«. In der öffentlichen Wahrnehmung repräsentiert die Aktiengesellschaft die Sphäre von Profit, Macht und Einfluß, von der sich die unabhängige Denkfabrik vorteilhaft abhebt, da sie sich offiziell gemeinnütziger Arbeit widmet.

Bei der Bertelsmann Stiftung handelt es sich mittlerweile um die größte operative Unternehmensstiftung in Deutschland. Sie bietet Lösungen für von ihr selbst definierte Problemstellungen: vom Kindergarten bis zur Hochschule, von der Kommunalverwaltung bis zur Geopolitik. Sie verfügt über einen Jahresetat von rund 60 Millionen Euro, finanziert über die Beteiligung am Mutterkonzern, sowie über etwa 300 Mitarbeiter, die mehr als 100 Projekte betreuen. Wenn man zur Kenntnis nimmt, daß in allen bedeutsamen sozial-, bildungs- und sicherheitspolitischen Gremien Europas Gutachter der Bertelsmann Stiftung sitzen und die meisten einschlägigen Entscheidungen ihre Handschrift erkennen lassen, gelangt man zu dem Schluß, daß Bertelsmann – und damit die Familie Mohn – eine deutsche und europäische Großmacht ist.

Die Bertelsmann Stiftung ist also keine frei schwebende Forschungsgemeinschaft für kluge Köpfe. Ihre ganze Bedeutung zeigt sich vor dem Hintergrund des Strukturwandels der parlamentarischen Demokratie. Die Ausrichtung der bundesdeutschen Gesellschaft hin zur offenen Hegemonie des Kapitals erfordert tiefe Eingriffe in die Sozialgesetzgebung. Den Wählern sind die ständigen »Reformen« häufig schwer zu vermitteln, es besteht das Risiko, daß die politischen Parteien an den Wahlurnen für dererlei Ansinnen abgestraft werden und das verantwortliche politische Personal Macht, Posten und Pfründe einbüßt. Da bietet es sich an, angeblich neutrale, über den Parteien stehende Institutionen anzurufen, ihre über jeden Zweifel erhabene Expertenmeinung abzugeben, um dann die jeweiligen Ergebnisse medial als Sachzwänge darzustellen, also den Eindruck des faktisch Unausweichlichen zu vermitteln.

Die Stiftung eignet sich hervorragend als »ehrbarer Makler« für solche Arrangements, da sie über entsprechend geschultes Personal verfügt. Sie ist ein politischer Akteur, der sich durch professionelle PR-Arbeit mit einem Image der Unabhängigkeit ausgestattet hat. Sie übt immensen politischen Einfluß auch über das mit ihr verbundene Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) aus. Das 1995 an der Ludwig-Maximilians-Universität München gegründete Centrum wird überwiegend von der Bertelsmann Stiftung finanziert und ist insbesondere auf das Themenfeld der europäischen Integration spezialisiert.

Professor Werner Weidenfeld, Chef des Münchner CAP, des Instituts für Politikberatuung zu europäischen und internationalen Fragen, sowie einer der herausragenden Politikberater in Deutschland, umreißt die Ansprüche im Jahr 2003 mit Blick auf das kommende Jahrzehnt wie folgt: »Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen. (...) Die Bevölkerung der EU wird von heute 371 Millionen auf 539 Millionen anwachsen; etwa doppelt so viel wie die der USA. Ihre Fläche beträgt 5097000 Quadratkilometer, etwas mehr als die Hälfte der USA. Das Bruttosozialprodukt liegt um rund 15 Prozent höher als das der USA. Dieses Potential könnte also den Status einer Weltmacht definieren. China, Rußland und Indien verfügen zwar ebenfalls über große Potentiale, sind aber mit gravierenden Schwächen konfrontiert. Im Vergleich zu diesen Akteuren kommt das Potential der Europäischen Union dem der Weltmacht USA am nächsten – ja, es ist ihm in weiten Teilen sogar überlegen. Nicht erst seit 1989 ist das integrierte Europa eine Weltmacht im Werden. (...) Sie ist Magnet und treibende Kraft in der weltpolitisch bedeutsamen Neuordnung der sowjetischen Hinterlassenschaft; die Agenda der Nachbarschaftspolitik der EU umfaßt Herausforderungen und Akteure von weltpolitischer Brisanz« (Die Welt vom 8.3.2003).

Militärpolitische Schwerpunkte

Diese Vorstellungen greifen die vom Europäischen Rat 2000 in Lissabon beschlossene strategische Zielsetzung auf, die EU bis zum Jahr 2010 auf eine Weltmachtrolle vorzubereiten. Mit dem starken Einfluß des CAP hat die durch den Faschismus lange Zeit diskreditierte Geopolitik wieder Einzug in die deutsche Außenpolitik gehalten. Der Griff in die Mottenkiste deutscher Geostrategen scheint wieder populär zu sein, und es zeigt sich so manche Traditionslinie.

Europa als »gemeinsamer Schicksals- und Zukunftsraum«: Diese bereits bei den Nazis gebräuchliche Begrifflichkeit umschreibt die konzeptionelle Grundausrichtung der Europapolitik des CAP. In dem hauseigenen Periodikum CAP Analyse, Heft 4/2006, stellt Weidenfeld mit zwei Mitarbeiterinnen des Centrums konzeptionelle Überlegungen an, in denen vier Schwerpunkte deutlich werden1: Die weltpolitische Lage ist von veränderten Konstellationen mit neuen Mächten und neuen Herausforderungen gekennzeichnet. Europa kann es sich nicht leisten, im Abseits zu stehen, wenn es darum geht, für die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen »Ordnungsformen« zu finden, die Orientierung und Erwartungssicherheit bieten. Nach der Erweiterung grenzt die EU an Länder, zu denen das Verhältnis aus strategischer Sicht neu geklärt werden muß. Besondere Verantwortung kommt der EU im Südosten des Kontinents zu. Die Beitrittsperspektive für die Länder des Westbalkans fördert nicht nur Reformen und westlich-liberal orientierte politische Kräfte in den Balkanländern, sondern liegt auch im ureigenen Interesse der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Die EU-Erweiterung in Richtung Westbalkan ist keine Frage des Ob, sondern des Wann und des Wie. Die Attraktivität Europas endet jedoch nicht auf dem Balkan. Weitere Staaten drängen mit Vehemenz in die EU. Mit dem Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erhält Europa ein neues Format; es ist »endgültig entgrenzt«. Die Europäische Union ist schon aufgrund ihrer schieren Größe und wirtschaftlichen Stärke ein Faktor der Weltpolitik, gleichzeitig aber ein sehr störanfälliger Akteur. Kein Mitgliedsstaat wird für sich alleine einen ausreichenden Beitrag zur Bewältigung der neuen, weltweiten Herausforderungen leisten können. Die globale Sicherung gemeinsamer Interessen erfordert eine konsequente Bündelung der Verteidigungskapazitäten durch die Schaffung einer europäischen Armee mit den dazu gehörenden Organisations- und Kommandostrukturen. Die Schaffung integrierter Streitkräfte wird zu einer Steigerung der »militärischen Leistungsfähigkeit« Europas führen und die Staaten sicherheitspolitisch enger zusammenrücken lassen als jemals zuvor in ihrer Geschichte.

Das CAP positioniert sich auch in dem Bereich, der in Regierungskreisen als »Sicherheitspolitik« bezeichnet wird. Die innere und äußere »Verletzlichkeit« Europas spricht für ein Großprojekt im Bereich der Sicherheit. Eine engere sicherheitspolitische Integration ist für die Mitgliedsstaaten und ihre Bürger mit Vorteilen verbunden, die die Nationalstaaten im Alleingang nicht mehr erzielen können. Wenn es gelingt, die Europäische Union in allen Aspekten inneren und äußeren Handelns zu einem »kohärenten Sicherheitsakteur« heranreifen zu lassen, wird Europa in der Lage sein, einen zentralen Beitrag zur Mitgestaltung der künftigen Weltordnung zu leisten. Der epochale Beschluß zum Einigungsprojekt hat dem europäischen Kontinent Frieden und Wohlstand gebracht. Nun gilt es, dieses Europa als Erfolgsprojekt auch in globaler Perspektive zu entwickeln. Neue Konfliktformationen bestimmen die Lage: von der Professionalisierung des internationalen Terrors und der asymmetrischen Kriegführung über die weitere Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bis hin zu regionalen Krisen und den Konsequenzen von Staatsversagen. Die neue Bedrohungslage, gepaart mit der eigenen Energieabhängigkeit, dem wachsenden Migrationsdruck, der geographischen Nähe zu künftigen Krisenregionen und der existentiellen Bedeutung eines reibungslosen Welthandels für die EU-Ökonomien, macht Europa zu einem besonders »verletzlichen Kontinent«. Die internationale Verantwortung der Europäischen Union beginnt bereits in ihrem direkten geographischen Umfeld. Aber auch jenseits dieser Perspektive muß Europa über ausreichende Mittel der Interessenssicherung und Machtprojektion im globalen Umfeld verfügen.

Blick nach Osten

Einen weiteren Schwerpunkt der Überlegungen des CAP bildet das Verhältnis der EU zu Osteuropa. Die EU grenzt von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer an den postsowjetischen Raum, im Südosten an den Nahen und Mittleren Osten und im Süden an die Staaten Nordafrikas. Die »Stabilisierung« dieser Nachbarschaftsverhältnisse ist nicht nur im Interesse Europas, sondern gleichzeitig auch ein entscheidender Beitrag zur »Sicherung des Weltfriedens«. Die Europäische Union soll die Beziehungen zu den europäischen Nachbarstaaten im Kontext einer differenzierten Ostpolitik kontinuierlich vertiefen. Der unterschiedliche Stand der Demokratisierung und Hinwendung zu Europa erfordert die Berücksichtigung von Besonderheiten. So braucht die EU eine genuine Strategie für Weißrußland und für den Schwarzmeerraum, eine Region, die nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens eine noch größere strategische Bedeutung haben wird. Die Europäische Union soll in Anlehnung an ihre »nordische Dimension« (Ostseeraum) auch eine »Schwarzmeerdimension« entwickeln. Auch Zentralasien, das sicherheits- und energiepolitisch für Europa immer bedeutsamer wird, soll die EU verstärkt und gesondert in den Blick nehmen. Rußland bleibt ein unverzichtbarer Akteur in Gesamteuropa. Die Beziehung zu Rußland basiert bisher in erster Linie auf einer wirtschaftlich definierten Interessengemeinschaft zwischen Moskau und einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Künftig soll diese Beziehung verstärkt europäisiert werden, d. h., die in Europa allgemein anerkannten Werte für eine multinationale Zusammenarbeit und die Notwendigkeit demokratischer Reformen in Rußland müssen verdeutlicht werden.

Der vierte Schwerpunkt legt das CAP auf die innereuropäische Koordination der gemeinsamen Militärpolitik. Die Europäer müssen gemeinsam eine tragfähige Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufbauen. Seit der Etablierung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) im Jahr 1999 sind wichtige Schritte vollzogen worden. Die Entwicklung operativer Fähigkeiten und die Einrichtung institutioneller Strukturen des zivilen und militärischen Krisenmanagements, der Aufbau der Europäischen Verteidigungsagentur, der weltweite Einsatz ziviler und militärischer EU-»Missionen« sowie der Entschluß zu einer europäischen Sicherheitsstrategie spiegeln den Willen der Europäer wider, sich als glaubwürdige »ordnungspolitische Gestaltungskraft« zu etablieren. Trotz der Erfolge vergangener Jahre sind aber die Bereiche »Sicherheit« und »Verteidigung« immer noch von unterschiedlichen nationalen Ansätzen und Wahrnehmungsmustern sowie mitgliedsstaatlichem Beharren auf Souveränitätsansprüchen geprägt. Die potentiellen Synergieeffekte einer engeren verteidigungspolitischen Zusammenarbeit werden nur unzureichend genutzt. Mit dem bisherigen Ansatz einer punktuellen Kooperation wird Europa dem Anspruch der globalen Verteidigung seiner Interessen nicht gerecht. Die Bereitstellung limitierter Kapazitäten des zivilen und militärischen Krisenmanagements auf europäischer Ebene ist nicht ausreichend. Eine sicherheits- und verteidigungspolitische Verzahnung wird den Druck auf die EU-Staaten erhöhen, das gegenwärtige Defizit an strategischem Denken abzubauen. Dadurch kann eine gemeinsame europäische Kultur in diesem Bereich nicht nur in Fragen regionaler Reichweite, sondern in globaler Perspektive befördert werden. Der Druck auf die EU und ihre Mitgliedsstaaten, auch bei sicherheitspolitisch sensiblen Fragen mit einer Stimme zu sprechen, wird steigen. So wird das Profil der Europäischen Union auf der internationalen Bühne gestärkt.

Für die USA wird Europa als Partner »auf Augenhöhe« bei der Verfolgung und Umsetzung gemeinsamer Ziele am wertvollsten sein. Möglicherweise ist der gegenwärtige sicherheits- und verteidigungspolitische Konsens zwischen den EU-Staaten mit der Idee einer europäischen Armee überfordert. In diesem Fall muß es den kooperationswilligen und kooperationsfähigen Staaten möglich sein, auch ohne die Beteiligung aller EU-Länder voranzuschreiten. Die im europäischen Verfassungsvertrag vorgesehenen Möglichkeiten einer strukturierten militärischen Zusammenarbeit weisen dabei in die richtige Richtung. Eine besondere Verantwortung liegt bei Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Die großen drei verfügen – gemessen an der Höhe ihrer Verteidigungsausgaben, der Existenz nationaler Hauptquartiere und ihrer Fähigkeit, Krisendiplomatie auf höchster Ebene zu betreiben – über Mittel und Fähigkeiten, ohne die eine europäische Armee nicht realisiert werden kann.

Europa ist Mittel zum Zweck

Dieses Konzept der deutschen Europapolitik des CAP bildete die Grundlage einer Konferenz Ende 2006, zu der das Auswärtige Amt Vertreter fast sämtlicher EU-Staaten einlud. Ausrichter der Konferenz war die Bertelsmann Stiftung, das Treffen stand unter dem Titel »Die strategischen Antworten Europas«. Die teils bedrohlichen, teils ziemlich realitätsfernen Visionen der Berliner Konferenzvorlage wurden durch Appelle an die Führungskraft der »europäischen Eliten« ergänzt. Diese sollen den »Europagedanken (...) in einer neuen Begründungslogik« bündeln, wozu es eines »Großprojekts« bedürfe. Empfohlen wird das Wecken von Bedrohungsgefühlen (»grenzüberschreitende Kriminalität, illegale Migration, Terrorismus«), die im »Bereich der äußeren Sicherheit« zur Legitimation »einer europäischen Armee« beitragen könnten; »ein äquivalentes Projekt im Feld der inneren Sicherheit« wird noch gesucht. Für entsprechende PR-Vorhaben hat die EU-Verwaltung Millionenbeträge bereitgestellt.

Während der zweitägigen Konferenz, an der auch US-Beobachter teilnahmen, kam es zu keinerlei Mißhelligkeiten, vorfristigen Abreisen oder anderen Formen ernsthafter diplomatischer Proteste. Die Akzeptanz für das Konferenzdokument bestätigt die ambitionierten Vorschläge des CAP für eine europäische Außenpolitik nach deutschem Muster.

Die Entscheidungsträger der EU nehmen offenbar einen begrenzten Konflikt mit den Vereinigten Staaten in Kauf. Die katastrophale Politik der Bush-Regierung liefert Kritikern genügend Argumente; die in den europäischen Führungszirkeln und ihren Beraterstäben gehandelte These vom Niedergang der USA scheint auch proamerikanische Kreise nachdenklich zu stimmen, wobei die verheißungsvollen ökonomischen Aussichten einer Weltmacht EU ein übriges tun.

Die EU wurde gegründet, um einen eigenen homogenen Binnenmarkt einzurichten, auch um eine Währung zu etablieren, die auf dem Weltmarkt mit dem US-Dollar konkurrieren kann, und um gemeinsame geostrategische Interessen zu sichern. »Europa ist ein Mittel zum Zweck der nationalen Interessen«, wie der CDU-Politiker Karl Lamers, der in den neunziger Jahren gemeinsam mit dem damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble, das Kerneuropakonzept entwarf, versicherte.

Demzufolge definierte sich Europa zuerst als wirtschaftliche Gemeinschaft, die sich gegen die Weltmarktkonkurrenz – und das sind derzeit fast ausschließlich die USA – durchsetzen muß. Bereits auf ihrem Gipfel in Lissabon im Jahr 2000 hat die EU den Anspruch formuliert, mittelfristig – also in einem Zeitraum von zehn Jahren – die ökonomische Führung in der Welt zu übernehmen. Allein, es fehle noch ein »operatives Zentrum«, das Weidenfeld sich von einer »Union von Deutschland und Frankreich« verspricht, die einem künftigen, wirklich vereinigten Europa vorausgehen solle. Erst wenn es gelinge, eine »Kultur des weltpolitischen Denkens zu entwickeln«, werde Europa eine globale »gestalterische Relevanz« entfalten.

Als nächsten Schritt sollen die EU-Staaten daher ihre nationalen Kapazitäten zusammenlegen und eine gesamteuropäische Armee schaffen. Nur mit Hilfe der »Vereinigten Streitkräfte von Europa«, erklärten frühzeitig einige CAP-Autoren, seien »die neuen geostrategischen Herausforderungen« zu bewältigen (Frankfurter Rundschau vom 29.9.2003).

Zwar sind die USA im militärischen Bereich turmhoch überlegen und stößt der Aufbau einer konkurrenzfähigen europäischen Streitmacht auf enorme Schwierigkeiten; dennoch sollten solche Ambitionen ernstgenommen werden: »Wenn wir für die Einigung Europas und die EU eintreten, praktizieren wir nicht idealistische Selbstlosigkeit, sondern verfolgen eigene praktische Interessen«, beschrieb bereits 1992 der damalige deutsche Außenminister Klaus Kinkel (FDP) das deutsche Selbstverständnis gegenüber der EU. Nicht die Auflösung des Nationalstaates steht im Mittelpunkt, im Gegenteil: Die EU wird als ein Instrument angesehen, mit dem nationalstaatliche Interessen besser durchgesetzt werden können. Für den »modernen Patriotismus«, wie der ehemalige britische Premierminister Anthony Blair dieses Konzept einmal nannte, bedeutet die europäische Integration keinen Verzicht auf nationalstaatliche Macht, sondern die Ausweitung der Spielräume für deren Umsetzung nach außen hin.

Die Ausbildung einer neuen europäischen »Identität« wird zur europäischen Staatsräson erhoben – unter dem Beifall aller nationalen Regierungen. Dies erklärt auch, wieso der Nationalismus in der vergangenen Dekade zugenommen hat, obwohl doch ständig von dessen Bedeutungsverlust die Rede war. Dazu paßt die Aussage von Exkanzler Gerhard Schröder (SPD) »Über die wichtigsten Fragen der Nation wird in Berlin entschieden und nirgendwo anders« – und damit war keineswegs eine Absage an die EU als Instrument gemeint.

Werner Weidenfeld/Janis A. Emmanouilidis/Almut Metz: Die strategischen Antworten Europas, Strategiepapier für das »X. International Bertelsmann Forum« am 22. und 23. September 2006 in Berlin; cap-lmu.de/publikationen/2006/cap-analyse-2006-04.php.
Die hier im Text verwendeten Zitate stammen, wenn sie nicht anders kenntlich gemacht worden sind, aus dieser Broschüre.

* Werner Biermann ist Privatdozent für Soziologie und International Business Culture an der Universität Paderborn. Von ihm und Arno Klönne erscheint in diesen Tagen im PapyRossa Verlag "Agenda Bertelsmann. Ein Konzern stiftet Politik", 140 Seiten, 11,90 Euro, ISBN 978-3-89438-372-5

Aus: junge Welt, 31. August 2007



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