Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Back Channel

Am Sonntag wird Egon Bahr 90

Von Arnold Schölzel *

Der »Rückkanal« ist in heutigen Lexika ein Ausdruck aus der Telekommunikation und der Internetwelt. Vor 20 Jahren wurde er in Verbindung mit Egon Bahr, der am 18. März 90 Jahre alt wird, als Terminus der Diplomatie bekannt: Die rechte Hand von Willy Brandt hatte seit dessen Regierungsantritt 1969 Beziehungen nach Washington und Moskau unterhalten, in die weder die offizielle Außenpolitik noch die Geheimdienste noch andere wie z. B. die DDR-Führung eingeweiht sein sollten. Ob sie es tatsächlich nicht waren, ist fast unerheblich, denn es funktionierte.

Diese Kontakte übergab Bahr 1982 an den neuen Kanzler Helmut Kohl und dessen Gehilfen Horst Teltschik, die Kanäle funktionierten weiter. Es gibt sie auch heute, Back Channels im Internet sind dagegen vergleichsweise uninteressant. In Bahrs Rückkanälen wurde das erörtert, um was es im Verkehr von Staaten seit jeher geht: Den Erhalt und die Zerstörung von Staaten. Man einigte sich offenbar ziemlich rasch auf die Beseitigung der DDR. In einem Gesprächsbuch mit dem DDR-Kabarettisten Peter Ensikat, das kürzlich erschien, sagt Bahr: »Ohne diesen Kanal oder das System der Kanäle wäre das Berlin-Abkommen (von 1971 – A. S.) so nicht zustande gekommen.« Ensikat wirft ein: »Wir dachten immer, Abrassimow (sowjetischer Botschafter in der DDR – A. S.) war es. Weil der doch beim Abschluß der Verhandlungen gesagt hat: ›Ende gut, alles gut!‹« Bahr: »Ja, das war der einzige wirklich substantielle Beitrag von Abrassimow. Der mußte das durchführen, was wir uns in Bonn ausgedacht hatten.« Was noch alles auf diesem Wege zustande kam, ist nicht bekannt.

Ein gerade ausgestrahlter ARD-Film über Bahr trägt wegen seiner Gespräche mit »Russen« und »Kommunisten« den Titel »Der Geheimdiplomat«. Das ist unpassend, weil Außenpolitik generell geheim abläuft. Der Back Channel ist der Teil der Diplomatie, in dem es undiplomatisch zugeht, d. h. man kommt zur Sache, zu den Interessen, und läßt die Propaganda weg. Egon Bahr gehört zu denen, die seit 1990 auch öffentlich im wesentlichen zur Sache sprechen, wie z. B. 1996 über die Ostdeutschen: »Ich kenne kein Volk auf Erden, das so enteignet worden ist.« Oder er sorgt im Mai 2011 auf einem Geburtstagsempfang für Manfred Stolpe für einen »Eklat« (Tagesspiegel), indem er seinen Abscheu über Existenz und Arbeitsweise der Gauck-Birthler-Jahn-Behörde bekundet. Als früherer Chefkommentator des Frontstadtsenders RIAS kennt er ideologisches Getöse zur Genüge. Seine Formel vom »Wandel durch Annäherung«, die 1963 die »Neue Ostpolitik« Brandts vorbereitete, bezeichnete DDR-Außenminister Otto Winzer als »Aggression auf Filzlatschen«. Bahr 2012 zu Ensikat: »Ich war sauer, weil das stimmte.« Insofern gehen DDR-Anschluß und anschließende Ausplünderung auch auf seine Kappe. Einige Back Channels in Moskau und Washington haben an deren Zustandekommen allerdings einen größeren Anteil.

Bahrs Entspannungsbeziehungen mit den sozialistischen Ländern lösten jedenfalls die »Lieber tot als rot«-Atombombeneinsatzpolitik in Bonn ab, sie sicherten zeitweilig Frieden in Europa und hatten zugleich beachtlichen Anteil an der Zerstörung der DDR und der anderen sozialistischen Länder. In Bahrs Worten: »Wir können eine Linie ziehen vom Moskauer Vertrag über Helsinki und zur Solidarnosc.« Einer, der besonders davon profitierte, Joachim Gauck, hat sie – intellektuell stets auf der Höhe – als feige »Appeasementpolitik« bezeichnet, also mit der Haltung der Westalliierten in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gegenüber Hitler gleichgesetzt. Nun bekommt Egon Bahr den Gauck an seinem 90. Geburtstag als Bundespräsidenten. Etwas Strafe muß sein, aber so einen übersteht ein Bahr mit Leichtigkeit.

Egon Bahr/Peter Ensikat: Gedächtnislücken - Zwei Deutsche erinnern sich. Aufbau Verlag, Berlin 2012, 204 Seiten, 16,99 Euro

* Aus: junge Welt, 17. März 2012

Stationen: Egon Bahr

  • 1922: Geburt am 18. März im Treffurt (Thüringen)
  • 1956: Mitglied der SPD
  • 1960–66: Sprecher des Berliner Senates
  • 1969–74: Staatssekretär im Bundeskanzleramt
  • 1972–90: Mitglied des Bundestages
  • 1974–76: Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
  • 1976–1981: Bundesgeschäftsführer der SPD
  • 1984 bis 1994: Direktor und Stiftungsvorstand des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)



Stimmen und Würdigungen

Wir alle danken ihm

Als 1966 Willy Brandt Außenminister und Bahr sein entscheidender und wichtigster außenpolitischer Berater wurde, war die Zeit gekommen, in der die Ost- und Deutschlandpolitik in ihre prägende Phase trat. Bahr war die treibende Kraft und Schlüsselfigur. Er hatte die schwierigste Aufgabe, einen deutschen Weg der Entspannung mit den Vier Mächten und den östlichen Nachbarn – vor allem mit Moskau – in ein brauchbares Bündel von Vereinbarungen zu fassen.
Es ist und bleibt sein historisches Verdienst, diese Verhandlungen insbesondere mit Moskau so zäh und klar geführt zu haben, dass daraus praktische Verbesserungen, neues Vertrauen, ein Mehr an Sicherheit erwuchsen. Mit der Gipfelkonferenz von Helsinki im Jahr 1975 erreichte diese Entspannungspolitik ihren Höhepunkt. Neue Spielräume entstanden bis hinein in die Bürgergesellschaften. Sie bereiteten den Weg für die Überwindung der Teilung Europas. Bahrs erste Maxime lautete stets: Ohne Frieden ist alles nichts.
(Richard von Weizsäcker, 18. März 2012; Quelle: SPD-Website)

*****

Geheimdiplomat

Seit Anfang der 1960er Jahre einer der wichtigsten Männer an der Seite von Willy Brandt. Die "Graue Eminenz" und "Strippenzieher", seit 1969 unterwegs als Geheimdiplomat - mit der Lizenz zum schonungslosen Sondieren, in Ost und West. Ein Virtuose der "geheimen Drähte" und "back channels". Es ging um reale Gestaltungsräume für seine Neue Ostpolitik, die er 1963 schon auf den Nenner "Wandel durch Annäherung" gebracht hatte. Er hauchte ihr mehr Leben ein, als erwartet werden konnte.
Was hatte – und hat – er, was andere nicht haben? Gibt seine Biographie darüber Aufschluss? Sind es die ganz besonderen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und während des demokratischen Wiederaufbaus, die ihn zu einem Visionär für Deutschland gemacht haben? Ein Leben, das wechselvoll und zunächst so gar nicht zugeschnitten war auf eine klassisch durchgeplante Politikerkarriere, wie sie in der jüngeren Generation heute so üblich zu sein scheint? Suchen die Menschen deswegen bis heute so zahlreich Rat und Wegweisung bei ihm?
Aus einer Ankündigung des WDR zu einem Film über Egon Bahr von Nicola Graef)

*****

Der Mann im Hintergrund

Wie ist Egon Bahr vom kalten Krieger der Fünfzigerjahre zum Entspannungspolitiker der Sechziger- und Siebzigerjahre geworden? Das interessiert hier viele, die jene Jahre selber auf der einen oder der anderen Seite der Mauer erlebt haben. Die Mauer. Sie spielt dabei die zentrale Rolle, denn sie bewies, dass nun der Status Quo, die Teilung Deutschlands erst einmal zementiert war. Bahr erzählt mit bewegten Worten, wie Brandt sich mit einem Brief direkt an den amerikanischen Präsidenten Kennedy wandte und um Hilfe rief. Der Bürgermeister einer Halbstadt an den mächtigsten Mann der Welt, welch ein Bruch der diplomatischen Regeln! Aber Kennedy reagierte, er schickte seinen Vizepräsidenten Johnson mit der Antwort nach Berlin: „Diese Mauer ist nur durch Krieg zu beseitigen. Und niemand will Krieg. Sie auch nicht“, zitiert Bahr dem Sinn nach den Kern des Schreibens. „Das stimmte. Also waren wir in der Notlage, wenigstens Risse in das Ding zu kriegen.“ Es ist Bahrs immer noch anschauliche, oft ein wenig schnoddrige, aber sehr präzise Art, Geschichte zu erzählen, mit der er die Menschen fesselt.
Gerade hat er also den Ausgangspunkt der späteren „Ostpolitik“ erläutert. Die basierte vor allem auf der Erkenntnis, die Realität als solche wahrzunehmen. Zum Beispiel die Existenz der DDR. Oder: „Man muss den Status Quo anerkennen, um ihn verändern zu können“, wie Kennedy damals sagte und damit Brandt und Bahr ermunterte, auf ihrem Weg weiterzugehen. Er folgte den Konzepten Bahrs, der es zugleich verstand, sie in schlüssige Formeln zu packen: „Politik der kleinen Schritte“ und „Wandel durch Annäherung“, das waren die zentralen Begriffe dieser Politik, die jeder verstand. Auch die Ostdeutschen, die sich von Brandt und Bahr mit ihren Anliegen endlich ernst genommen fühlten.
(Holger Schmale in der Frankfurter Rundschau, 12.03.2012)

*****

Tutzing

Über die Auszeichnung Egon Bahrs mit dem "Tutzinger Löwen" der Evangelischen Akademie in Tutzing schrieb diue Süddeutsche Zeitung (online) u.a.:

Klar ist natürlich auch, dass Hahn mit Bahr einen Mann ehrt, der seinem Haus Glanz gebracht hat. "Wenn es je eine Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing gab, die nicht nur Schlagzeilen für einen Tag machte, sondern die deutsche Nachkriegsgeschichte beeinflusste, dann war es diese Veranstaltung mit Egon Bahr", zitiert Hahn seinen Vorvorgänger im Amt des Direktors, Claus-Jürgen Roepke. Damals, am 15. Juli 1963, hatte der einstige Pressesprecher des Regierenden Bürgermeisters von Berlin und späteren Bundeskanzlers Willy Brandt das Wort vom "Wandel durch Annäherung" geprägt, in einem kleinen Diskussionsbeitrag, wie er präzisiert.
Am Ende hatten und haben alle etwas davon", sagt Hahn: "die Menschen in unserem Lande, die Evangelische Akademie Tutzing. Und auch Sie!" Und er fügt an: Bahrs Motto sei noch nicht verbraucht. "Es hat Potential, so würde man das heute vielleicht formulieren."
Egon Bahr findet das übrigens auch. In seiner Dankesrede geht er mit ungebrochen klarer Stimme auf die damaligen Reaktionen auf sein Motto ein (Herbert Wehner: "Das ist barer Unsinn."). Und er erklärt, dass die Mechanismen in Europa und Asien ganz ähnlich funktionieren, "wenn es um die Organisation eines Modus vivendi geht". Die friedliche Welt verlange Regeln für alle Staaten, sagt er, dazu gehöre auch die Zusammenarbeit mit Nichtdemokraten. Und diese Regel heiße heute: "Globalisierung durch Annäherung".
(Gerhard Summer in der Süddeutschen Zeitung (online), 14.02.2012)

*****

Mann ohne Illusionen

Bahr war nie ein Mann zwischen den Fronten, sondern einer, der Fronten abbaut. Und deshalb wurde seit 1982 das politische Konzept der Gemeinsamen Sicherheit handlungsleitend. Er war es, der in Gesprächen mit dem DDR-Diplomaten Michael Kohl das Eis brechen konnte, das uns mit dem Grundlagenvertrag von 1972 ungeahnte Begegnungsmöglichkeiten schuf.
Was wenigen Politikern, die aus der politischen Verantwortung entlassen worden sind, beschieden war, ist Egon Bahr zugekommen: Seit der sogenannten geistig-moralischen Wende der Bundesrepublik von 1982 hatte er kein Amt mehr inne, in dem er politisch gestaltend handeln konnte - und blieb doch eine gefragte Instanz. Er setzte seine Tätigkeit auf anderen Ebenen fort, insbesondere als Direktor des Hamburger Friedensforschungsinstituts. Seinen vertraulichen Kontakt, den berühmten Black-Channel in die UdSSR, gab er weiter. Seine freundschaftliche Beziehung zu Kissinger blieb.
Nach 1989 hat er angesichts der anhaltenden Stasi-Hysterie nicht aufgehört, der Versöhnung das Wort zu reden. Er war es, der als Sozialdemokrat den Kosovo-Krieg und dessen Begründungen mit guten Gründen ebenso strikt ablehnte wie den Irak-Krieg.
Friedrich Schorlemmer im "neuen deutschland", 17.03.2012)


Zurück zur Seite "Deutsche Außenpolitik"

Zur Seite "Friedenswissenschaft, Friedensforschung"

Zurück zur Homepage