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Ein potenzieller Akt des Massenmords

Eric Schlosser berichtet über die Atomwaffenarsenale der USA und entlarvt die Illusion nuklearer Sicherheit

Von Hubert Thielicke *

Heller als tausend Sonnen – so beschrieb der Physiker Klaus Fuchs den ersten Nukleartest am 16. August 1945 in der Wüste von New Mexico. Wie er im »Neuen Deutschland« im August 1986 berichtete, waren die Beobachter nicht nur fasziniert, sondern auch besorgt. Dass ihre Sorge berechtigt war, zeigte sich bald mit dem Abwurf von Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Seither fanden mehr als 2000 Atomtests statt, zunächst in der Atmosphäre und unter Wasser, später unterirdisch. Internationale Verträge und Moratorien beendeten in den 1990er Jahren diesen Wahnsinn, während Nordkorea im vergangenen Jahr erneut einen unterirdischen Test durchführte.

Die Geschichte des nuklearen Wettrüstens ist weitgehend bekannt, weit weniger publik hingegen wurden die Unfälle mit Atombomben, Trägerflugzeugen und Raketen, welche die Menschheit mehrmals an den Rand der nuklearen Katastrophe brachten. Diese enthüllte nun der US-Journalist und Bestsellerautor Eric Schlosser. Auf der Grundlage von bisher geheimen Pentagon-Papieren und zahlreichen Interviews mit Zeitzeugen erzählt er die dramatische Geschichte eines schweren Unfalls, der sich 1980 in einem Raketensilo der USA ereignete. Parallel dazu wird die Entwicklung der amerikanischen Atomrüstung beschrieben.

Der Besitz der neuen Massenvernichtungswaffe führte 1945 zu kühnen Spekulationen unter den Militärs. Für General Arnold, der die Bombardierungen Deutschlands und Japans geleitet hatte, war sie insofern attraktiv, als sie »den Preis für die Vernichtung« senken würde. General Leslie Groves, militärischer Leiter des Manhattan-Projekts, meinte: »Wenn es auf der Welt Atombomben geben muss, müssen wir die besten, die größten und die meisten haben.« In einer Kabinettssitzung im September 1945 erörterte die Truman-Regierung, was mit der mächtigen neuen Waffe anzufangen sei. Sollte man die Sowjetunion informieren, den Verbündeten im Zweiten Weltkrieg? Der scheidende Kriegsminister Henry Stimson warnte vor einem Ausschluss der Sowjetunion und plädierte für eine amerikanisch-sowjetische Partnerschaft. Es kam anders. Die USA trieben die Produktion von Atomwaffen voran und arbeiteten an der Schaffung der noch stärkeren Wasserstoffbombe. Die Sowjetunion zog nach, zündete 1949 ihre erste Atombombe; Anfang der 1950er Jahre verfügte sie – wenig später als die USA – über die Wasserstoffbombe.

Die Logik der Abschreckung bestimmte in den nachfolgenden Jahren das nukleare Wettrüsten, das immer irrwitzigere Züge annahm. Insgesamt produzierten die USA etwa 70 000 Nuklearwaffen. Die Bandbreite reichte von kleinen »Rucksackbomben« und Atomgeschützen über Torpedos und Minen bis hin zu schweren Fliegerbomben und Raketensprengköpfen. Gewaltige Finanzmittel wurden verschwendet. So gab die US-Administration unter Reagan allein etwa 250 Milliarden für Nuklearwaffensysteme aus. Immer wieder stand man jedoch vor zwei Dilemmata. Zum einen spielte man mit dem Risiko der Selbstvernichtung, wenn es zum Einsatz der Waffe käme; diese Einsicht führte zu Verhandlungen mit der UdSSR bzw. später Russland und zur schrittweisen Reduzierung der Waffen. Zweitens sind Nuklearwaffen keinesfalls sicher – wie generell keine Technik vor Unfällen gefeit ist.

Am 18. September 1980 betraten gegen 18.30 Uhr die Luftwaffensoldaten Powell und Plumb das unterirdische Raketensilo der Abschussanlage 374-7 nördlich von Damascus in Arkansas, um Wartungsarbeiten an einer Titan-II-Rakete vorzunehmen, der damals größten ballistischen Internkontinentalrakete der USA, deren Sprengkopf mit neun Megatonnen TNT über das Dreifache der Zerstörungskraft aller im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Bomben verfügte. Als die beiden Männer die Rakete überprüften, fiel Powell der vier Kilogramm schwere Steckschlüsseleinsatz aus der Hand. Im nächsten Moment spritzte Brennstoff aus der Rakete »wie Wasser aus einem Gartenschlauch«. Die Sirenen heulten auf. Vom Lüftungsschacht des Silos stieg eine weiße Wolke auf. Das Feuerlöschsystem flutete das Silo mit Wasser. Im Kommandoposten wurde ein Katastrophenstab gebildet, der eine Eingreiftruppe zur Abschussanlage entsandte, um die Rakete, den Sprengkopf und die zehn Mann in der unterirdischen Anlage zu retten. Um 20.30 Uhr kam der Befehl, die Anlage zu evakuieren; jeden Moment konnte die Rakete explodieren.

Der Regierung des Bundesstaates Arkansas wurde versichert, es bestünde keine Gefahr eines Nuklearunfalls. Die Militärs misstrauten dem jungen Gouverneur, der nicht gedient und einige Jahre zuvor Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg organisiert hatte: Bill Clinton, der spätere Präsident der USA. Schließlich wurden die Bewohner um den Luftwaffenstützpunkt Little Rock doch evakuiert. Gegen zwei Uhr morgens explodierte die Titan II, ein greller weißer Blitz erhellte den Himmel, eine Feuersäule erhob sich mehr als 100 Meter in die Luft. Die Explosion verwüstete die Abschussanlage. Abgesehen von den direkten Folgen des Unfalls bestand die Gefahr einer viel größeren Katastrophe. Die UdSSR hätte die Explosion als Überraschungsangriff werten können, die Beziehungen waren 1980 auf einem Tiefpunkt. Fehlalarme gab es öfters. So meldete 1983 ein sowjetischer Frühwarnsatellit fälschlicherweise den Anflug amerikanischer Raketen und löste in einem Luftverteidigungsbunker bei Moskau Alarm aus; dank dem sowjetischen Oberstleutnant Stanislaw Petrow konnte ein »Vergeltungsschlag« verhindert werden.

Bereits vor dem Unfall in Arkansas war es zu ähnlichen Unfällen mit der Titan-II-Rakete gekommen. Von 1950 bis 1968 gab es »signifikante« Vorfälle mit etwa 1200 Kernwaffen. Nicht nur die Technik, auch der Mensch kann versagen. US-Verteidigungsminister Chuck Hagel beklagte im Januar Schlampereien, Disziplinlosigkeit und Drogenmissbrauch auf Atomwaffenstützpunkten. In den nächsten zwanzig Jahren wollen die USA mindestens 180 Milliarden Dollar in ihr nukleares Arsenal investieren. Geplant ist die Stationierung neuer Atombomben des Typs B 61-12 in Europa. Zu den Standorten zählt Büchel, die einzige Nuklearwaffenbasis in Deutschland.

Von Verhandlungen über nukleare Abrüstung, geschweige denn einer globalen Nulllösung, ist derzeit kaum die Rede – auch kein Wort davon beim Gipfeltreffen Anfang dieser Woche in Den Haag, als man über nukleare Sicherheit vor Terroristen sinnierte. Tausende Raketen sind nach wie vor startbereit, Unfälle nicht ausgeschlossen – jeder Unfall, so Schlosser, »ein potenzieller Akt des Massenmords«. Wie aktuell sein Buch ist, unterstrich auch das Treffen im Februar in Mexiko, als Vertreter von fast 150 Staaten über die humanitären Folgen eines Einsatzes von Atomwaffen diskutierten; im Herbst soll eine Konferenz in Wien folgen.

Eric Schlosser: Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit. Eine wahre Geschichte. C. H. Beck, München 2013. 598 S., geb., 24,95 €.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 28. März 2013


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