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Durchs Netz gerutscht

Atomare Gefechtsfeldwaffen werden von keinen Abrüstungsverhandlungen erfasst. Ihre genaue Zahl ist nicht einmal bekannt

Von Wolfgang Kötter

Immer im August gedenken Menschen in aller Welt der Opfer, die US-amerikanische Atombomben im Sommer 1945 in den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki gefordert haben. Sie mahnen uns, dass diese Waffen immer noch alles Leben auf der Erde vernichten könnten. Zwar wird nach langem Schweigen jetzt wieder über atomare Abrüstung verhandelt, aber eine ganze Waffenkategorie ist bisher von Rüstungskontrolle überhaupt noch nicht erfasst worden. Dabei haben die sogenannten taktischen Atomwaffen eine zum Teil sogar vielfache Zerstörungskraft der damals eingesetzten Bomben. In den laufenden russisch-amerikanischen Verhandlungen geht es um interkontinentale Waffensysteme mit einer Reichweite von über 5.500 Kilometern. Mittelstreckenwaffen der USA und Russlands mit Reichweiten ab 500 Kilometern sind durch das INF-Abkommen über nukleare Mittelstreckenwaffen (Intermediate Range Nuclear Forces) von 1987 vollständig beseitigt.

Übrig bleiben also atomare Gefechtsfeldwaffen, die für Ziele in geringeren Entfernungen eingesetzt werden können. Sie sind bisher durch das Netz der Abrüstungsverhandlungen gerutscht und Russland wie auch die USA besitzen immer noch tausende dieser Nuklearwaffen. Zu ihnen zählen beispielsweise Sprengköpfe für Kurzstreckenraketen, Artilleriemunition und Atomminen. Obwohl beide Seiten bereits 1997 übereingekommen waren, in nachfolgenden Vereinbarungen auch diese Waffenarten abzubauen, ist dies bis auf einseitig verkündete Reduzierungen nicht geschehen. Ja sie sind nicht einmal präzise erfasst und unterliegen keinerlei vertraglichen Beschränkungen. Je nach Definition wird ihre Gesamtzahl auf 7.000 bis 20.000 geschätzt. Sollten sie weiterhin unberücksichtigt bleiben, würde ihre Bedeutung bei weiterer Abrüstung der Langstreckenwaffen zunehmen und möglicherweise eine Grauzone für eine erneute nukleare Aufrüstung entstehen. Bereits vor Jahren forderte deshalb die Blix-Kommission zu Massenvernichtungswaffen, Russland und die USA sollten sich darauf verständigen, "alle nichtstrategischen Waffen in zentrale Lager auf einheimischem Territorium zurückzuziehen, um sie dort bis zu ihrer Vernichtung zu lagern".

Lange Zeit war nicht bekannt, dass auch in Deutschland während des Kalten Krieges so manche Region mit taktischen Atomwaffen regelrecht zugepflastert war und im Ernstfall zum nuklearen Schlachtfeld geworden wäre. Wie Altkanzler Helmut Schmidt bestätigte, wurden ab Mitte der 60erJahre etwa 700 geheime Atombomben in der Bundesrepublik gelagert. In einem Geheimabkommen hatten sich US-Präsident Johnson und Bundeskanzler Kiesinger am 18. September 1968 sogar darauf geeinigt, dass deutsche Korpskommandeure die Freigabe der Atomwaffen im NATO-Hauptquartier anfordern konnten, ohne dass die Bundesregierung informiert werden musste. Teilweise als Atomminengürtel an der Grenze zur DDR verlegt, besaß die Atom-Munition (Atomic Demolition Munition - ADMs und Special Atomic Demolition Munition - SADM),) mit einer Sprengkraft zwischen 0,2 und 45 Kilotonnen bis zur dreifachen Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe. Miniatombomben sollten außerdem mit kleinen Fahrzeugen, Hubschraubern oder Personen zum Einsatzort transportiert werden. Sie entsprachen der angestrebten multifunktionalen Mobilität und da kaum 40 Kilogramm schwer, konnten sie sogar von Soldaten im Rucksack getragen werden. „Jeder atomare Krieg", so Helmut Schmidt rückblickend, "hätte große Teile des deutschen Volkes ausgelöscht."

Aus mehreren Gründen gelten taktische Kernwaffen als außerordentlich gefährlich und riskant. Zunächst dienen sie nicht vorrangig zur Abschreckung, sondern sind als Gefechtsfeldwaffen für den tatsächlichen Einsatz vorgesehen. Die USA strebten unter George W. Bush die Fähigkeit zur offensiven Nuklearkriegsführung unter anderem dadurch an, dass Atomwaffen effektiver und schneller gegen mobile und auch gehärtete unterirdische Ziele einsetzbar werden. Sie sollten sowohl als Vergeltung gegen Angriffe mit Massenvernichtungswaffen als auch durch "präventive" nukleare Schläge im Kampf gegen Terroristen und die sie vorgeblich unterstützenden Staaten dienen. Dadurch verschwimmt aber die Grenze zwischen herkömmlichen und atomaren Waffen, die Einsatzschwelle sinkt und die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen steigt. Darüber hinaus sind taktische Atomwaffen funktionsbedingt häufig in der Nähe potentieller Konfliktherde stationiert. Damit wächst das Risiko, dass im Zweifelsfall Offiziere vor Ort entscheiden, sie lieber anzuwenden, als dem Gegner zu überlassen. Die dezentrale Dislozierung, mangelhaft geschützte Transporte und oftmals unzureichend gesicherte Lagerung erhöhen die Gefahr des Diebstahls durch kriminelle Waffenhändler oder Terroristen. Für sie sind taktische Atomwaffen wegen ihrer geringen Größe und hohen Mobilität als „Rucksackbomben“ besonders attraktiv.

Russland hat bisher kein besonderes Interesse gezeigt, über derartige Waffen zu verhandeln und angedeutet, dass darin auch Frankreich und Großbritannien einzubeziehen wären. Das hat mehrere Gründe. Vor allem hofft Moskau mit den atomaren Gefechtsfeldwaffen gegenüber dem Westen die anhaltenden Schwächen bei den konventionellen Streitkräften zu kompensieren, die sich auch im Kaukasuskrieg vom Sommer 2008 deutlich offenbart haben. Sie gelten als Mittel um notfalls eine drohende Niederlage in einem konventionellen Krieg abzuwenden. Auch als Konter gegen die voranschreitende NATO-Osterweiterung und das Vorrücken potentiell gegnerischer Truppen an die Grenzen Russlands wollen die Militärs nur ungern auf taktische Atomwaffen verzichte. “Wir werden nichtstrategische Nuklearwaffen so lange behalten wie Europa instabil und vollgepackt mit Waffen ist”, meint Russlands Generalstabschef Nikolai Makarow. „Sie garantieren unsere Sicherheit.“ Schließlich betrachtet Moskau sie auch als Gegengewicht gegen mögliche neu entstehende Atomwaffenstaaten. Obwohl angenommen wird, dass nicht einmal die russische Militärführung einen exakten Überblick hat, schätzen Experten die Bestände auf knapp 5.400, von denen aber nur rund 2.080 einsatzbereit sind. Zwar wurden nach russischen Angaben alle landgestützten Raketen, Artilleriegranaten und Atomminen vernichtet. Es verbleiben aber noch 650 Atomwaffen auf Bombern, rund 700 auf U-Booten, Überwasserschiffen und Marinefliegern. Schließlich verfügen auch die Luftverteidigung und die strategische Raketenabwehr über rund 730 solcher Waffen.

Zu den taktischen Kernwaffen der USA gehören 150 bis 240 in Europa gelagerte Bomben. Sie befinden sich in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und in der Türkei. Zu den in Europa stationierten kommen in den USA als Reserve gelagerte Flugbomben sowie insgesamt etwa 300 Atomwaffen für seegestützte Marschflugkörper. Auf dem Fliegerhorst des 33. Jagdbombergeschwaders der Bundeswehr in Büchel in der Südeifel werden 10 bis 20 Atombomben vom Typ B-61 mit einer Sprengkraft von mehreren hundert Hiroshima-Bomben aufbewahrt. Im Rahmen der nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO stellt die Bundesrepublik die Trägersysteme in Form von Tornado-Kampflugzeugen und deren Piloten. Atomwaffengegner verurteilen dies als Verletzung des Kernwaffensperrvertrages wie auch des IGH-Rechtsgutachtens gegen die Atomwaffenanwendung und protestieren mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen. „Zivile Inspektionen“ von Atomwaffendepots gab es in den letzten Jahren auch in Belgien, Holland und in Schottland.

Die Bürgermeister aller Städte und Gemeinden, auf deren Gebiet US-Atomwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe lagern, forderten im Dezember 2007 in einer gemeinsamen Erklärung, den Abzug der Atomwaffen. Die Stadtväter von Peer (Kleine Brogel - Belgien), Aviano und Ghedi (Italien), Uden (Volkel - Niederlande), Incirlik (Türkei), and Büchel (Deutschland) schrieben, dass nach dem Ende des Kalten Krieges "Die Sowjetunion ihre Atomwaffen aus der Ukraine und Weißrussland abzog (...) leider folgte die NATO dem russischen Beispiel nicht."

Für kommende Verhandlungen bestehen allerdings gleich mehrere Schwierigkeiten. Sie beginnen bereits mit der Definition. Die Faustregel, es handle sich um alle bisher nicht erfassten Atomwaffen, wäre wahrscheinlich zu simpel, denn diese Waffen erfüllen mannigfaltige Aufgaben und sind daher in differenzierten Kontexten zu behandeln. Schließlich handelt es sich um sehr unterschiedliche Waffensysteme, so gehören dazu beispielsweise auf Kampfflugzeugen montierte Freifallbomben, auf U-Booten stationierte Marschflugkörper und Torpedos sowie nukleare Sprengköpfe für strategische Abwehrsysteme und Luftverteidigungsinstallationen.

Trotzdem erscheint eine Einigung nicht unmöglich. Unter den US-amerikanischen Militärs gelten die in Europa stationierten Atomwaffen als weitgehend überflüssig, da sie nach dem Kalten Krieg keine militärische Funktion mehr erfüllen. Davon zeugt nicht zuletzt deren Abzug aus dem deutschen Fliegerhorst Ramstein in Rheinland-Pfalz und dem britischen Lakenheath. Russland könnte sich von ihnen wahrscheinlich leichter trennen, wenn der Westen Moskaus Sicherheitsinteressen bei der konventionellen Streitkräfteverteilung in Europa respektiert, keine Antiraketen auf russischen Vorhöfen stationiert und auf die weitere Ost-Ausdehnung der NATO verzichtet. Schließlich kosten die Atomarsenale eine Menge und vor allem könnte ihre zuweilen ungenügende Sicherung sie zu bevorzugten Zielen terroristischer Angriffe werden lassen. US-Unterhändlerin Rose Gottemoeller jedenfalls zeigt sich optimistisch: „Ich glaube, dass wir in naher Zukunft nach dem Dezember in der Lage sein werden, in Verhandlungen über taktische Nuklearwaffen einzutreten.“

INF-Vertrag

Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten das sowjetische Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow und der amerikanische Präsident Ronald Reagan in Washington den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces), der eine ganze Kategorie von Waffen verbietet.

In dem Abkommen verpflichten sich beide Seiten, alle Raketen und Marschflugkörper (Cruise Missiles) mit mittlerer und kürzerer Reichweite von 500 bis 5 500 km zu beseitigen. Dementsprechend vernichteten in den nachfolgenden vier Jahren die UdSSR 1.846 und die USA 846 Raketen. Das entsprach etwa 3-4 Prozent ihrer nuklearen Gesamtpotentiale.



USA-Atomwaffen in Europa

Land Ort Anzahl
Belgien Kleine Brogel 10-20
Deutschland Büchel 10-20
Italien Aviano
Ghedi Torre
50
20-40
Niederlande Volkel 10-20
Türkei Incirlik 50-90
gesamt - 150-240

Quelle: Federation of American Scientists
http://www.fas.org/programs/ssp/nukes/_images/Europe2008.pdf


Mitglieder der Blix-Kommission

  • Hans Blix, Schweden, Kommissionsvorsitzender
  • Dewi Fortuna Anwar, Indonesien, Forschungsdirektorin, Institut für Sozial- und Humanwissenschaften
  • Alexei G. Arbatov, Russland, Direktor, Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO)
  • Marcos de Azambuja, Brasilien, ehemaliger UNO- und Abrüstungsbotschafter
  • Alyson J. K. Bailes, Großbritannien, Direktorin,Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI)
  • Jayantha Dhanapala, Sri Lanka, ehemaliger UNO-Untergeneralsekretär für Abrüstung
  • Gareth Evans, Australien, Präsident, „Internationale Krisengruppe“ in Brüssel
  • Patricia Lewis, Irland, Direktorin, UNO-Abrüstungsinstitut (UNIDIR)
  • Masashi Nishihara, Japan, Präsident der Nationalen Verteidigungsakademie
  • William J. Perry, USA, Professor, ehemaliger Verteidigungsminister
  • Vasantha Raghavan, Indien, Präsident des Zentrums für Sicherheitsanalysen
  • Cheikh Sylla, Senegal, Botschafter, Kommissionsmitglied von UNMOVIC
  • Prinz El Hassan bin Talal, Jordanien, Präsident des „Club of Rome“
  • Zhenqiang Pan, China, Professor, Institut für Strategische Studien

Hans Blix

Als die schwedische Regierung die Kommission im Dezember 2003 ins Leben rief, betraute sie mit deren Leitung ihren weltweit bekannten Abrüstungsexperten Hans Blix. Nahezu sein gesamtes Berufsleben hat der 1928 in Uppsala geborene Rechtsprofessor dem Frieden und der Sicherheit gewidmet. Er vertrat sein Land auf internationalen Konferenzen, war Außenminister und später langjähriger Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA. Danach arbeitete er als Chef der UN-Kontrollkommission für Irak UNMOVIC. Gerade diese Funktion brachte ihm die erbitterte Feindschaft der Kriegsbefürworter in den USA ein, weil er darauf bestand, in Irak weder ABC-Waffen noch deren Produktionsstätten entdeckt zu haben und mehr Zeit für Kontrollen forderte. Blixs mutiges Auftreten konnte den völkerrechtswidrigen Militäreinsatz zwar nicht verhindern, aber er trug mit dazu bei, dass der UN-Sicherheitsrat den USA und Großbritannien seine Zustimmung zur Militäraktion und damit die Instrumentalisierung für deren Großmachtpolitik verweigerte.




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