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Medwedew und Obama wollen Atomarsenale kürzen

Beide Seiten haben den Wunsch, aber an der Bereitschaft mangelt es ein wenig

Von Andrej Fedjaschin *

Der Wunsch nach Kompromisssuche und die Kompromissbereitschaft sind zwar ähnliche, aber doch unterschiedliche Dinge.

Der Vereinigung des ersten (Wunsch) mit dem zweiten steht gewöhnlich, besonders im Atombereich, die sehr komplizierte Methodik und Arithmetik der Erfassung des bestehenden Kräfteverhältnisses im Wege.

Nach den ersten vollformatigen Expertenkonsultationen zwischen Russland und den USA über einen neuen START-Vertrag (Moskau, 19. bis 20. Mai) zu urteilen, haben beide Seiten den Wunsch, aber an der Bereitschaft mangelt es ein wenig. Das ist nicht so schlimm. So etwas kam bei solchen Verhandlungen, besonders im Anfangsstadium, mehr als nur einmal vor.

Eigentlich hat auch niemand behauptet, alles werde reibungslos und schnell vor sich gehen: Bush habe eben nicht gewollt, Obama dagegen gesagt: "Wir reduzieren!" und sogar die unterste Grenze genannt: sofort auf 1000 Gefechtsköpfe. Jetzt bleibt also nur noch ein Flug nach Moskau übrig. Ja, wenn dem so wäre...

Wie es aussieht, werden die Experten an dem neuen Vertrag noch ganz schön zu feilen haben. Berührungspunkte sind vorhanden, doch nicht alles will sich ineinander fügen. Ein Verhandlungsmarathon steht also bevor.

Wenn von "Vollformat" die Rede ist, bedeutet das, dass der US-Delegation führende Experten von gleich drei wichtigen Behörden angehören, deren direkte Beschäftigung stets ernsthafte Verhandlungen sind. Diese Behörden sind: das Außenministerium (politischer Teil), das Pentagon (Erfassung der Trägermittel und militärische Aspekte) und das Energieministerium. Dieses ist für die Produktion und Aufbewahrung der Atommunition sowie die Verifizierung und Vernichtung von atomaren Gefechtsköpfen zuständig.

Die amerikanische Delegation brachte nach Moskau konkrete Vorschläge über die quantitativen Reduzierungen von Gefechtsköpfen und ihren Trägern. Moskau legte seine vor. Außerdem legten beide Seiten dar, was ihrer Ansicht nach bei der komplizierten Berechnung des "Gleichgewichts" der atomaren Gefechtsköpfe und ihrer Träger in Betracht zu ziehen ist.

Jetzt werden die Seiten versuchen, aufgrund des jeweiligen "positionellen Herangehens" (Außenminister Sergej Lawrow) für den Gipfel zwischen Medwedew und Obama vom 6. bis 8. Juli in Moskau die Berichte für ihre Präsidenten vorzubereiten. Diese werden aufgrund der Berichte darüber entscheiden, inwieweit und wie die amerikanischen und die russischen strategischen Atomwaffenarsenale begrenzt werden könnten.

Alles in allem ist schon jetzt mehr oder weniger klar, dass wir zu einem Kompromiss über den Austausch des rasch überholten START-1-Vertrags, der 1991 unterzeichnet und 1999 in Kraft gesetzt wurde (läuft am 5. Dezember dieses Jahres ab), doch kommen werden. Wir müssen es tun. Denn ohne ihn wird sich eine merkwürdige Situation ergeben: das Fehlen von juristischen Grundlagen für die Kontrolle über die Zahl der Gefechtsköpfe auf jeder Seite.

Mehr oder weniger klar ist sogar, bis zu welcher Untergrenze die strategischen Gefechtsköpfe Russlands und der USA reduziert werden sollen. Gemäß START-1 wurde ihr Limit mit 6000 Gefechtsköpfen sowie mit 1600 Trägern für jede der Seiten festgelegt.

Die Seiten sind sich jetzt darüber einig, dass die Zahl der strategischen Gefechtsköpfe auf 1500 auf jeder Seite zu kürzen ist. Obamas bereits im April in Prag gemachte Ankündigung - Reduzierung der atomaren Gefechtsköpfe auf 1000 Stück für jede Seite -, wird kaum durchkommen.

Nicht weil das praktisch unmöglich oder weil dadurch die Sicherheit der Seiten untergraben wäre, sondern weil Amerika bei einem so radikalen Abbau eine der Komponenten seiner atomaren Triade wird aufgeben müssen: die bodengestützten, die U-Boot-gestützten Raketen und die Träger der Luftstreitkräfte.

Alle drei Komponenten mit einer so geringen Zahl der atomaren Gefechtsköpfe aufrechtzuerhalten wird viel zu sehr ins Geld gehen. Wenn ein Teil der Triade bis zur vollen "Unrentabilität" aufgelöst oder reduziert wird? Nun, schließlich ist Obama kein Selbstmörder, um auf diese Weise das Pentagon, die See- und die Luftstreitkräfte sowie alle anderen, einschließlich des Kongresses, gegen sich aufzubringen.

Die Amerikaner sind jetzt bereit, auch von einer Reduzierung der Träger zu sprechen, wovon früher unter Bush keine Rede war. Wie die amerikanische Chefdelegierte Rose Goettemoeller, US-Vizeaußenministerin für Überprüfung und Einhaltung der Abkommen über die Rüstungskontrolle, sagte, handelte es sich bei den Verhandlungen um ballistische Interkontinentalraketen, ballistische Raketen der U-Boote und mit Gefechtsköpfen ausgerüstete Bomber.

Die Amerikaner sind bislang nicht bereit, ins Erfassungssystem die deponierten Gefechtsköpfe aufzunehmen. Vielmehr wollen sie nur jene zählen, die auf den Trägern bereits angebracht sind. Aber selbst hier ist ein Kompromiss durchaus möglich.

Schwieriger ist es mit ihren Plänen, strategische Träger mit nichtnuklearen Gefechtsköpfen auszurüsten. In diesem Fall werden sie sehr schwer zu verifizieren sein. Aber das ist ebenfalls möglich.

Insgesamt ist der Zeitpunkt gekommen, dass ernsthafte Kompromisse auf jeder Seite erwünscht sind. Auch auf unserer Seite.

Doch wie man es auch nimmt, für Russland ist der neue Vertrag wichtiger als für die USA. Was den Grad der Gefechtsbereitschaft der konventionellen Streitkräfte angeht, so sind wir hier hinter Washington zurückgeblieben (laut seriösen Experten beinahe hoffnungslos).

Das trifft auch auf die Ausmaße und die Qualität der Modernisierung aller Atomwaffen. Zudem haben wir weniger Gefechtsköpfe als die Amerikaner.

Laut den jüngsten Angaben (2009) hat Russland 3909 strategische Gefechtsköpfe und 814 Träger. Die entsprechenden Zahlen für die USA betragen 5576 und 1198. Jede Reduzierung wäre für Moskau von Vorteil. In jedem Fall würden die USA weit mehr Gefechtsköpfe reduzieren müssen als wir.

Überdies brauchen wir dann nicht Riesengelder in die Produktion neuer Gefechtsköpfe zu stecken. Unsere Waffen werden wir trotzdem modernisieren müssen. Doch mit dem neuen START-Vertrag werden wir mehr gewinnen.

Deshalb ist es nicht ganz verständlich, warum wir so beharrlich darauf bestehen, dass beim Abschluss eines jeden neuen START-Vertrags das US-Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien sowie die Weltraumwaffen in Betracht gezogen werden müssen.

Es ist, als würden wir uns selbst wieder einmal in eine Sackgasse treiben, womit wir Washington in die Karten spielen und im Feilschen um den Vertrag dem noch nicht aufgebauten ABM-System durch unsere Forderungen mehr "Gewicht und Wert" verleihen.

Bei einem Scheitern der Verhandlungen wird Moskau generell mehr verlieren als die USA, darunter in propagandistischer Hinsicht. Schon heute wird den westlichen Medien der einfache Gedanke suggeriert, dass es für Russland eigentlich keinen Sinn habe, sich mit dem Vertrag zu beeilen, weil er seinem Modernisierungsprogramm für die Atomwaffen schaden könnte.

Der Schluss drängt sich auf (wird aufgedrängt): Die Verzögerungen mit dem neuen Vertrag seien für den Kreml viel günstiger.

Gemäß den vorliegenden spärlichen Informationen über die in Moskau abgehaltenen Treffen sieht es so aus, dass die Seiten entweder beim Medwedew-Obama-Gipfel oder später eine Zwischenentscheidung werden treffen, das heißt, ein gewisses Rahmenabkommen schließen müssen, auf dessen Grundlage 2010 am neuen Vertrag weiter gearbeitet werden soll.

Das wäre natürlich besser als nichts, doch nicht das überzeugendste Ergebnis. Man möchte sich bei solchen Prognosen so gern irren!

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 21. Mai 2009; http://de.rian.ru



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