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START für einen langen Weg

Von Olaf Standke *

Reduzierung strategischer Offensivwaffen kann nur der Anfang sein Zwischen der Verkündung der neuen Nuklearstrategie der USA und dem von ihm initiierten Atomgipfel nächste Woche in Washington wird USA-Präsident Barack Obama heute mit seinem russischen Amtskollegen Dmitri Medwedjew in Prag den neuen START-Vertrag zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen unterzeichnen. Ein Hoffnungssignal, doch es ist noch ein weiter Weg, bis Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt Wirklichkeit wird.

Das atomare Erbe des Kalten Kriegs ist auch zwei Jahrzehnte nach Ende des Ost-West-Konflikt noch immer gewaltig. Die unabhängige US-amerikanische Expertengruppe »Bulletin of Atomic Scientists« schätzt die Zahl der einsatzbereiten strategischen Nuklearsprengköpfe der USA auf 2200, weitere 2500 könnten im Ernstfall umgehend aktiviert werden. Hinzu sollen etwa 500 taktische Sprengköpfe kommen, die hauptsächlich in Europa stationiert sind.

Mit ihren land-, see- und luftgestützten Systemen kann die Supermacht praktisch jeden Winkel der Erde erreichen. Zu ihrem Arsenal gehören 450 Interkontinentalraketen vom Typ Minuteman III, die eine Reichweite von 5500 Kilometern haben. Sie können zum Teil mehrere Atomsprengköpfe transportieren und gesondert abwerfen. Die US-Streitkräfte verfügen zudem über 14 U-Boote, die mit 288 Raketen und insgesamt 1152 Atomsprengköpfen bestückt sind. Über 500 Atombomben könnten von etwa 60 Langstreckenflugzeugen abgeworfen werden.

Russland hält den Analysen zufolge etwa 4600 Atomsprengköpfe und rund 330 Interkontinentalraketen einsatzbereit. Die Experten gehen von 75 Atombombern aus, von denen aber nicht alle startklar sein dürften. Zehn nuklear bewaffnete U-Boote verfügen demnach über 160 Raketen mit mehr als 570 Sprengköpfen. Rund 7300 weitere sind in Reserve oder warten auf ihre Verschrottung. Im Bereich der »nicht-strategischen« Atomwaffen zum Kurzstreckeneinsatz soll Russland über 5390 Sprengköpfe verfügen, von denen die Hälfte als einsatzfähig gilt.

Schon an Hand dieser Zahlen wird deutlich, dass die neue Vereinbarung zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen mit einer Laufzeit von zehn Jahren nur ein erster Schritt auf dem langen Marsch in die von Barack Obama versprochene Welt ohne Atomwaffen sein kann. Mit ihr soll die Zahl der einsatzbereiten Atomsprengköpfe auf je 1550 begrenzt werden, die der Trägersysteme (Raketen, U-Boote und Jets) jeweils auf 800. Trotz des umfassendsten Abrüstungsvertrages seit zwei Jahrzehnten sind das weiter nukleare Overkill-Kapazitäten. Und da etwa die Unmengen an ausgelagerten Sprengköpfen in den USA erst gar nicht gezählt würden, könne man auch kaum von einem Abbau der Arsenale von insgesamt über 30 Prozent sprechen, betont der Moskauer Militärexperte Alexander Golz. Die atomare Überlegenheit der USA gegenüber Russland bleibe unangetastet.

Doch soll das erst nach zähen Verhandlungen zustande gekommene Folgeabkommen für den im Dezember ausgelaufenen START-I-Vertrag auch ein Signal sein – mit Blick auf den zur Überprüfung anstehenden Atomwaffensperrvertrag, mit Blick auf das Hauptziel Barack Obamas: Er will den Zugriff von Terroristen auf nukleares Material verhindern und atomare Ambitionen von Staaten wie Iran und Nordkorea zügeln. Da seien erfolgreiche Abrüstungsverhandlungen mit Moskau nicht nur wichtig für die Beziehungen zu Russland, sondern auch »für das politische Kapital Obamas im Ausland«, meint Andrew Kuchins vom Washingtoner Center for Strategic and International Studies. Das soll sich bereits beim Atomgipfel nächste Woche in Washington auszahlen, zu dem der Präsident 47 Staats- und Regierungschefs eingeladen hat.

Allerdings könnte die Ratifizierung im US-amerikanischen Senat schwierig werden. Die Regierung zeigt sich zwar optimistisch, das Vertragswerk bis Ende des Jahres durchs Parlament zu bringen. Doch damit die erforderliche Zweidrittelmehrheit von mindestens 67 der 100 Senatoren zustande kommt, müssen auch 18 Republikaner und Unabhängige zustimmen. Und im November stehen Zwischenwahlen zum Kongress an, was die Konservativen zu einer wahltaktisch motivierten Radikalopposition veranlassen könnte. Zumal wenn das Kleingedruckte des START-Vertrages bekannt und gefragt wird, wer denn mehr Kompromisse machen musste. Sollte es Obama sein, könnte er selbst im eigenen Lager der Demokraten noch Probleme bekommen.

Die wichtigsten Abrüstungsverträge

Atomwaffen-Sperrvertrag 1968:
Danach dürfen die fünf offiziellen Atommächte keine Nuklearwaffen weitergeben, beigetretene Staaten keine produzieren oder erwerben.

Vereinbarung über Atomunfälle 1971:
Bei Zwischenfällen müssen sich die Supermächte sofort benachrichtigen, um einem »unbeabsichtigten Kernwaffenkrieg« vorzubeugen.

SALT I 1972:
Der auf 5 Jahre befristete Vertrag begrenzte die Abschussvorrichtungen für landgestützte Interkontinentalraketen und ballistische U-Boot-Raketen.

ABM-Vertrag 1972:
Er erlaubt nur im Umkreis der Hauptstädte Moskau und Washington die Aufstellung von ABM-Systemen (Anti Ballistic Missiles) zur Abwehr feindlicher Raketen. Die USA kündigen ihn 2001 einseitig.

SALT II 1979:
Die Trägersysteme für strategische Atomwaffen werden auf je 2400 (Raketen und schwere Bomber) begrenzt.

Mittelstreckenraketen-Vertrag 1987:
Alle landgestützten Raketen in Europa mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 km werden kontrolliert vernichtet.

START I 1991:
Die Bestände weitreichender Systeme über 5000 km sollten um 25 bis 30 Prozent verringert werden. Der Vertrag lief im Dezember 2009 aus.

START II 1993:
Das Abkommen zwischen den USA und Russland sieht eine weitere Verringerung der Bestände und den völligen Verzicht auf landgestützte Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen vor.

Vereinbarung zur Meldung von Raketenabschüssen 2000:
Auch die amerikanisch-russische Vereinbarung zur Unterrichtung über Raketenstarts und Raumflüge soll die Atomkriegsgefahr verringern.

SORT 2002:
Abkommen zwischen den USA und Russland zum Abbau nuklearer Angriffswaffen bis 2012 auf jeweils 1700 bis 2200 Sprengköpfe.
dpa/ND



* Aus: Neues Deutschland, 8. April 2010


START-Vertrag: Die heimlichen Sieger?

Von Irina Wolkowa, Moskau **

Der neue START-Vertrag hat eine Laufzeit von zehn Jahren und sieht vor, dass beide Seiten in diesem Zeitraum die Anzahl nuklearer Sprengköpfe auf jeweils 1550 senken. Das entspricht einer Reduzierung um 30 Prozent. Moskau hatte, vor allem aus Kostengründen, erheblich niedrigere Obergrenzen angepeilt: 1100 pro Seite. Denn Russland muss, um die nukleare Parität aufrechtzuerhalten, die größtenteils noch aus sowjetischen Zeiten stammenden Gefechtsköpfe und Langstreckraketen verschrotten und durch moderne ersetzen.

Es waren jedoch weder Sprengköpfe noch deren Träger, an denen sich die Verhandlungen monatelang festgefahren hatten. Zwar hatten die Präsidenten Medwedjew und Obama bereits im Juli 2009 den Neustart der Beziehungen vereinbart und dabei vor allem auf Tempo bei strategischer Abrüstung und Rüstungskontrolle gedrängt. Ihre Unterhändler taten sich dennoch schwer damit, das Misstrauen zu überwinden, das sich in der achtjährigen Amtszeit von Bush und Putin wie Mehltau über das bilaterale Verhältnis gelegt hatte.

Entwarnung gaben beide Außenämter daher erst am 26. März nach einem weiteren Telefonat der Staatschefs. Dabei wurde offenbar jener Punkt geklärt, der bis zuletzt strittig war: eine juristisch verbindliche Regelung des Zusammenhangs zwischen Angriffs- und Verteidigungswaffen, auf der Moskau bestand, und der Zugriff auf telemetrische Daten bei Teststarts russischer Topol-M-Raketen. Darauf pochten die USA, die derzeit nichts Gleichwertiges haben. Zwar hätte des Pentagon andere Möglichkeiten, die Flugbahnen der Superraketen zu verfolgen. Der Senat in Washington hatte sich jedoch auf den Datenaustausch mit Moskau kapriziert, und Obama gab nach, um die Ratifizierung nicht zu gefährden.

Trotzdem wird die Abstimmung im Kongress für ihn eine Zitterpartie. Die russische Duma dagegen wird so votieren, wie vom Kreml gefordert. Das Parlament, sagte dessen Präsident Boris Gryslow schon kurz nach Amtsantritt 2004, sei schließlich »kein Ort für Diskussionen«. Moskau, gewarnt durch das Hickhack um den START-II-Vertrag, dessen Ratifizierung in Washington scheiterte, besteht daher auf zeitgleicher Abstimmung in beiden Parlamenten.

Schon deshalb darf Moskau, das sich als heimlicher Sieger des Verhandlungsmarathons sieht, seine Freude darüber nicht allzu offen zur Schau stellen.

Andererseits gilt es Kritiker daheim davon zu überzeugen, dass Russlands Interessen in vollem Umfang gewahrt bleiben. Immerhin hatte KP-Chef Gennadi Sjuganow Medwedjew gewarnt, er möge einen Blick auf die katastrophalen Folgen von Michail Gorbatschows Politik werfen, bevor er in dessen Rolle schlüpfe. Und Generalstabschef Nikolai Makarow attackierte den neuen Vertrag noch, als Medwedjew und Obama schon dessen Feinschliff besorgten. Selbst kurz vor dem Prager Gipfel drohte Außenminister Sergej Lawrow jetzt mit dem Ausstieg Moskaus aus dem Vertrag, »wenn die US-amerikanische Raketenabwehr wesentlichen Einfluss auf die Effizienz der strategischen Kernwaffentruppen Russlands ausübt«.

** Aus: Neues Deutschland, 8. April 2010


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