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Wie sicher ist die moslemische Bombe?

Internationale Besorgnis über instabile Kernwaffenmacht Pakistan

Von Wolfgang Kötter *

Heute (18.2.) finden in Pakistan die nach dem Mord an der oppositionellen Kandidatin Benazir Bhutto verschobenen Parlamentswahlen statt. Wer auch immer als Sieger aus dem Urnengang hervorgeht, wird sich auf Fragen nach der Sicherheit des pakistanischen Atomwaffenarsenals einstellen müssen. Nicht erst durch die blutigen Auseinandersetzungen nach dem Attentat, sondern bereits seit Wochen und Monaten wächst durch die anhaltende politische Destabilisierung die Gefahr, dass Teile der auf bis zu 120 geschätzten atomaren Sprengköpfe und mindestens 2 Tonnen nuklearen Spaltmaterials in falsche Hände geraten könnten. Da sich die wichtigsten atomaren Einrichtungen in größtmöglicher Distanz zu Indien im Nordwesten des Landes befinden, lösen die hier in den paschtunischen Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan eskalierten Kämpfe gegen Rückzugsbasen der Taliban und militante islamistische Gruppierungen zusätzliche Besorgnis aus.

Das Streben Pakistans nach der ultimativen Waffe geht bis ins vergangene Jahrhundert zurück. Bereits im Jahre 1972 soll der damalige Ministerpräsident Zulfiqar Ali Bhutto gefordert haben: "Wir bauen die moslemische Bombe, und wenn wir dafür Gras fressen müssen." Hunderte pakistanischer Wissenschaftler und Ingenieure wurden daraufhin in den USA, Kanada und Westeuropa, darunter auch in der Bundesrepublik, für den Nuklearbereich ausgebildet. Zu den angehenden Atomexperten gehörte auch der spätere Schöpfer der pakistanischen Atombombe Abdul Qadeer Khan. Ende 1975 kehrte er mit bei der europäischen Gemeinschaftsanlage Urenco gestohlenen Bauplänen für Gasultrazentrifugen zur Urananreicherung nach Pakistan zurück. Khan leitete dann jahrelang das Forschungsinstitut "Khan Research Laboratories" in Kahuta bei Islamabad. Gleichzeitig betrieb er allerdings einen florierenden internationalen Schwarzmarkt für Nukleartechnik, auf dem von der Blaupause bis zur Gaszentrifuge alles käuflich war.

Pakistan, wie auch Nachbar und Dauerrivale Indien, trat weder dem Atomwaffensperrvertrag noch dem nuklearen Teststoppvertrag bei. Ohne völkerrechtliche Beschränkungen und mit Unterstützung aus China, Frankreich und den USA betrieb Islamabad seine atomaren Rüstungspläne. Ende der siebziger Jahre gelang die erste Urananreicherung mittels Gaszentrifugen. Nachdem Indien im Jahre 1974 eine "friedliche" Kernexplosion gezündet hatte, forcierte Pakistan die nuklearen Ambitionen. Aber erst im Mai 1998 beantwortete Pakistan indische Atomwaffenversuche umgehend mit einer eigenen Testserie. Mit dem beiderseitigen Atomwaffenbesitz birgt nun jede Kontroverse die Gefahr, zu einem nuklearen Schlagabtausch zu eskalieren. In der umstrittenen Kaschmir-Region, wo zwei der drei gegeneinander geführten Kriege begannen, kam es tatsächlich 1999 beinahe zu einem Atomkrieg. Erst in letzter Minute gelang es den USA auf einem Krisentreffen im Weißen Haus, den pakistanischen Premier Nawaz Sharif zum Abblasen des Atomwaffenschlags zu veranlassen.

Die Leitung des pakistanischen Nuklearwaffenprogramms liegt bei der National Command Authority (NCA), die sich ursprünglich aus dem Regierungschef, dem Außen- und dem Innenminister, sowie führenden Generälen zusammensetzte. Nachdem Präsidenten Musharraf das militärische Oberkommando im vergangenen November aber abgegeben hatte, sicherte er sich diesen Posten und damit alle Vollmachten per Dekret. Zurzeit laufen umfangreiche Rüstungsprogramme für Flugkörper unterschiedlicher Reichweite als Trägermittel, zuletzt getestet wurde eine Ghauri-I-Mittelstreckenrakete, die 1300 km weit fliegen kann. Die Ghauri-III-Rakete soll dann 3000 km erreichen, und an einer Rakete mit einem Aktionsradius von über 4000 km wird bereits gearbeitet. Diese könnte dann unter anderem bis Europa fliegen. Das Militär entwickelt und testet auch Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 700 km. Diese wendigen Flügelraketen bewegen sich relativ niedrig über dem Boden, passen sich den landschaftlichen Gegebenheiten an und könnten so den Radars der gerade entstehenden indischen Raketenabwehr ausweichen. Darüber hinaus stehen als Transportmittel Kampfflugzeuge verschiedener Typen und Herkunft zur Verfügung.

International erregt die wachsende Gefahr eines Militärputsches oder gar Bürgerkrieges ernsthafte Beunruhigung. Unter anderem wird befürchtet, dass fundmentalistische Islamisten in Militär oder im Geheimdienst ISI die Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen erlangen könnten. Auch internationale Terroristen der Taliban oder von Al Kaida könnten Nutznießer der politischen Instabilität sein und möglicherweise Spaltmaterial für den Bau einer radiologischen Bombe stehlen oder nukleartechnisches Know-how erwerben. So äußerte der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) El-Baradei erst kürzlich die Sorge, "dass Atomwaffen in die Hände einer extremistischen Gruppe in Pakistan oder in Afghanistan fallen könnten".

Religiös-fundamentalistisches Denken breitet sich zunehmend gerade unter der jungen Wissenschaftselite aus. Aber auch etablierte Atomspezialisten haben frühere Kontakte zu Osama Bin Laden und Taliban-Führer Mullah Omar zugegeben. Die USA finanzieren laut "New York Times" seit einigen Jahren ein rund 100 Mio. Dollar teures Geheimprogramm zur Sicherung der pakistanischen Atomwaffen. Das Geld ist unter anderem für Hubschrauber, Nachtsichtgeräte und Material zum Aufspüren von Nuklearmaterial vorgesehen, außerdem für die Schulung von einheimischem Personal in den USA und für den Bau einer Ausbildungsstätte sowie eines Zentrums für Nuklearsicherheit in Pakistan. Erhebliche Summen aber wurden laut Medienberichten zur Aufrüstung gegen Indien zweckentfremdet abgezweigt.

Spezialeinheiten der US-Delta-Force trainieren bereits seit längerem, wie sie die pakistanischen Nuklearwaffen im akuten Krisenfall aufspüren und sicherstellen könnten. Transportflugzeuge vom Typ C-17 sollen jedenfalls bereitstehen, um die Sprengköpfe notfalls auszufliegen. Nach einem anderen Szenario würden ausländische Streitkräfte "vorbeugend" im Gebiet der Hauptstadt Islamabad und in den Nordwestprovinzen an der Grenze zu Afghanistan stationiert werden. Obwohl Pakistan nationale Sicherungssysteme entwickelt haben will, verfügt es nicht über die elektronischen Sicherungscodes, die sogenannten Permissive Action Links (PAL), die bei den etablierten Nuklearmächten den unautorisierten Einsatz von Atomwaffen verhindern. Sollten die Kernwaffen Pakistans tatsächlich außer Kontrolle geraten, könnte es nicht nur für die Region, sondern auch für die ganze Welt lebensbedrohlich werden.

Atomwaffenarsenale weltweit (2008)

Land Anzahl
Russland über 15.000
USA über 9.000
China 200
Frankreich 348
Großbritannien 200
Israel 200-400
Indien 55-110
Pakistan 55-120
KDVR 6-9
gesamt über 26.000



* Aus: Neues Deutschland, 18. Februar 2008


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