Exclusiver Atomclub
Die Gruppe Nuklearer Lieferländer tagt in Brasilien
Von Wolfgang Kötter*
In der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro beraten ab heute (29.5.) 45 Nuklearstaaten darüber, wie sie den atomarem Handel und die Nichtverbreitung von Kernwaffen miteinander vereinbaren können. Das ist für die zumeist hochentwickelten Industriemächte mit fortgeschrittener Atomindustrie deshalb ein Problem, weil die Nutzung der Kernenergie höchst zwiespältig ist. Sie kann der Energieerzeugung und friedlichen Forschung ebenso wie der Herstellung von Massenvernichtungswaffen dienen. Ersteres ist durch völkerrechtliche Vereinbarungen erlaubt und förderungswürdig, letzteres ebenfalls durch internationale Verträge verboten. Das Dilemma entsteht daraus, dass theoretische Kenntnisse der Kernphysik, technologisches Know-how, technische Ausrüstungen und nukleares Material dual-use Charakter tragen, also gleichzeitig sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke nutzbar sind. Diesem Problem wollen die Mitglieder der "Gruppe Nuklearer Lieferländer" (Nuclear Suppliers Group - NSG) durch die Vereinbarung von Exportkontrollen begegnen.
Schon seit längerem bemühen sich Staaten, ihre nukleare Exportpolitik zu harmonisieren, damit Ausfuhren nicht direkt oder indirekt zur Verbreitung von Atomwaffen beitragen. Bereits in den siebziger Jahren stellte das Zangger-Komitee - benannt nach seinem ersten Vorsitzenden, dem Schweizer Professor Claude Zangger - eine sogenannte "Trigger"-Liste zusammen. Sie enthielt Bedingungen und Auflagen für den Export von Kernmaterialien und nuklearer Technik in Nichtnuklearstaaten. Die Entwicklungsländer reagierten darauf ablehnend, hatten sie doch gerade erst in dem 1968 ausgehandelten Kernwaffensperrvertrag einen Interessenausgleich erreicht: Für ihren Verzicht auf Atomwaffen erhielten sie das Recht auf einen ungehinderten Zugang zur zivilen Nukleartechnologie, sowie auf Zusammenarbeit und Unterstützung bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Doch als Indien 1974 eine "friedliche" Kernexplosion zündete und damit seine prinzipielle Fähigkeit zum Bau eines Kernwaffensprengsatzes demonstrierte, beschlossen die nuklearen Lieferländer auf einem Treffen in London, Nuklearexporte weiter zu reglementieren. Damit schlug die Geburtsstunde der NSG. Der zunächst aus den USA, der Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich, der BRD, Japan und Kanada bestehende "Londoner Club" einigte sich 1976 auf Richtlinien für Nukleartransfers. Diese sind nicht unmittelbar rechtsverbindlich. Jedes Mitglied kontrolliert vielmehr in eigener Verantwortung durch innerstaatliche Exportkontrollgesetze die Ausfuhr "sensitiver" Güter, die möglicherweise für die Herstellung von Kernwaffen verwendbar sind. Die Empfängerländer müssen der Internationale Atomenergiebehörde IAEA umfassende Sicherungskontrollen all ihrer Nuklearaktivitäten gewähren.
Inzwischen ist die Gruppe um mehr als das Sechsfache angewachsen, die Exportkontrollen wurden mehrfach erweitert und präzisiert, aber die Probleme sind dieselben geblieben. Ja, sie haben sich aus mehreren Gründen noch verschärft. Erstens haben die Nichtkernwaffenstaaten im Atomwaffensperrvertrag ihren Minderstatus nicht bedingungslos und für alle Zeiten akzeptiert, sondern den Verzicht an die nukleare Abrüstung der Kernwaffenmächte geknüpft. Diese jedoch haben ihre vertragliche Verpflichtung mit permanentem Zynismus ignoriert und die Rolle von Nuklearwaffen in Ihren Sicherheitsdoktrinen sogar wieder aufgewertet. Jüngste Aufrüstungsbestrebungen und entsprechende Erklärungen zielen darauf ab, neue, für spezifische Einsatzszenarien maßgeschneiderte Atomwaffen zu entwickeln und gegebenenfalls auch einzusetzen. Für viele Nichtnuklearstaaten lauten die Erfahrungen militärischer Interventionen der letzten Jahre auf dem Balkan und im Mittleren Osten: Nur wer Atomwaffen besitzt, ist vor einem Angriff geschützt. Nukleare Habenichtse jedoch werden bei Ungehorsam mit Krieg bestraft. Als Konsequenz scheint ein weltweiter "Run" auf Kernwaffen einzusetzen, zumindest aber will man sich die nukleare Option offenhalten. Hierfür bildet die Meisterung des geschlossenen nuklearen Brennstoffkreislaufs die materielle Basis. Das bedeutet, die Uranförderung, Anreicherung, Herstellung der Kernbrennstäbe, Wiederaufbereitung und Endlagerung in eigener Hand zu haben. Wer immer - ungeachtet der Motive im Einzelnen - danach strebt, setzt sich deshalb dem internationalen Verdacht aus, er trachte unter dem Deckmantel der zivilen Nutzung nach dem Besitz von Atomwaffen. Verstärkte Exporteinschränkungen durch die Industriestaaten wiederum kritisieren die Entwicklungsländer als diskriminierende Willkürakte des reichen Nuklear-Kartells.
Zusätzlich belastet wird die Kontroverse durch die Doppelmoral bei der Behandlung der "Verdächtigen". Iran drohen Sanktionen bis hin zur militärischen Gewaltanwendung und Venezuela wird eine beabsichtigte Nuklearbewaffnung glattweg unterstellt. Mit der Führung der KDVR, die den Atomwaffensperrvertrag verlassen und den Kernwaffenbesitz öffentlich verkündet hat, wird zumindest über ihr Atomprogramm verhandelt. Brasilien erfreut sich mehr oder weniger eines Blankoschecks und darf seine Nuklearindustrie nahezu ungehinderten entwickeln. Völlig unbehelligt bleiben Israel, Indien und Pakistan, die dem Kernwaffensperrvertrag nie beigetreten sind, internationale Kontrollen bisher weitgehend ablehnten und statt dessen mit dem eigenen Atomwaffenbesitz vollendete Tatsachen schufen. "Amerika kann nicht glaubwürdig nukleare Mäßigung vom Barhocker aus predigen", kritisiert der demokratische Kongressabgeordnete Edward Markey aus Massachusetts das jüngste Atomabkommen der USA mit Indien. "Wir können nicht zu Iran, das den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag unterschrieben hat, sagen, ihr dürft keine Anreicherungstechnologien besitzen, während wir gleichzeitig eine besondere Ausnahme von den nuklearen Proliferationsgesetzen für Indien zurechtzimmern, einem Land, das sich geweigert hat, den Vertrag zu unterzeichnen." Nicht zuletzt wegen dieser Heuchelei geraten die neuerlichen Offerten aus Washington, Paris und Moskau zur atomaren Kooperation mit Neu Delhi auch innerhalb der NSG in die Kritik. Die von der Bush-Regierung angestrebte Absegnung des Nuklearabkommens mit Indien wird es wahrscheinlich vorerst nicht geben. Bereits im Vorfeld der heutigen Tagung haben nämlich Argentinien, Australien, Brasilien, China, Irland, Japan, die Niederlande, Norwegen und Schweden erhebliche Bedenken angemeldet.
Verpflichtungen im Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV)
Die Kernwaffenstaaten verpflichtet sich, Kernwaffen an niemanden weiterzugeben und Nichtkernwaffenstaaten weder zu unterstützen noch zu ermutigen, Kernwaffen herzustellen oder zu erwerben. (Artikel I)Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen. (Artikel II)
* Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Doppelmoral im exklusiven Atomklub" in der Tageszeitung "Neues Deutschland" vom 29. Mai 2006
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