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Nukleare Nichtverbreitung steht auf dem Spiel

Stimmen für Ende der Massenvernichtungswaffen mehren sich

Von Wolfgang Kötter *

In New York wird zur Zeit das marode UNO-Gebäude gründlich restauriert. Aber das ist nicht die einzige Rettungsaktion am East River in Manhattan. Unter Leitung von Boniface Chidyausiku aus Simbabwe beginnen heute letzte Vorbereitungen für die im kommenden Jahr stattfindende Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag.

Das Abkommen, dem gegenwärtig 191 Staaten angehören, gilt als tragende Säule für das Gebäude internationaler Sicherheit, aber ihr Fundament ist marode. Der vor vier Jahrzehnten ausgehandelte Vertrag soll verhindern, dass sich Atomwaffen auf der Welt ausbreiten und weitere Besitzer finden. Doch die nukleare Nichtverbreitung existiert gegenwärtig bestenfalls virtuell. In der Realität ist die Zahl der Atomwaffenmächte von ursprünglich fünf auf mindestens neun angewachsen. Und wenn kein Wunder geschieht, wird schon bald eine Lawine losbrechen, die die ultimative Waffe 20 bis 30 weiteren Staaten, aber möglicherweise auch Terroristen oder Kriminellen in die Hände spielt. USA-Präsident Obama macht Hoffnungen

Vieles ist falsch gelaufen in der Vergangenheit, aber vor allem die letzten acht Jahre der Bush-Regierung in den USA haben die Abrüstung faktisch ins Koma gestürzt. Nun verbleibt möglicherweise nur noch eine letzte Chance, um den todkranken Patienten zu retten. Mit Spannung wird deshalb dem Auftreten der US-Sonderbeauftragten Susan Burk entgegengesehen. Von ihr erwarten die Konferenzteilnehmer nicht weniger als die Erklärung einer grundsätzlichen Kursänderung. Die Hoffnungen sind nicht unbegründet, hat doch Präsident Barack Obama erst kürzlich versprochen: »Als Nuklearmacht – als einzige Nuklearmacht, die eine Atomwaffe eingesetzt hat – haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verantwortung zu handeln … Zunächst werden die Vereinigten Staaten konkrete Schritte in Richtung einer Welt ohne Atomwaffen unternehmen. Um die Denkmuster des Kalten Kriegs zu überwinden, werden wir die Rolle von Atomwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie reduzieren und andere anhalten, dasselbe zu tun.«

Für einen führenden Politiker ist diese Vision alles andere als selbstverständlich. Lange Zeit war die atomwaffenfreie Welt lediglich ein Traum der Friedensbewegung, unterstützt höchstens von den nuklearen Habenichtsen, denen die ultimative Waffe zu gefährlich, technisch zu aufwändig oder einfach zu teuer erschien. Die strategischen Eliten verunglimpften ihn hingegen als »utopische Fantasterei« und als realitätsfernes Wunschdenken. Noch bis vor kurzem galten Kernwaffen den Architekten und Vollstreckern der nuklearen Abschreckung als unverzichtbar für die eigene Sicherheit.

Doch langsam begann der Wind sich zu drehen. Zunächst gelangten vor allem Ex-Politiker zu der Erkenntnis, dass die einzige Garantie gegen eine nukleare Katastrophe die Abschaffung der Kernwaffen ist. Inzwischen aber hat die eindringliche Warnung sogar die heute Regierenden erreicht. Zunächst wollen die USA und Russland bis Jahresende ein Nachfolgeabkommen für den auslaufenden START-Vertrag über die Reduzierung der strategischen Atomwaffen abschließen. »Das ist der erste Schritt«, so Obama, »und zweitens müssen wir zusammen den Vertrag zur Nichtverbreitung von Nuklearwaffen als Basis der Kooperation stärken.«

Die grundlegende Abmachung steht: Länder mit Atomwaffen leiten ihre Abrüstung ein, Länder ohne Atomwaffen erwerben keine, und alle Länder haben Zugang zu friedlicher Atomenergie. Doch jahrelang wurde diese Balance der Verpflichtungen verletzt, nicht zuletzt von den Nuklearmächten. Um den Atomwaffensperrvertrag zu retten, ist jetzt schnelles Handeln gefragt, das einen totalen Kontrollverlust über Kernwaffen verhindert und die Gefahr ihrer absichtlichen oder zufälligen Anwendung abwendet.

Vorwarnzeiten für Kernwaffen senken

Solche Sofortmaßnahmen sind außerordentlich dringlich, denn noch immer befinden sich Tausende Kernwaffen in höchster Alarmstufe. Entsprechend den militärischen Einsatzkonzepten sind die fortgeschrittensten Raketentypen innerhalb von einer bis fünfzehn Minuten startbereit. Gerade diese kurzen Vorwarnzeiten aber steigern das Risiko ihrer irrtümlichen Anwendung ins Unermessliche und schon ein kleiner Computerfehler oder eine Fehlinterpretation durch einen Kontrolloffizier können in diesem schmalen Zeitfenster zu unabsehbaren Folgen führen. Atomraketen werden von computergestützten Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssystemen gesteuert und gezündet. Diese hochkomplexen Systeme können nicht nur durch Softwarefehler versagen, sondern sogar durch Cyber-Terroristen manipuliert werden. Darum ist es dringend erforderlich, die Einsatzbereitschaft von Atomwaffen unverzüglich abzusenken.

Darüber hinaus wird immer deutlicher, dass auf lange Sicht nur die Radikalkur einer umfassenden nuklearen Abrüstung das Übel an der Wurzel beseitigen kann. Gleich mehrere hochrangige Expertenkommissionen, aber auch rüstungskritische Nichtregierungsorganisationen haben sich inzwischen konstituiert, um konkrete Vorschläge für das weitere Vorgehen zu erarbeiten. So starteten 100 namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Militär und Gesellschaft in Paris die länderübergreifende Kampagne »Global Zero«. Darin regen sie den Abschluss einer weltweiten Konvention zum Verbot aller Nuklearwaffen an. Auf einem Gipfeltreffen soll im Januar 2010 ein detaillierter Aktionsplan für die Beseitigung aller Kernwaffenlager binnen 25 Jahren vorgestellt werden.

»Wir, die Unterzeichner, glauben, dass wir alle Nuklearwaffen weltweit abschaffen müssen, um unsere Kinder, unsere Enkel und unsere Zivilisation vor der Bedrohung einer nuklearen Katastrophe zu schützen. Wir verpflichten uns daher dazu, für die Abschaffung von Nuklearwaffen zu einem bestimmten Zeitpunkt auf ein rechtlich bindendes, nachprüfbares Abkommen hinzuarbeiten, das alle Nationen einschließt.«

Zu den 100 Erstunterzeichnern der Erklärung »Global Zero« gehören u.a. die ehemaligen Staatschefs Gro Harlem Brundtland, Fernando Cardoso, Jimmy Carter, Michail Gorbatschow, Fidel Ramos und Mary Robinson, die Ex-Außenminister Lloyd Axworthy, Margarett Beckett, Lakhdar Brahimi, Hans-Dietrich Genscher, Gareth Evans, Yoriko Kawaguchi und Jaswant Singh, aber auch Persönlichkeiten wie die Nobelpreisträger Desmond Tutu und Muhammad Yunus. Lexikon

Die wichtigsten Bestimmungen des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen:

Artikel I
Die Kernwaffenstaaten verpflichten sich, Kernwaffen an niemanden weiterzugeben und Nichtkernwaffenstaaten weder zu unterstützen noch zu ermutigen, sie herzustellen oder zu erwerben.

Artikel II
Die Nichtkernwaffenstaaten verpflichten sich, Kernwaffen nicht herzustellen oder zu erwerben.

Artikel III
Kontrolle durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) auf der Grundlage individueller Abkommen.

Artikel IV
Recht auf Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke; dafür Verpflichtung zum Austausch von Ausrüstungen, Material und Informationen.

Artikel V
Recht auf überirdische friedliche Kernexplosionen (aus Umweltgründen obsolet).

Artikel VI
Verpflichtung zu Verhandlungen über die Beendigung des nuklearen Wettrüstens, nukleare Abrüstung sowie die vollständige Abrüstung unter internationaler Kontrolle.

Artikel VII
Recht zur Bildung kernwaffenfreier Zonen.


Artikel X

Bei Gefährdung der höchsten Landesinteressen Recht auf Rücktritt nach dreimonatiger Kündigungsfrist.



* Aus: Neues Deutschland, 4. Mai 2009


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