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Moskau drängt auf gemeinsamen Raketenschild

Heute soll auf der Tagung des NATO-Russland-Rates ein Vertragsentwurf übergeben werden

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Russland will der NATO einen Plan zur Schaffung eines gemeinsamen Raketenabwehrsystems in Europa vorschlagen. Den Vertragsentwurf wird Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow heute (8. Juni) auf der Tagung des Russland-NATO-Rates in Brüssel offiziell übergeben.

Geht es nach Moskau, dürfen Abwehrstellungen und Radar nicht dort stationiert werden, wo sie russische Raketen abfangen könnten. Wie die Moskauer Tageszeitung »Kommersant« schreibt, werden dabei konkret Bulgarien, Rumänien, die Türkei und vor allem Polen genannt. Ein Radar möchte Moskau auch nicht in Tschechien sehen. Dazu kommen Beschränkungen für Typen von Abfangraketen, deren Anzahl und Geschwindigkeit. Diese, so Vizeverteidigungsminister Anatoli Antonow, der vergangene Woche dazu bereits mehrfach mit seinem US-amerikanischen Widerpart James Miller konferierte, müsse deutlich unter der von Interkontinentalraketen liegen und sich an der Geschwindigkeit von Kurz- und Mittelstreckenraketen orientieren. Schließlich hätten die USA die Notwendigkeit einer globalen Abwehr mit der Gefahr von Angriffen aus dem Nahen und Mittleren Osten begründet – Regionen also, deren Staaten bisher nicht über Langstreckenraketen verfügen. Auch die Verifizierungsmodalitäten sollen bis ins Detail geregelt werden.

Die NATO, so fürchten hiesige Experten, werde sich auf derartige Beschränkungen nicht einlassen. Dass Moskau überhaupt verhandelt, ist aus ihrer Sicht dennoch ein Riesenfortschritt. Als USAPräsident George W. Bush erstmals mit entsprechenden Plänen herausrückte, reagierte Moskau noch mit totaler Ablehnung. Der Neustart der Beziehungen, wie ihn Russlands Präsident Dmitri Medwedjew und sein Kollege Barack Obama 2008 vereinbarten, brachte jedoch Bewegung in die festgefahrenen Abrüstungsverhandlungen. Moskau setzte in dem im April 2010 unterzeichneten und inzwischen ratifizierten neuen START-Vertrag zur Begrenzung strategischer Offensivwaffen einen Passus durch, der den Zusammenhang zwischen Angriffs- und Verteidigungswaffen anerkennt – und zeigt seither auch in Sachen Raketenabwehr Verhandlungs- und Kooperationsbereitschaft.

Der Westen, sagte Vizeverteidigungsminister Antonow gegenüber »Kommersant«, müsse russische Besorgnisse nicht nur verstehen, sondern sie auch zerstreuen – durch völkerrechtlich verbindliche Garantien, dass das geplante System keine Bedrohung für Russland darstelle. Bei »Einschränkung unserer strategischen Möglichkeiten«, betonte Medwedjew erst im Mai auf seiner Jahrespressekonferenz, sei Russland gezwungen nachzurüsten. Das aber verschlingt gewaltige Ressourcen, die für die Modernisierung des Landes und Soziales gebraucht werden.

Konkrete Kooperationsangebote aus Washington stehen allerdings nach wie vor aus. Des Wartens offenbar überdrüssig, geht Russland deshalb jetzt in die Offensive und bringt den Westen damit in Zugzwang. Mehr noch. Am Freitag ermächtigte Präsident Medwedjew NATO-Botschafter Dmitri Rogosin zu Direktverhandlungen mit westlichen Staatschefs. Frankreich und Großbritannien stehen bereits in diesem Monat auf seinem Reiseplan, Verhandlungen in Washington im Juli. Rogosin selbst sieht seine Mission als eine der größten Herausforderungen für die russische Diplomatie an, ist aber entschlossen, sie erfolgreich zu Ende zu führen.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Juni 2011


Kein Atomausstieg

Von Olaf Standke **

Wenn der NATO-Russland-Rat heute in Brüssel über die geplante gemeinsame Raketenabwehr debattiert, dann steht letztlich auch der neue russisch-amerikanische START-Vertrag zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen zur Disposition. Denn Moskau hat schon gedroht, aus dem atomaren Abrüstungsabkommen auszusteigen, sollten seine legitimen Sicherheitsinteressen bei der Errichtung des Rakenschilds nicht ausreichend und rechtlich bindend berücksichtigt werden. Es wäre eine erhebliche abrüstungspolitische Schlappe, gehört die bilaterale Vereinbarung doch zu den wenigen Erfolgen der vergangenen Jahre auf diesem sensiblen Feld.

Denn trotz der großen Vision von USA-Präsident Barack Obama von einer kernwaffenfreien Welt – noch immer lagern auf der Erde über 20 500 nukleare Sprengköpfe. 5000 davon sind einsatzbereit, 2000 befinden sich sogar in »höchster Alarmbereitschaft«, wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI in seinem gestern präsentierten jüngsten Jahrbuch zur Rüstung und Abrüstung warnt. Zwei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges ist das eine überaus unverantwortliche Overkill-Kapazität, die umso gefährlicher ist, weil sich die Zahl der Atommächte weiter erhöht hat. In dieser Situation brauchte es dringend weiterer START-Verträge, um die Arsenale endlich schrittweise gen Null zu fahren. Doch dieser Atomausstieg lässt auf sich warten. Im Gegenteil. So wollen die USA beispielsweise ihre in Europa gelagerten Atombomben modernisieren – also auch jene, die noch immer auf dem Fliegerhorst im Eifeldorf Büchel lagern sollen.

** Aus: Neues Deutschland, 8. Juni 2011 (Kommentar)

Russland sieht seine Atomstreitkräfte von US-Raketenabwehr bedroht

Washington hat Russland vorerst keine Garantien gegeben, dass die für den US-Raketenschild in Europa bestimmten Kriegsschiffe ausschließlich in den südlichen Gewässern kreuzen und nicht in den nördlichen erscheinen werden.

Wie der russische Nato-Vertreter Dmitri Rogosin dem Fernsehsender Rossija 24 sagte, werde derzeit eine US-Basis in Rumänien eröffnet, danach sollen US-Raketenabwehrelemente in osteuropäischen Ländern stationiert werden. Russland wisse über die US-Pläne inklusive der vierten Phase in den Jahren 2018 bis 2020 Bescheid.

„Das Auftauchen von US-Kreuzern beispielsweise in der Barentssee würde eine kritische Situation für Russland schaffen, weil die USA in diesem Fall die strategischen Stützpunkte der russischen Atomstreitkräfte unter Kontrolle halten könnten“, sagte Rogosin.

Das US-Raketenschiff Monterey ist am Dienstag (7. Juni) in den rumänischen Hafen Constanza eingelaufen. Das Schiff soll ein halbes Jahr im Mittelmeer bleiben und dabei einige Aufgaben des künftigen Einsatzes im Rahmen des Raketenabwehrsystems üben. Im März 2010 hatte Bukarest erklärt, dass die USA zum Jahr 2014 drei Batterien mit 24 Startanlagen auf dem Territorium Rumäniens stationieren werden.

Russland reagierte negativ auf die Absicht der USA, Teile ihres Raketenschilds in Rumänien zu stationieren, und forderte von den Vereinigten Staaten eine ausschöpfende Erklärung.

***Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 8. Juni 2011; http://de.rian.ru




Russland und NATO im Clinch

Statt Raketenschild droht neues Wettrüsten

Von Olaf Standke ****


Die NATO und Russland haben bei ihren Beratungen über einen Raketenschild in Europa erneut keine Fortschritte erzielt. Angesichts der stockenden Gespräche hat Moskaus Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow nachdrücklich vor einer neuen Runde des atomaren Wettrüstens gewarnt.

Russische Jagdflieger haben jetzt gemeinsam mit der NATO ein in den russischen Luftraum über dem Schwarzen Meer eingedrungenes Flugzeug abgefangen. Zwei Su-30-Jäger und ein Radarflugzeug vom Typ A-50 zwangen es zur Landung. Was der Sprecher der russischen Luftstreitkräfte da am Mittwoch bekannt gab, ist ein Manöverbericht. Erstmals probten beide Seiten im Rahmen der Russland-NATO-Übung »Vigilant skies 2011« die Abwehr von Terrorattacken.

Zur gleichen Zeit war man am Brüsseler Verhandlungstisch dagegen weniger erfolgreich. Die Beratungen über einen gemeinsamen Raketenschild in Europa kommen nicht voran.

Das Ziel der NATO seien weiterhin »zwei unabhängige Systeme mit einem gemeinsamen Zweck«, sagte Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Mittwochabend nach einer Sitzung des NATO-Russland-Rates der Verteidigungsminister, der ersten seit drei Jahren. Für Moskau allerdings sei diese Position »nicht hinnehmbar«, so Russlands Verteidigungsminister Serdjukow (Foto: AFP/Reed).

Der Nordatlantikpakt hatte im November auf seinem Gipfel in Lissabon beschlossen, einen Raketenschirm zum Schutz Europas zu installieren und dabei mit Russland zusammenzuarbeiten. Über die Details der Kooperation gibt es jedoch auch ein halbes Jahr später noch keine Einigung. »Die Differenzen sind grundsätzlich«, betonte Serdjukow. So besteht Moskau auf rechtsverbindliche schriftliche Garantien, dass der Abwehrschild nicht die eigene Fähigkeit zum Gegenschlag nach einem Atomangriff beeinträchtigen dürfe. Das wird vor allem von den USA abgelehnt, weil eine solche Garantie im Kongress nicht mehrheitsfähig sei.

Auch über das Endziel der Kooperation und die Struktur des Raketenabwehrsystems herrsche keine Einigung. Serdjukow verlangte eine Aufteilung der Raketenabwehr in zwei Sektoren, von denen einer von der NATO und der andere von Russland übernommen werde. Die Allianz jedoch setze sich über die russischen Sorgen hinweg, indem sie mit einzelnen Staaten wie Rumänien bilaterale Verträge über Raketenabwehrbasen schließe.

Rasmussen hofft auf eine Einigung mit Russland bis zum nächsten Allianz-Gipfel im Mai kommenden Jahres: »Wir haben beide unsere eigenen Interessen und die politische Herausforderung besteht nun darin, eine Brücke zwischen diesen Interessen zu bauen.« Moskau ist das zu vage – und warnt erneut: Wenn die seit Monaten andauernden Verhandlungen über einen gemeinsamen Raketenschild in einem Fiasko enden sollten, müsste Russland seine atomaren Offensivwaffen ausbauen, wie Serdjukow in Brüssel erklärte. »Wir haben einfach keinen anderen Weg.« Schon zuvor hatte Vizeaußenminister Sergej Rjabkow gedroht, man behalte sich in diesem Fall das Recht vor, aus dem START-Nachfolgevertrag zur Verringerung der strategischen Offensivwaffen auszusteigen.

**** Aus: Neues Deutschland, 10. Juni 2011


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