Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Von Hiroshima und Nagasaki nach Fukushima und Gronau

Von Wolfgang Nägel *

Ich spreche hier im Namen der „Anti-Atom-Aktion Kassel“, einer überparteilichen Gruppe, die seit der Katastrophe von Fukushima am 11. März 2011 regelmäßig montags gegen die Bedrohung durch die Atomindustrie protestiert. Wir tauschen aktuelle Informationen aus und berichten über Zusammenhänge und Hintergründe rund um Fukushima, Atomtechnologie und Energiewende. Dabei wurde zwangsläufig immer deutlicher, wie untrennbar die Bedrohung durch Atomwaffen und Atomkraftwerke miteinander verflochten sind.

Ich möchte das unter drei Blickwinkeln betrachten:
  • aus technischer Sicht
  • aus Sicht der Mächtigen
  • aus Sicht der Opfer
Der Technische Aspekt

Sowohl Atomwaffen als auch Atomkraftwerke nutzen die Energie, die bei der Spaltung von Atomkernen frei wird. In der Atombombe wird dazu eine unkontrollierte Kettenreaktion ausgelöst. Im AKW wird durch technisch komplizierte Methoden diese Kettenreaktion gebremst. Versagt eine Komponente dieses Bremssystems, kommt es zum GAU.

Aber von Anfang an:

Am Beginn der Nutzung von Atomenergie steht der Uranabbau. In den Ländern, in denen Uranerz abgebaut wird, führt dies zu massiver Vergiftung der Umwelt und der dort lebenden Menschen. Wenig davon dringt bis in unsere Medien durch. Natürliches Uran besteht zu etwa 0,7% aus dem spaltbaren Isotop Uran-235. In Anreicherungsanlagen wird dieser Anteil erhöht. Angereichertes Uran wird sowohl als Brennstoff in AKW als auch in Atombomben eingesetzt. AKW-Brennstoffe benötigen einen Anteil von 3 – 5%. Ab 20% Uran-235 ist das Material waffentauglich. Prinzipiell besteht also nur ein gradueller Unterschied zwischen Brennstoff und Waffe.

Die Anlage im westfälischen Gronau ist im Stande, 10% des weltweiten atomaren Brennstoff-Bedarfs zu decken.

Atomwaffen zu Ächten oder Atomkraftwerke abzuschalten würde also die Auswüchse der Atomtechnologie stutzen, um die gemeinsamen Wurzeln zu kappen, müssten jedoch die Anreicherungsanlagen und Forschungseinrichtungen geschlossen werden.

Wegen der gemeinsamen Grundlagen von Atombrennstoff und Atomwaffe gibt es ein massives Interesse am Betreiben von AKW, um so den Zugang zur Atomwaffen-Technologie zu ermöglichen bzw. zu erhalten. Zahlreiche Staaten haben das in der Vergangenheit schon praktiziert. Ein akutes Beispiel ist der Iran.

Der machtpolitische Aspekt

Mit der Intensivierung von Konflikten wie in Afghanistan oder Syrien nimmt auch die (schon überwunden geglaubte?) Gefahr eines Atomkrieges wieder zu. Atomwaffen bedrohen weniger die politischen oder militärischen Führungsstrukturen als vielmehr ganze Völker. Dadurch wird die Zivilbevölkerung zu Geiseln der politischen, militärischen und eben auch der wirtschaftlichen Interessen einer Atommacht.

Durch Atombomben haben Großmächte ein Machtinstrument, mit dem sie ihre Interessen durchsetzen und Gegner erpressen können.

Ist es Energiekonzernen gelungen, ein Land in die vermeintliche Abhängigkeit von Atomstrom zu manövrieren, kann es die politischen Entscheidungen im Sinne der Machterhaltung diktieren. Wie sonst könnte man erklären, dass die Energiewende hin zu dezentraler, regenerativer Energieversorgung eher gebremst als beschleunigt wird? Und wie will man sicherstellen, dass der noch über hunderte von Generationen strahlende Atommüll nicht die Bevölkerung gefährdet und auch nicht zu verbrecherischen Zwecken missbraucht wird?

Durch AKW haben Großkonzerne ein Machtinstrument, mit dem sie ihre Interessen durchsetzen und die Politik erpressen können. Sowohl die militärische als auch die zivile Nutzung der Atomenergie bedrohen gleichermaßen die Demokratie. Der Widerstand gegen Atomtechnologie ist also auch ein Kampf für Freiheit und Demokratie.

Der humanistische Aspekt

Aber leider gibt es nicht nur eine abstrakte Bedrohung durch die Atomtechnik. Es gibt viele hunderttausende Opfer unschuldiger Menschen. Am 6.August 1945 starben in Hiroshima 140.000 Menschen, drei Tage später, am 9. August in Nagasaki 73.000.

Bis zum Jahr 2012 sind noch einmal doppelt so viele Menschen an den Spätfolgen nuklearer Verstrahlung gestorben – insgesamt über 400.000. Jedes Jahr sterben heute noch in Japan über 3.000 Menschen an den Folgen atomarer Verstrahlung aus dem Jahr 1945.

67 Jahre danach liegen Hiroshima und Nagasaki also nicht hinter uns, sondern noch immer vor uns.

Die Katastrophe von Tschernobyl liegt erst 26 Jahre zurück. Die Internationale Organisation "Ärzte gegen Atomkrieg" schätzt, dass durch Tschernobyl bis heute 80.000 Menschen gestorben sind. Aber: In Tschernobyl wurde etwa 50 mal mehr Radioaktivität freigesetzt als in Hiroshima und Nagasaki zusammen. Das heißt: Auch Tschernobyl liegt nicht hinter uns, sondern vor uns!

Diese Zahlen stehen für Menschen, die an den Folgen der Atomtechnik gestorben sind. Hinzu kommen die unzähligen Schicksale erkrankter, verkrüppelter und behinderter Menschen. Und durch die Schädigung des Erbguts wird das Leiden auch in nachfolgenden Generationen fortgesetzt.

Und Fukushima?

Bis heute hält die atomare Verseuchung durch den GAU an. Das gesamte Ausmaß der Langzeitfolgen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ist unabsehbar. Im Juli hat das Gesundheitsdepartement der Präfektur Fukushima die neuesten Ergebnisse der Untersuchung von Schilddrüsen bei über 38‘000 Kindern veröffentlicht. Bei 36% der untersuchten Kinder wurden Zysten und Knoten entdeckt. Das sind also fast 14'000 Kinder. Das Gesundheitsdepartement hält 99,5% der Fälle für problemlos und will diese Kinder in den nächsten 2.5 Jahren nicht weiter untersuchen - es stellt sich die Frage, auf Grund welcher Kriterien dies entschieden wurde. Die genauen Ergebnisse, ebenso wie Bilder und Kommentare der Ärzte werden den Patienten und ihren Familien vorenthalten.

Einer der Hauptverantwortlichen dieser Untersuchung, Prof.Dr. Shunichi Yamashita, (Vizepräsident der Fukushima Medical University), empfielt auch den Kollegen der Gesellschaft der Schilddrüsen- Fachärzte in ganz Japan, gegenüber verunsicherten Patienten weitere Untersuchungen für unnötig zu erklären. Man kann also nur erahnen, welches Leid durch den GAU von Fukushima noch vor uns liegt.

Eine Zukunft in Frieden, Freiheit und einer intakten Umwelt erfordert den weltweiten Ausstieg aus der gesamten Atomtechnologie:
  • Uranabbau
  • Uranindustrie (Anreicherung)
  • Atomforschung
  • und am Ende der Kette Atomkraftwerke und Atomwaffen
Ein zu hoch gestecktes Ziel? Um so wichtiger ist es, dass wir nicht nachlassen, darauf hin zu arbeiten. Auch deswegen sind wir heute hier

* (Leicht gekürzte) Rede bei der Gedenkveranstaltung "Hiroshima und Nagasaki mahnen" des Kasseler Friedensforums am 9. August 2012.


Zurück zur Atomwaffen-Seite

Zur Kernkraft- und Energie-Seite

Zur Friedensbewegungs-Seite

Zurück zur Homepage