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Sieger haften nicht

Hiroshima, Nagasaki und die vergessenen Koreaner

Von Rainer Werning

»Durch einen grellen Lichtblitz, der den Himmel zerteilte, und einen Donnerschlag, der die Grundfesten der Erde erschütterte, wurde Hiroshima in einem einzigen Augenblick dem Erdboden gleichgemacht. Wo einst eine ganze Stadt gestanden hatte, stieg eine riesige Feuersäule gradlinig zum Himmel auf. Eine dichte Rauchwolke türmte sich auf und verdunkelte den Himmel. Darunter versank die Erde in tiefe Finsternis. Überall lagen Tote und Verwundete auf dem Boden, aufeinander gehäuft. Dieses Blutbad glich einer Höllenszene. Rundum brachen Feuer aus, bald herrschte eine einzige riesige Feuersbrunst, die von Augenblick zu Augenblick heftiger wurde. Da starker Sturm herrschte, begannen sich halbnackte und splitternackte Körper zu bewegen, dunkel gefleckt und blutüberströmt. Zu Gruppen zusammengeschlossen wankten sie, wie die Geister der Verstorbenen, davon, um in wirrer Flucht dem Inferno zu entgehen. (...) Sie glichen Gespenstern. Sich nur mit Mühe auf den Beinen haltend, wankten sie in langen Reihen dahin, um dem Feuertod zu entkommen.«

Hiroshima-Nagasaki no Genbaku Saigai (Dokumentation der Atombombenschäden in Hiroshima und Nagasaki), Iwanami Shoten, Tokio 1979

Die apokalyptischen Szenen wurden in den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki grausame Wirklichkeit, als über ihnen Flugzeuge der US-Luftwaffe am 6. und 9. August 1945 zwei Bomben mit verheerender Wirkung gezündet hatten. In einer am 6. August in Washington veröffentlichten Erklärung beschrieb US-Präsident Harry S. Truman die in Hiroshima explodierte Bombe und erklärte die »Notwendigkeit« ihres Einsatzes mit folgenden Worten: »Die Sprengkraft dieser Bombe betrug mehr als 20 000 Tonnen TNT. Ihr Explosionsdruck war zweitausendmal so groß wie der der britischen Bombe ›Grand Slam‹ (›Erdbebenbombe‹ – R.W.), der größten Bombe, die in der Geschichte der Kriegführung bislang eingesetzt wurde. (...) Jetzt sind wir bereit, jedes oberirdische Produktionsunternehmen der Japaner in jeder Stadt schneller und vollständiger zu vernichten. (...) Wenn sie (die japanische Regierung – R.W.) unsere Bedingungen jetzt nicht akzeptiert, darf sie mit einem Regen der Zerstörung aus der Luft rechnen, wie ihn die Erde bislang nicht erlebt hat.«

Dieser »Regen der Zerstörung« kostete bis heute – auf Grund von Spätfolgen des atomaren Infernos – weit über 400 000 Menschen das Leben. Daß etwa 20 bis 25 Prozent der Atombombenopfer Hiroshimas und Nagasakis Koreanerinnen und Koreaner waren und die Kaiserlich-Japanische Armee im Zuge ihrer Kriegführung in Südost- und Ostasien auf eine Großzahl zwangsrekrutierter Soldaten aus Korea zurückgegriffen hatte, verweist auf Koreas leidvolle (Vor-)Kriegsgeschichte. Die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels begann erst zwei Jahrzehnte nach Kriegsende, und ein »Bewältigen der Vergangenheit« ist bis heute über Ansätze kaum hinausgekommen. Beim alljährlichen Gedenken an die ersten Atombombenopfer bleibt das Schicksal der Koreaner weitgehend ausgeklammert. Während die Opferrolle Japans bei den Gedenkfeiern im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit steht, wird Japans historische Täterrolle in seinen Nachbarländern China und Korea geflissentlich verdrängt.

Opfer der »Pax Nipponica«

Nach seinen siegreichen Kriegen gegen China (1894/95) und Rußland (1904/05) war Japan in der Region zu einer bedeutenden Macht aufgestiegen, die sich anschickte, ihren Einfluß fortan auch politisch und wirtschaftlich auszuweiten. Bereits 1905 zum japanischen Protektorat erklärt, wurde Korea im Jahre 1910 von seinem übermächtigen Nachbarn okkupiert und bis 1945 als Kolonie Japans beherrscht.

Der Zusammenschluß von Korea und Japan, den der Tenno, der japanische Kaiser, verfügt hatte, sah die völlige Unterwerfung Koreas unter das Joch der japanischen Kolonialadministration vor. Das ging so weit, daß selbst das Sprechen der Landessprache verboten und die Japanisierung der koreanischen Namen erzwungen wurde. Die vorwiegend ländliche Bevölkerung Koreas (gut 80 Prozent waren Bauern) mußte innerhalb einer bestimmten Frist die Lage und Größe von Landparzellen den Kolonialbeamten melden, damit sich diese ein genaues Bild über die Boden- und Besitzverhältnisse verschaffen konnten. Der Zweck der Maßnahme bestand darin, Grundbesitz den Japanern und kollaborationswilligen Koreanern zu übereignen. Die meisten Bauern waren Analphabeten und verstanden die Aufforderung der Kolonialbehörden nicht. Kein Wunder, daß sie den Meldetermin verpaßten und so das Land verloren, von dem ihre Familien seit Generationen gelebt hatten.

Korea sollte schrittweise in die Reiskammer Japans verwandelt und sein Arbeitskräftereservoir systematisch ausgebeutet werden. Die Bauern hatten weiterhin auf »ihrem« Land zu arbeiten, nunmehr allerdings als Pächter. Lediglich Reis durfte angebaut werden, was dazu führte, daß zahlreiche Menschen verarmten und verhungerten. Gleichzeitig blockierte die Besatzungsmacht eine eigenständige koreanische Industrie. Statt dessen wurde die expandierende japanische Industrie mit dringend benötigten, zudem billigen Arbeitskräften versorgt. Waren koreanische Pachtbauern außerstande, ihre Abgaben pünktlich zu entrichten, wurden sie verschleppt und gezwungen, in japanischen Kohlengruben und Rüstungsfabriken zu schuften.

Mit der Eskalation der japanischen Aggression gegen China wurde die soziale Lage der Koreaner ab 1937 noch unerträglicher. In großer Zahl wurden Koreaner zwangsweise in japanische Armeeuniformen gepreßt. Schließlich standen Eroberungsfeldzüge in China, im Pazifik und in Südostasien (im Westen bis einschließlich Burma) bevor. Andere sahen sich aus purer Not oder durch falsche Versprechungen genötigt, Soldat zu werden. Etliche Familien der koreanischen Ober- und Bildungsschicht hingegen, die offen mit der Besatzungsmacht paktierten oder sie stillschweigend duldeten, schickten ihre Söhne aus Prestigegründen auf japanische Militärakademien. Später dienten sie dann, wie beispielsweise der langjährige südkoreanische Diktator Park Chung Hee (1961–79), als Offiziere in japanischen Truppenverbänden.

Um die japanischen Soldaten an den Fronten »bei Laune zu halten«, wurden seit Beginn der 40er Jahre koreanische jungshindae (sogenannte military comfort women) in die Prostitution gezwungen, ein Schicksal, das erst eine 1991 von betroffenen koreanischen Frauen gegen die japanische Regierung angestrengte Klage bekannt machte. Mindestens 200000 Mädchen und Frauen – neben Koreanerinnen auch Chinesinnen, Filipinas und Niederländerinnen – sind in jenen Jahren als Frontprostituierte mißbraucht worden.

Politisch fand der exklusive Führungsanspruch der japanischen Nation seinen Niederschlag in der »Größeren Ostasiatischen Gemeinsamen Wohlstandssphäre«, einem Projekt, das der japanische Außenminister Yosuke Matsuoka am 1. August 1940 auf einer Pressekonferenz vorstellte und mit dem Tokio seine imperialen Interventionen in Ost- und Südostasien sowie in Ozeanien legitimierte. Begründet wurde diese »Wohlstandssphäre« wie folgt: »Da das japanische Kaiserreich das Zentrum und der Pionier der orientalischen Moral und des kulturellen Wiederaufbaus ist, müssen die Offiziellen und das Volk dieses Landes zu dem orientalischen Geist zurückkehren und ein gründliches Verständnis des Geistes des moralischen Charakters der Nation erwerben. Ferner: Das japanische Kaiserreich ist eine Manifestation der Moral, und sein besonderer Charakter ist die Verbreitung des kaiserlichen Weges. (...) Es ist notwendig, die Macht des Kaiserreiches zu nähren, um Ostasien zu seiner ursprünglichen Gestalt der Unabhängigkeit und des gemeinsamen Wohlstands (...) zurückkehren zu lassen.« *

Als Zwangsarbeiter in Nagasaki

Erst als nach Kriegsende die neu-alten, von Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter unbehelligten Firmen des japanischen Big Business in neuem Glanz erstrahlten, anerkannte die Regierung in Tokio eine staatliche Fürsorgepflicht gegenüber Strahlenopfern. Zwei Tage nach Inkrafttreten des Friedensvertrages von San Francisco am 30. April 1952 wurde in Japan das Gesetz zur Versorgung der Kriegsversehrten und Kriegshinterbliebenen verkündet. Dieses galt allerdings nicht für Atombombenopfer unter »normalen Bürgern«. Diese wurden nicht als Kriegsopfer klassifiziert, so daß deren Versorgung im wesentlichen lokale und regionale Bürgerinitiativen, die sogenannten Räte für die Atombombenopfer, leisteten.

Widerfuhr der japanischen wie der koreanischen Bevölkerung in und um Hiroshima und Nagasaki infolge des Hochmuts imperialer Kriegspolitik unvorstellbares Leid, so kam für die koreanischen (Atombomben-)Opfer eine erniedrigende Existenz zwischen Traumatisierung, Demütigung und Unterdrückung hinzu. Stellvertretend für das Schicksal der allein 20000 koreanischen Zwangsarbeiter in Nagasaki, die vornehmlich zum Dienst für den Mitsubishi-Konzern abkommandiert worden waren, der dort Kreuzer und Torpedoboote für die kaiserliche Kriegsmarine fertigte und reparierte, gab der in einem Bunker überlebende Augenzeuge Pak Su Ryong zu Protokoll: »Die Zwangsarbeiter waren alle in Baracken gesteckt worden. Wie Hunde und Schweine, viele aus dem Norden (Koreas; R. W.), glaube ich. Sie durften nicht raus, nicht mit anderen Leuten reden. Wenn mehr als drei zusammenstanden, sperrte der Aufpasser von der Militärpolizei sie ein. (...) Sie wurden mit Bohnenkeks gefüttert. Das ist Schweinefutter. Natürlich sind sie Menschen. Sie flohen aus den Baracken. Ein paar Leute überlebten die Bombe, weil sie raus waren. (...) Nun sagt die Regierung: ›Geben Sie die Namen der durch die Bombe Getöteten oder Erkrankten an.‹ Nach so vielen Jahren! (Erst 1968 wurde mit Untersuchungen über koreanische Opfer begonnen; R.W.) Wie willst du das machen? Den toten Mann fragen?« **

Weil für die überlebenden Koreaner der Atombombenabwürfe über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki in den stehengebliebenen Häusern an den Stadträndern und in der Umgebung kein Platz war, waren sie die ersten, die in die verseuchten Atomwüsten zurückkehrten, dort ausharrten und kampierten. Sofern überhaupt, wurden verwundete Koreaner zuletzt gepflegt und ärztlich behandelt. Steht der Gedenkstein für die japanischen Atombombenopfer inmitten des Friedensparks von Hiroshima, so befindet sich jener zur Erinnerung an die koreanischen Opfer außerhalb dieses Parks auf der anderen Flußseite.

Mit dem Ende des Krieges und der japanischen Kolonialherrschaft verbanden die zu dieser Zeit in Japan registrierten Koreaner (zirka 2,3 Millionen im August 1945) die Hoffnung auf eine rasche Rückkehr in ihre Heimat. Vor allem die etwa 30000 überlebenden Atombombenopfer unter ihnen erwarteten zu Hause ein besseres Leben. Bis Ende 1946 sind schätzungsweise 1,3 Millionen Koreaner heimgekehrt – vielfach unter größten Schwierigkeiten. Im Nachkriegschaos fühlte sich niemand für sie verantwortlich: Die Japaner, die sie einst geholt hatten, kümmerte nunmehr ihr Schicksal nicht, während die neuen Sieger in Korea – die USA im südlichen und die Sowjetunion im nördlichen Teil der Halbinsel – mit anderem als der »Entsorgung« japanischer »Altlasten« befaßt waren. So sie überhaupt etwas zu veräußern hatten, verkauften Koreaner ihre letzte Habe, um auf eigene Faust auf dem Seeweg die Heimreise anzutreten. Je ärmer die Rückkehrer, desto zerbrechlicher die Boote, in denen sie die waghalsige Reise riskierten. Wie viele solcher »Nußschalen« kenterten, und wie viele Menschen dabei ertranken, hat keine Statistik gezählt.

Bereits 1947 ließ die Rückkehrbereitschaft der Koreaner nach. Die Ursache waren die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten Südkoreas unter der US-amerikanischen Militärregierung und die Beschränkung mitgeführter Bargeldbeträge für Heimkehrer. Laut Statistiken des japanischen Ministeriums für soziale Fürsorge, die unter der Ägide des US-Oberkommandos erhoben wurden, gab es zu dieser Zeit noch 647000 Koreaner in Japan. Fast 80 Prozent von ihnen hatten die Absicht geäußert, in die Heimat zurückzukehren, etwa 10000 von ihnen beabsichtigten, nach Nordkorea zu gehen. Doch der Beginn des Koreakrieges im Sommer 1950 durchkreuzte diesen Wunsch.

Fortgesetzte Diskriminierung

Diejenigen Koreaner, die es schließlich geschafft hatten, in ihre Heimat zurückzukehren, warteten und litten weiter. Vor allem galt das für die Hibakusha (die Atombombenopfer). Niemand, außer der eigenen Familie, sofern sie noch eine hatten, kümmerte sich um sie. Auch nach dem Ende des Koreakrieges (Juli 1953) erhielten sie weder ärztliche Betreuung noch öffentliche Hilfe. Appelle an den südkoreanischen, japanischen und US-amerikanischen Staat verhallten ohne Resonanz.

In dem 1965 auf Druck des gemeinsamen militärischen Bündnispartners USA zustande gekommenen »Normalisierungsvertrag« mit dem ehemaligen Aggressor Japan verzichtete das südkoreanische Militärregime gegen Zahlung von umgerechnet 500 Millionen US-Dollar auf jedwede weitere Entschädigung für die Greuel der Kolonialzeit. Das Geld floß in Prestigeobjekte der Regierung in Seoul (z. B. Autobahnen), während die Opfer (Zwangsarbeiter, ihres Bodens beraubte Bauern, ehemalige politische Gefangene, Hinterbliebene und schließlich die Hibakusha) leer ausgingen. Auf eben diesen Vertrag, mit dem der damalige südkoreanische Diktator Park Chung Hee die Rechte seiner Bevölkerung preisgegeben hatte, berief sich wiederholt die Regierung in Tokio, wenn es darum ging, den in Korea lebenden Atombombenopfern eine Entschädigung oder medizinische Behandlung vorzuenthalten.

Gleichermaßen verweigerten die USA jede offizielle Unterstützung der koreanischen Hibakusha mit dem Argument, der Sieger in einem Krieg hafte nicht für dessen Folgewirkungen. Diese Haltung ist kritikwürdig, zumal die USA die Atombomben zu einem Zeitpunkt abwarfen, als die Kapitulation Japans ohnehin unmittelbar bevorstand. Sehr wohl ist also denkbar, daß die USA in jenen Augusttagen des Jahres 1945 die letzte sich auf lange Sicht bietende Gelegenheit nutzten, um die neue Uran- bzw. Plutonium-Waffe in einem »echten« Krieg zu testen und gegenüber der Sowjetunion unmißverständlich Stärke zu demonstrieren. Jedenfalls befanden sich die koreanischen (Atombomben-)Opfer nicht im Kriegszustand mit den USA, so daß zumindest humanitäre Hilfe den Hibakusha gegenüber angemessen gewesen wäre.

1986 lief das bislang einzige Projekt aus, das rund 300 von etwa 20000 südkoreanischen überlebenden Atombombenopfern jeweils für einige Wochen oder Monate eine kostenlose Behandlung in japanischen Spezialkliniken ermöglichte. Die südkoreanische Regierung unterließ es, sich diplomatisch um darüber hinausgehende japanische Hilfe für die koreanischen Hibakusha zu bemühen. Die bis Anfang 1993 in Seoul regierenden Militärs waren zu abhängig von Japan, als daß sie bereit gewesen wären, die Regierung in Tokio mit der Entschädigungsfrage zu konfrontieren. Besonderes Ärgernis hatte die Äußerung des Diktators Chun Doo Hwan (1980–88) erregt: Auf die Bitte, sich bei seiner (heftig umstrittenen) ersten Japanreise eines koreanischen Staatsoberhauptes im September 1984 für die Belange der Atombombenopfer einzusetzen, reagierte er ungehalten und erklärte, auf seinem Besuchsprogramm stünden wichtigere Themen. So blieben sporadische Hilfen für die Atombombenopfer vielfach auf Initiativen kirchlicher Organisationen beschränkt.

* Siehe u. a.: Renato Constantino (ed.): Southeast Asian Perceptions of Japan, Tokyo/Quezon City 1991 und Saburo Ienaga: The Pacific War: World War II and the Japanese 1931–1945, New York 1978

** Weitere Fallbeispiele enthält die Dokumentation »The Children of the Atom – The Cases of the Second Generation Atom-bomb Victims«, Seoul 1986, die von Soo Bok Park im Auftrag der Korea Church Women United verfaßt wurde.

Aus: junge Welt, 7. August 2002


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