Für die Nato ist der präventive atomare Erstschlag eine entscheidende Option
Von Ian Traynor, Brüssel *
Um die „unmittelbar“ drohende Verbreitung von atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen zu stoppen, muss der Westen bereit sein, einen Präventiv-Angriff mit Nuklearwaffen zu führen. So steht es in dem radikalen Manifest für eine neue Nato, das fünf der einflussreichsten westlichen Militärbefehlshaber und Strategen vorgelegt haben. Die früheren Oberbefehlshaber aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden fordern eine Reform der Nato von Grund auf, einen neuen Vertrag, der die USA, die Nato und die Europäische Union zu einer „Groß-Strategie“ zusammenführt, um den Anforderungen in einer immer brutaleren Welt zu begegnen. Die fünf Militärstrategen machen deutlich, dass die Optionen für einen „nukleare Erstschlag“ ein „unverzichtbares Instrument“ bleibt, „einfach weil es keine realistische Aussicht für eine Welt ohne Atomwaffen gibt.“ Auslöser für das Manifest waren Diskussionen mit aktiven Befehlshabern und Entscheidungsträgern, von denen viele unfähig oder nicht willens sind, ihre Ansichten öffentlich auszusprechen. Vor zehn Tagen wurde das Papier dem Verteidigungsministerium in Washington und dem Generalsekretär der Nato, Jaap de Hoop Scheffer, vorgelegt. Die darin enthaltenen Vorschläge werden wahrscheinlich auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im April diskutiert.
„Es besteht unmittelbar die Gefahr, dass Nuklearwaffen weiter verbreitet werden, und mithin auch die Gefahr, dass der Einsatz solcher Waffen, wenn auch in beschränktem Umfang, möglich wird,“ erklären die Verfasser in ihrem 150 Seiten umfassenden Konzept für eine dringende Reform westlicher Militärstrategien und -strukturen. „Der Ersteinsatz von Nuklearwaffen muss im Arsenal der Eskalation das ultimative Instrument bleiben, um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu verhindern.“
Die fünf Autoren sind:
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General John Shalikashvili, früher Vorsitzender der Stabschefs der US-Streitkräfte (chairman Joint Chiefs of Staff) und Oberkommandierender der Nato in Europa,
- Klaus Naumann, früher Deutschland höchster Offizier und Vorsitzender des Militärkomitees der Nato,
- General Henk van den Bremen, früherer niederländischer Oberkommandierender,
- Admiral Jacques Lanxade, früherer französischer Oberkommandierender, und
- Lord Inge, Feldmarschall und früherer Chef des britischen Generalstabs und des Verteidigungsstabs.
Sie zeichnen ein beunruhigendes Bild der Gefahren und Herausforderungen, denen der Westen in der Welt nach dem 9. September ausgesetzt ist. Seiner Fähigkeit, diesen Gefahren zu begegnen, erteilen sie ein vernichtendes Urteil. Die fünf Militärführer behaupten, Werte und Lebensformen des Westens seien bedroht , aber dieser Westen bringe kaum den Willen auf, sie zu verteidigen.
Die hauptsächlichen Gefahren sind:
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- Politischer Fanatismus und religiöser Fundamentalismus,
- Die „dunkle“ Seite der Globalisierung, will sagen der internationale Terrorismus, das organisierte Verbrechen und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen,
- Der Klimawandel und die Sicherheit der Energieversorgung, die zu einem Wettlauf um Ressourcen und zu einer möglichen „Umweltflucht“-Bewegung großen Stils führen,
- Die zunehmende Schwäche der Nationalstaaten wie auch der internationalen Organisationen wie Vereinten Nationen, Nato und EU.
Um die Vormachtstellung des Westens zu behaupten, fordern die Generäle einen Wandel in den Entscheidungsmechanismen der Nato, ein neues „Direktorium“ der Führungskräfte der USA, Europas und der Nato, das in Krisensituationen zu schnellem Handeln in der Lage ist. Sie fordern außerdem ein Ende der „Obstruktion“ und der Rivalität von Seiten der Europäischen Union gegenüber der Nato.
Zu den radikalsten Änderungsvorschlägen gehören:
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Aufgabe des Konsensprinzips bei Entscheidungen in Nato-Gremien zugunsten von Mehrheitsentscheidungen, das heißt schnelleres Handeln durch Abschaffung des Vetorechtes der Mitgliedsstaaten;
- Abschaffung von nationalen Vorbehalten bei Nato-Operationen, wie sie zum Beispiel den Afghanistan-Einsatz belasten;
- Kein Mitspracherecht bei Nato-Einsätzen für Mitglieder, die an dem betreffenden Einsatz nicht beteiligt sind;
- Einsatz von bewaffneter Gewalt auch ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wenn „sofortiges Handeln erforderlich ist, um Menschenleben in großer Zahl zu schützen.“
Angesichts der jüngsten Kontroverse über das militärische Vorgehen in Afghanistan, die aufbrach, als Robert Gates, der amerikanische Verteidigungsminister, sagte, einige Verbündete könnten nicht gegen Aufständische vorgehen, erklären die fünf hochrangigen Militärs im Zentrum des westlichen Militär-Establishments, in der afghanischen Provinz Helmand werde sich die Zukunft der Nato entscheiden.
„In Afghanistan steht die Glaubwürdigkeit der Nato auf dem Spiel“, sagte van den Bremen. „Die Nato steht am Scheideweg und läuft Gefahr zu scheitern.“ Naumann übte beißende Kritik an der militärischen Leistung seines eigenen Landes in Afghanistan. „Es ist an der Zeit für Deutschland zu entscheiden, ob es ein verlässlicher Partner sein will.“ Indem sie auf „Sonderregeln“ für die deutschen Truppen in Afghanistan bestehe, trage die Regierung Merkel in Berlin zur „Auflösung der Nato“ bei.
Ron Asmus, Leiter des Europa-Büros des German Marshall Fund und früher hochrangiger Beamter im amerikanischen Außenministerium, bezeichnet das Manifest als „Weckruf“. „Dieser Bericht bedeutet, dass der Kern des Nato-Establishments sagt: Wir haben ein Problem, und der Westen ist unschlüssig und unfähig, sich den Herausforderungen zu stellen.“
Naumann gab zu, dass das Festhalten an der nuklearen Erstschlagsoption sogar bei den fünf Autoren des Plans „umstritten“ war. Inge erklärte, „eine selbst auferlegte Bindung in Sachen Erstschlag würde einen tragenden Pfeiler aus unserem Abschreckungssystem herausbrechen.“
Im Kalten Krieg war das Recht auf den nuklearen Erstschlag ein zentraler Bestandteil der Strategie des Westens, die zum Sieg über die Sowjetunion führte. Kritiker meinen, dass eine Strategie, die seinerzeit ein nützliches Instrument war, um eine nukleare Supermacht in Schach zu halten, heute nicht mehr angemessen ist.
Robert Cooper, der als Generaldirektor für außenpolitische Angelegenheiten der EU die europäische Außen- und Sicherheitspolitik entscheidend mitbestimmt, sagt, er sei „perplex“. „Vielleicht werden wir eher als alle anderen Atomwaffen einsetzen, aber ich würde mich hüten, das laut zu sagen.“
Ein anderer EU- Angehöriger meinte, die Nato müsse „ihre Einstellung zu Atomwaffen überdenken, weil das System der nuklearen Nichtverbreitung enorm unter Druck steht.“
Naumann gab zu bedenken, die Gefahr eines Nuklearangriffs sei ein verzweifelt schlechter Ratgeber. „Die Weiterverbreitung schreitet fort, und wir haben nicht viele Möglichkeiten, sie aufzuhalten. Wir wissen nicht, wie wir damit umgehen sollen.“ Die Nato, meinte er, müsse zeigen, „dass wir einen großen Stock haben, den wir vielleicht benutzen müssen, wenn wir keine andere Wahl haben“.
Die Autoren des Manifests:
John Shalikashvili
war oberster Militär unter Bill Clinton und Nato-Oberkommandierender in Europa. Seine Eltern stammen aus Georgien, er wurde in Warschau geboren und kam 1952, auf dem Höhepunkt Stalin-Ära, in die Vereinigten Staaten. Er war der erste Einwanderer, der es in den USA bis zum Viersterne-General brachte. Am Ende des Ersten Golfkriegs leitete er die Operation Provide Comfort in Nord-Irak, war dann SACEUR – der Oberkommandierende der Nato-Allianz in Europa. 1997 ernannte ihn Clinton zum Vorsitzenden der Stabschefs der US-Streitkräfte , ein Posten, den er bis zu seiner Pensionierung 1997 inne hatte.
Klaus Naumann
galt in den Neunziger Jahren er als einer der führenden Militärstrategien Deutschlands und der Nato. Von 1991 bis 1996 diente Naumann als Spitzenoffizier der deutschen Streitkräfte, dann wurde er Vorsitzender des Militärkomitees der Nato. Während seiner Dienstzeit überwand Deutschland das aus dem zweiten Weltkrieg stammende Tabu gegen Kampfeinsätze, als sich die Luftwaffe zum ersten Mal seit 1945 an der Luft-Offensive der Nato gegen Serbien beteiligte.
Lord Inge
ist als Feldmarschall einer der höchstrangigen britischen Offiziere. 1992-94 war er Generalstabschef, anschließend bis 1997 Chef des Verteidigungsstabs. Er war Mitglied der Butler-Kommission zur Untersuchung von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen und des britischen Geheimdienstes.
Henk van den Bremen
ist ein hervorragender Organist, der in der Abtei von Westminster gespielt hat. Er war niederländischer Generalstabschef.
Jacques Lanxade
französischer Admiral und ehemaliger Chef der Marine und des Französischen Verteidigungsstabes.
Aus dem Englischen von Ulrike Vestring
The Guardian, 22. Januar 2008
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