Göttinger Appell bleibt aktuell
50 Jahre nach der Erklärung zur Ächtung von Atomwaffen sehen Wissenschaftler hohen Aufklärungsbedarf - Ein Tagungsbericht
Von Roland Etzel *
Wir müssen aufklären, aufklären, aufklären!« Der Hamburger Kernphysiker und Friedensforscher Martin Kalinowski sieht die Arbeit der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) eher am Anfang als am Ende und erntete damit viel Beifall unter seinen für den Frieden engagierten Kollegen. Reichlich 100 Wissenschaftler der VDW und von IALANA, der deutschen Sektion der Internationalen Juristenvereinigung gegen Nuklearwaffen, hatten sich am Freitag abend im Berliner Magnus-Haus getroffen, um an den 50. Jahrestag des
Göttinger Appells zu erinnern, aber auch, um sich über aktuelle Aufgaben zu verständigen.
Den erwähnten Aufklärungsbedarf sieht Kalinowski in vielerlei Hinsicht, nicht zuletzt in bezug auf Atomwaffen auf deutschem Boden. Zwar könne das Vermächtnis der 18 Göttinger Kernphysiker von 1957 durchaus als erfüllt angesehen werden – dem Streben der Bundeswehr nach Atomwaffen wurde ein bis heute gültiges Stoppzeichen gesetzt. Von deutschem Boden verbannt seien sie aber trotzdem nicht. Etwa 150 Kernwaffen befänden sich als »luftgestützte Komponenten« in den Fliegerhorsten Büchel, Nörvenich und Ramstein, und es mache im Endeffekt »verdammt wenig Unterschied, ob darauf der Bundesadler oder Stars and Stripes« klebten.
Auf entsprechende Anfragen im Bundestag reagiere die Regierung wie ein bockiges Kind, verweise auf Bündnispflichten und NATO-Oberbefehle. Ein auch nur halbwegs ernsthafter Versuch, die Kernwaffen loszuwerden, sei niemals unternommen worden, weder unter »Rot-Grün« noch unter »Schwarz-Rot«. Und das, obwohl laut Umfragen 89 Prozent der Bevölkerung gegen die Stationierung seien. Kalinowskis Fazit: Die Göttinger Erklärung muß heute erweitert werden zu einem Bann der Kernwaffen überall auf der Welt. »Und den ersten Schritt müssen wir selbst tun.«
Wie schwer das ist, darüber geben sich die VDW-Aktivisten keinerlei Illusionen hin. Kalinowski konstatierte eine nahezu beispiellose Desinformationskampagne in Sachen Atomwaffen, die sich durch fast alle Medien zieht. Täglich gebe es neue Horrormeldungen über den Iran, denen jegliche Sachlichkeit abgehe. Daß gleichzeitig in den USA 20000 Ingenieure und Physiker ausschließlich damit beschäftigt seien, neue Kernwaffen zu entwickeln, werde dagegen überhaupt nicht thematisiert. Keine Rede ist auch von den mindestens 200 atomaren Kriegswaffen Israels, obwohl diese selbst das Arsenal der »offiziellen Atommacht« Großbritannien übersteigt, aber dafür um so mehr von den nach Vermutungen maximal sechs Atomraketen Nordkoreas – falls es sie überhaupt gibt.
»Wir werden von vorne bis hinten belogen« resümierte auch der Physiker und Träger des Alternativen Nobelpreises, Hans-Peter Dürr, in bezug auf den Iran, die US-Pläne zur angeblichen Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik, aber auch darauf, was die friedliche Nutzung des Atoms betrifft. Der erteilte Dürr eine klare Absage: »Jedem, der mir erklären will, daß wir die Kernkraft zur Lösung unserer Energieprobleme brauchen, sage ich: Dies ist die Argumentation eines Alkoholikers, der hofft, seine Probleme durch Einheiraten in eine Schnapsfabrik zu lösen.«
* Aus: junge Welt, 16. April 2007
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