Knechtschaft - in sechster Generation
E. Benjamin Skinner: "Nie gab es mehr Sklaven als heute!" - Das Geschäft mit menschlichem Elend
E. Benjamin Skinner, geboren 1976 in Wisconsin, USA, studierte an der
Wesleyan University im Bundesstaat Connecticut. Er schreibt für die
»Newsweek International«, »Foreign Affairs« sowie weitere amerikanische
Zeitungen und Zeitschriften und lebt in Brooklyn.
Nach groben Schätzungen leben heute etwa 27 Millionen Menschen im
Zustand der Sklaverei. Fünf Jahre lang war der amerikanische Journalist
E. Benjamin Skinner unterwegs, um vor Ort das Ausmaß des inzwischen
weltweit blühenden Sklavenhandels zu recherchieren. Sein Buch
»Menschenhandel. Sklaverei im 21. Jahrhundert« (Gustav Lübbe Verlag, 412
S., geb., 19,95 ?) ist ein erschütternder Bericht, der die globalen
Vernetzungen aufdeckt, und zugleich eine Anklage gegen die Unfähigkeit
der Politik, diesem Verbrechen ein Ende zu bereiten. Mit Skinner sprach für das ND (Neues Deutschland) Adelbert Reif.
ND: Mister Skinner, die Zahl von 27 Millionen Sklaven klingt geradezu
unglaublich. Wie konnte sie ermittelt werden?
E. Benjamin Skinner: In der Tat werden Sklaven versteckt gehalten. Denn
die Kriminellen, die von ihrer Arbeit profitieren, sind sich ihrer
kriminellen Handlungsweise durchaus bewusst. Zugleich setzen sie auf die
Furcht der Sklaven vor den Behörden. Insofern handelt es sich bei der
Zahl von 27 Millionen um eine Schätzung. Die Dunkelziffer liegt sehr
viel höher. Als Sklaverei gilt nach dieser Statistik, wer durch
Androhung von Gewalt und ohne Bezahlung zur Arbeit gezwungen wird. Das
ist eine sehr enge Definition. Allein in Indien, das mehr Sklaven hat
als jedes andere Land, vermutet man zwischen zehn und zwanzig Millionen
Sklaven.
Wie hoch schätzen Sie den Anteil an Kindersklaven?
So wie die weltweite Gesamtzahl der Sklaven umstritten ist, lässt sich
auch der Anteil der Kindersklaven nur schwer ermitteln. Wir müssen aber
davon ausgehen, dass es sich um etwa vierzig Prozent handelt. Wie
unkompliziert es ist, an ein Kind zu kommen, erlebte ich auf Haiti, wo
nach Schätzungen der Unicef 300 000 Kinder in Sklaverei leben. Sie
werden als Haushalts-sklaven gehalten und dazu gezwungen, zu kochen, zu
putzen. Sie erhalten regelmäßig Schläge und dürfen die Schule nicht
besuchen.
In der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince wurde ich von einem Mann
angesprochen, der sich als »Makler« vorstellte und mich fragte, ob ich
einen Menschen erwerben wolle. Als Preis für ein Mädchen, das als
Haushalts- und Sexsklavin benutzt werden sollte, verlangte er 100
US-Dollar. Innerhalb von fünf Minuten handelte ich ihn auf 50 Dollar
herunter.
Kauften Sie das Mädchen?
Nein, ich hielt mich bei meinen Recherchen an das Prinzip, nicht für
menschliches Leben zu bezahlen. Mitarbeiter einer Organisation, die
daran arbeitet, Sklaven zu befreien, baten mich, das nicht zu tun. Damit
würde ich dem Handel mit dem menschlichen Elend nur Aufschwung geben.
Selbst wenn ich alle 300 000 Sklaven freikaufte, gäbe es im nächsten
Jahr 600 000. Stattdessen begab ich mich in die Berge hinauf und suchte
das Dorf, aus dem das Mädchen in die Hauptstadt gebracht worden war. Es
war ein verzweifelt armes Dorf. Da die Familien weder für Nahrung noch
für medizinische Versorgung Geld hatten, blieb ihnen als Alternative nur
zuzusehen, wie die Kinder unter ihren Augen langsam starben. Verspricht
ihnen ein Händler für ihr Kind ein besseres Leben, treffen sie die
teuflische Wahl und händigen ihm das Kind aus.
Nach Ihrer Darstellung stehen zwei Hauptformen der Sklaverei im
Vordergrund: Sex- und Arbeitssklaverei. Welche relevanten Formen von
Sklaverei gibt es darüber hinaus?
In Indien gibt es Kinder, die gewaltsam als Soldaten eingesetzt wurden.
Ihre Geschichten sind absolut schockierend. Und es gibt Sklaven, die als
Kriegswaffen benützt werden. Das geschah in den 1980er und 1990er Jahren
im Sudan. Die Regierung in Khartum bewaffnete arabische Milizen und
schickte sie in den Süden, damit sie in den Dörfern der Dinka, der
größten Volksgruppe im Südsudan, die Männer töteten und die Frauen und
Kinder als Sklaven gefangen nahmen und in den Norden schafften. Die
große Tragödie ist nicht nur, dass Menschen als Arbeitsinstrumente
benutzt wurden, sondern auch als Waffe gegen Rebellion, wie hier gegen
den Süden, wobei bewusst ihre Identität zerstört wurde. Sie durften ihre
Sprache nicht sprechen, wurden gewaltsam arabisiert, zum Islam bekehrt
und teilweise beschnitten.
In welchen Ländern ist die Sklaverei am verbreitetsten?
Zweifellos in Indien und Südasien. In Indien leben Menschen in
Sklaverei, nur weil sie, ihre Eltern oder ihre Großeltern -- es gibt
Fälle, die sechs Generationen zurückreichen -- einmal eine kleine Summe
Geld geliehen hatten. Sie können weder lesen noch schreiben und ihre
angebliche Schuld entbehrt jeder rechtlichen Grundlage, auch nach den
indischen Gesetzen. Aber eine korrupte Polizei auf lokaler Ebene
verhindert die Anwendung von Gesetzen. Schuldknechtschaft ist ein
enormes Problem in Indien. Anzunehmen, dass sich das Land auf dem Rücken
der Versklavung eigener Landsleute entwickeln kann, ist ein Irrglaube.
Wo ist die Sklaverei in ihren Auswirkungen am brutalsten?
Man kann keine Rangfolge aufstellen. Die Sklaverei einer jungen Frau in
einem Bordell, die zehnmal am Tag vergewaltigt wird, ist ebenso grausam
wie die Sklaverei einer Frau, die in einem saudi-arabischen Haushalt zur
Arbeit gezwungen und regelmäßig vom Hausherrn vergewaltigt wird.
Ich möchte Ihnen ein Erlebnis aus Bukarest erzählen: In einem
Unterwelt-Bordell wurde mir eine junge Frau zum Kauf angeboten. Sie
hatte ein sichtbares Down-Syndrom und, wie die Schnitte an ihrem Arm
verrieten, bereits mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen, um den
täglichen Vergewaltigungen zu entkommen. Man hatte sie eilig geschminkt.
Doch sie weinte so heftig, dass ihr die Schminke vom Gesicht lief. Der
für sie geforderte Preis entsprach dem eines Gebrauchtwagens: 1500 bis
2000 Euro. Wenn man sich das Elend dieser Frau vorstellt, dann bekommt
man eine Vorstellung, was Sklaverei bedeutet.
Lässt sich für das Entstehen und die Ausbreitung von Sklaverei eine
Hauptursache benennen?
Fraglos ist absolute Armut ein zentraler Faktor in der Ausbreitung
heutiger Sklaverei. 1,1 Milliarden Menschen auf der Erde müssen mit
weniger als einem Dollar pro Tag ihr Leben fristen. Sie sind von der
Sklaverei am meisten bedroht. Als weiterer Faktor kommen die Kriminellen
hinzu, die aus dieser Armut Vorteile ziehen und Drohungen benutzen, um
diese Menschen in eine Lage zu bringen, in der sie noch weniger als arm
sind und zu Werkzeugen werden.
Nach Ihren Recherchen bilden vor allem die Länder Ost- und Südosteuropas
ein Reservoir für den Frauenhandel in fast sämtliche Länder Westeuropas.
Welchen Umfang hat dieser »Handel« inzwischen angenommen?
Auch hier lassen sich keine exakten Zahlen nennen. Die Kriege in Bosnien
und im Kosovo und vor allem der Fall der Sowjetunion schufen eine enorme
Zahl verzweifelter Menschen. Für Millionen gab es keine soziale
Sicherheit mehr. Ein besonders krasser Fall ist Moldawien, das ärmste
Land Europas. Ein großer Teil der weiblichen Bevölkerung im Alter
zwischen 18 und 34 Jahren hat das Land verlassen. Nicht alle diese
Frauen wurden gehandelt, aber doch sehr viele. Denn es ist schwer, aus
Moldawien in den Westen zu reisen. Ich fuhr in eine der kleinen Städte
auf dem Lande. Auf den Straßen sah ich nur alte Leute und junge Männer.
Eine unglaublich arme und triste Stadt. Die meisten Häuser hatten kein
fließendes Wasser. Was sie aber alle hatten, war ein Fernseher. Der
brachte ihnen Bilder vom westlichen Wohlstand.
Warum sind in Europa gerade die Niederlande ein so bevorzugter Platz für
die Sexversklavung von Ost- und Südosteuropäerinnen?
Dafür gibt es einen Grund: das entkriminalisierte System der
Prostitution. Einerseits gewährt es den Betroffenen einen gewissen
Schutz und Zugang zur Gesundheitsversorgung. Andererseits aber macht es
das Land zu einem Magneten für Sextouristen. Das Geschäft läuft nicht
nur in den überwachten Rotlichtbezirken, sondern auch in der Unterwelt,
wo es regelrecht explodiert ist. Ich befragte einen Polizeibeamten in
Amsterdam, der mir sagte, er wisse, dass seine Kollegen und er nur die
Spitze des Eisbergs kontrollierten. Wie groß der Eisberg sei, könne
niemand mit auch nur annähernder Sicherheit sagen.
Wie stellt sich die Lage in Deutschland dar?
Im Bereich des Sklavenhandels ist die Lage hier ähnlich wie in den
Niederlanden. Die deutsche Regierung erkannte zwar, dass der
Sklavenhandel ein ernstes Problem darstellt und 2007 verabschiedete sie
ein Gesetz zum Schutz der Opfer. In der Praxis müsste aber noch viel
mehr getan und über den Sexsklavenhandel hinaus auch die einheimische
Arbeitssituation in den Blick genommen werden. Immer wieder werden von
den Behörden Sklaven in Eisdielen, Bars und Restaurantküchen entdeckt.
Die erste Frage, die einem solchen Menschen gestellt werden sollte,
dürfte sich nicht auf seinen illegalen Status beziehen, sondern müsste
seinem persönlichen Befinden und seiner Arbeitssituation gelten. Im
Falle einer vorgesehenen Ausweisung müsste festgestellt werden, was mit
diesem Menschen in seinem Heimatland geschehen wird. Häufig werden die
unfreiwilligen Rückkehrer von den Mitgliedern des Händlernetzwerkes, die
sie in den Westen gebracht hatten, aufgespürt und sie selbst oder ihre
Familien zur Bezahlung von angelaufenen »Schulden« gezwungen.
Welche Haltung nehmen die Vereinten Nationen zur Frage der Sklaverei ein?
Mein Eindruck ist, dass sie auf diesem Gebiet versagt haben. In ihrer
Charta ist explizit festgeschrieben, Sklaverei und den Sklavenhandel zu
bekämpfen. Tatsächlich aber gibt es heute mehr Sklaven auf der Welt als
zu irgendeinem anderen Zeitpunkt der menschlichen Geschichte. Die Summe,
die es kosten würde, alle Sklaven zu befreien, ihnen rechtlichen Schutz
zu garantieren und sie zwei, drei Jahre bei ihrer Wiedereingliederung zu
unterstützen, beträgt zehn Milliarden US-Dollar, 400 US-Dollar pro
Sklave. Soviel kostet ein Monat Krieg im Irak.
Und was macht UNICEF?
Sie verfügt über einige gute Programme. Im Sudan sah ich
UNICEF-Programme, die mir sehr erfolgreich schienen. Auf Haiti dagegen
konnten ihre Programme nicht viel ausrichten. Grundsätzlich verfügt die
UNICEF über das Potenzial, viel zu bewirken. Aber sie ist angewiesen auf
das Mandat der UNO und die Unterstützung der reichen Länder. Ihre
Vertreter müssen in die armen Dörfer gehen und Vorkehrungen treffen,
dass die Menschen Kredite und eine minimale Grundversorgung erhalten.
* Aus: Neues Deutschland, 27. Dezember 2008
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