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Hunger: "Markt" versagt

Humanitäre Katastrophe in Ostafrika: Neben Dürre verschärft Zerstörung kleinbäuerlicher Agrarstrukturen aus Profitgründen Situation erheblich

Von Tomasz Konicz *

Die humanitäre Katastrophe in Ostafrika weitet sich aus. Nachdem Mitte Juli die ersten zwei Regionen Somalias von den Vereinten Nationen zu Hungergebieten erklärt worden sind, mußten die UN am vergangenen Mittwoch in drei weiteren Regionen des ostafrikanischen Bürgerkriegslandes mit einem »Failed state« (gescheiterten Staates) den Notstand ausrufen. Ab September könnten »alle Regionen im Süden Somalias« von der Hungersnot erfaßt werden, warnte UN-Sprecherin Fatumata Lejeune-Kaba gegenüber Medienvertretern der vergangenen Woche. Inzwischen gelten 3,6 Millionen Menschen als unmittelbar von den Auswirkungen der schlimmsten Dürre in Ostafrika seit 60 Jahren betroffen, die neben Somalia auch Landstriche in Kenia, Äthiopien und Dschibuti veröden ließ. In diesen Gebieten leben zwölf Millionen Menschen, die bereits an Mangelernährung konfrontiert leiden.

Die Opferzahlen gehen inzwischen in die Zehntausende. Angabenaus den USA zufolge sollen allein in den vergangenen drei Monaten 29000 Kinder unter fünf Jahren verhungert sein. Der Nahrungsmangel hat eine enorme Fluchtbewegung aus den betroffenen Regionen ausgelöst. Rund 400000 Somalis machten sich ins benachbarte Kenia auf, um dem Tod zu entgehen. Täglich kämen immer noch rund 1300 Menschen in den Flüchtlingslagern rund um die ostkenianische Stadt Dadaab an, meldeten Hilfsorganisationen. Schätzungen gehen von rund 860000 Menschen aus, die in den Nachbarstaaten Somalias Hilfe suchten. Zudem schlugen sich viele Bewohner aus den Hungergebieten in die kriegszerstörte Hauptstadt durch, erklärte Lejeune-Kaba. An die 100000 Menschen seien bereits in Mogadischu gestrandet, allein im Juli waren es etwa 27000. Die Anzahl der innerhalb Somalias umherirrenden Hungerflüchtlinge wir auf rund 1,5 Millionen geschätzt.

Neben dem in Somalia tobenden Bürgerkrieg behindern Finanzengpässe eine adäquate Versorgung in Ostafrika. Die UN-Mitgliedsländer haben derzeit Zusagen für rund eine Milliarde Euro gegeben, doch nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO würden aufgrund der Ausmaße der Katastrophe mindestens weitere 1,4 Milliarden US-Dollar benötigt. Auch Angaben der internationalen Hilfsorganisation Oxfam zufolge würden die Spenden bei weitem nicht ausreichen, um eine dramatische Verschlechterung der Lage in der Region zu verhindern. Die Hungerkatastrophe gerate »außer Kontrolle«, so Oxfam.

Dabei befinden sich weite Teile Ostafrikas im Zentrum einer seit der Lebensmittelkrise von 2008 um sich greifenden neokolonialen Entwicklung. Die sollte beispielsweise in Kenia oder Äthiopien einen regelrechten kapitalistischen Agrarboom auslösen. In diesen nun von Hunger bedrohten Staaten sollen zugleich im großen Ausmaß landwirtschaftliche Produkte für der Weltmarkt produziert werden. Beim sogenannten Land-Grabbing (siehe: jw vom 13.3.2010) kaufen Agrarkonzerne oder Finanzinvestoren aus den westlichen Industriestaaten oder aufstrebenden Schwellenländern gigantische Flächen für einen Spottpreis auf, um dort Lebensmittel, Energiepflanzen zur Erzeugung von »Biokraftstoff« oder einfach nur Blumen für die Konsumenten in den reichen Staaten anzubauen.

Diese Landnahme in den Hungergebieten der sogenannten dritten Welt erreichte laut einer Studie der Weltbank 2009 enorme Dimensionen. Weltweit wurden rund 45 Millionen Hektar langfristig verpachtet – während es zwischen 1998 und 2008 im Schnitt nur vier Millionen Hektar jährlich waren. In Äthiopien pflanzen beispielsweise indische Argarkonzerne Rosen für den europäischen Markt an, während gleichzeitig 4,5 Millionen Äthiopier auf Lebensmittelhilfen angewiesen sind. Die Regierung in Addis Abeba hat insgesamt 3,6 Millionen Hektar bester landwirtschaftlicher Nutzflächen für ausländische »Investoren« zur Verfügung gestellt, die nun Monokultur im gigantischen Stil betreiben. Äthiopische Regierungsstellen wie auch beteiligte Konzerne legitimieren dieses Agrarimperialismus mit einem dadurch eventuell einsetzenden Modernisierungsschub der Landwirtschaft Ostafrikas. Bislang sieht sich die lokale Bevölkerung allerdings mit Umsiedlungen und immer knapper werdenden landwirtschaftliche Ressourcen – hier vor allem Wasser – im Gefolge des Land-Grabbing konfrontiert. Und die oftmals minderjährigen Arbeiter auf diesen Riesenfarmen erhalten zumeist Tageslöhne von weniger als einem US-Dollar. Dieser Wert liegt also unterhalb der von UN und Weltbank definierten Armutsgrenze, den Gegenwert von 1,25 Dollar.

Die Agrarstrukturen, deren Unterentwicklung das Ausmaß der Hungerkrise verschärften, sind Folge einseitiger wirtschaftlicher Liberalisierungs­tendenzen, die seitens des Westens im Rahmen des »Washingtoner Consensus« den armen Ländern aufgezwungen wurden. Man schrieb den Staaten vor, ihre Agrarsubventionen abzubauen, aber die Märkte für die allerdings weiter hochsubventionierten westeuropäischen und nordamerikanischen Landwirtschaftsprodukte zu öffnen. Das trug in starkem Maße zur weitgehenden Zerstörung kleinbäuerlicher Produktionsstrukturen auch in Ostafrika bei, Strukturen, die eine wichtige Rolle bei der Hungerprävention spielen können. In Kenia, wo die staatlichen Getreidesubventionen stark gekürzt werden mußten, hat sich die lokale Versorgung verschlechtert. Zugleich halten EU und USA ihre Agrarzölle und Subventionen aufrecht – den Entwicklungsländern bleiben also diese Märkte weiterhin verschlossen.

Das kapitalistische Marktsystem versagt aber auch auf einer sehr grundsätzlichen Ebene angesichts der Hungerkrise in Ostafrika: Derzeit besteht in Somalia oder Äthiopien keine gesteigerte Marktnachfrage nach Lebensmitteln, obwohl dort Menschen massenhaft verhungern. Diese Tatsache rührt aus dem Umstand, daß »Marktnachfrage« »kaufkräftige Nachfrage« ist und nicht etwa der Deckung menschlicher Grundbedürfnisse dient, sondern nur eine Etappe im im Rahmen der Kapitalverwertung ist.

* Aus: junge Welt, 8. August 2011


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