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Jeder achte hungert

Kriege und Naturkatastrophen führen weltweit zu Unterernährung. Auch vier Millionen Syrer mittlerweile auf Lebensmittelhilfe angewiesen

Von Michael Merz *

Syrien ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich eine Hungerkatastrophe entwickelt. Vor zweieinhalb Jahren noch ein prosperierendes Land, in dem es keinen Mangel an Nahrungsmitteln gab. Das hat sich dramatisch geändert. »Vier Millionen Syrer sind aktuell auf Lebensmittelhilfen angewiesen«, warnte Bärbel Dieckmann, Präsidentin der Deutschen Welthungerhilfe. Jede vierte Familie habe an sieben Tagen im Monat nichts zu essen. Die Inflation mache Nahrungsmittel für viele Menschen unbezahlbar. »Die ersten Kinder sind bereits an Hunger gestorben«, unterstrich Bärbel Dieckmann. Zudem sei es schwierig für Hilfsorganisationen, ungehindert Zugang in das Land zu bekommen.

Doch nicht nur Syrien ist davon betroffen. »Es ist ein Skandal, daß jeder achte Mensch weltweit hungert«, so Dieckmann anläßlich der Vorstellung des diesjährigen Welthunger-Indexes (WHI) in Berlin am Montag. Es werde ausreichend produziert, um die gesamte Weltbevölkerung satt zu machen. Doch ein funktionierendes Steuersystem zur Verteilung fehle. Und so landen wohl weiterhin jährlich zum Beispiel 20 Millionen Tonnen Lebensmittel in deutschen Mülleimern. Angesichts dieses Zustands ist für Bärbel Dieckmann »mehr Widerstand wünschenswert«. Würde es in Europa keine Suppenküchen und Tafeln geben, seien auch auf diesem Kontinent 43 Millionen Menschen von Unterernährung bedroht.

Kriegerische Auseinandersetzungen sind häufig Ursache des Hungers von 842 Millionen Menschen auf der Welt. Auch Naturkatastrophen spielen zunehmend eine Rolle – Dürren vernichten Ernten und Viehbestände südlich der Sahara, Erdbeben lassen etwa den letzten Lebenswillen der Menschen in Haiti verschwinden. Der Klimawandel potenziert diese Einflüsse noch. »Für viele Familien in den gefährdeten Gebieten wie der Sahelzone ist nach der Katastrophe vor der Katastrophe«, sagte Bärbel Dieckmann. Diese Menschen würden auch nicht die Flucht über das Mittelmeer fürchten, wenn sie kurz vor dem Verhungern stünden. Die Welthungerhilfe plädiert dafür, die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der Menschen zu stärken, um extremen Wetterereignissen zu begegnen. Am Beispiel Haiti bedeute das, Wassersysteme zu schaffen, stabiles Saatgut zur Verfügung zu stellen, Häuser auszubauen, gegen Malaria und Cholera vorzugehen. »Jeder Dollar, der in Resilienz gesteckt wird, spart hinterher drei Dollar«, rechnete Dieckmann vor. So müsse auch die humanitäre Nothilfe stärker mit Entwicklungszusammenarbeit verzahnt werden. Gentechnik wiederum würde nicht bei der Reduzierung von Hunger helfen, sondern die Abhängigkeit der Kleinbauern von großen Konzernen verstärken.

Seit 1990 habe es etwa in Lateinamerika, Vietnam, Thailand, China oder Ghana enorme Fortschritte gegeben, doch die Situation sei nach wie vor ernst. Der Welthunger-Index mißt anhand dreier Indikatoren, wie es um die Versorgung mit Nahrungsmitteln in 120 Ländern bestellt ist. Der prozentuale Anteil der Unterernährten, der Anteil der unterernährten Kinder und die Kindersterblichkeit sollen ein umfassendes Bild des Hungers ergeben. Manche Länder wie Irak, Afghanistan oder Somalia sind ausgespart, da es nur unzureichend Daten gebe. Am schlimmsten ist die Situation laut WHI in Burundi, Eritrea und auf den Komoren. Aber auch in Südasien ist Hunger immer noch weit verbreitet. Dabei spielt das politische System oft keine Rolle. Bärbel Dieckmann führte Indien als ein Beispiel dafür an, daß Hunger an der Tagesordnung sei. Dennoch gelte das Land als westliche Demokratie.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 15. Oktober 2013

Informationen zum Welthunger-Index 2013

Welthunger-Index 2013: Widerstandsfähigkeit der Menschen stärken

Der Welthunger-Index erscheint 2013 zum achten Mal. Der gemeinsame Bericht von der Welthungerhilfe, dem Internationalen Forschungsinstitut für Ernährungspolitik (IFPRI) und der irischen Nichtregierungsorganisation Concern Worldwide zeigt die Entwicklung der Hungersituation auf globaler, regionaler und nationaler Ebene und untersucht die Gründe für negative und positive Entwicklungen.

Der diesjährige Welthunger-Index zeigt auf, wie Fortschritte bei der Hungerbekämpfung gesichert werden: Menschen werden dabei unterstützt, widerstandsfähiger gegenüber Naturkatastrophen, Konflikten und steigenden Nahrungsmittelpreisen zu werden.

Wie auch in den vergangenen Jahren stuft der Index die Situation in vielen Staaten als „ernst“ und in einigen Staaten wie Burundi und Eritrea sogar als „gravierend“ ein. Besonders stark betroffen sind Südasien und Subsahara-Afrika. Die größten Fortschritte bei der Hungerbekämpfung haben Ost- und Südostasien sowie Lateinamerika und die Karibik gemacht.

Indien ist es trotz seines stetigen Wirtschaftswachstums nicht gelungen, die verheerende Ungleichheit in der Bevölkerung – und damit das hohe Hungerniveau – zu reduzieren. Die beiden südostasiatischen Staaten Vietnam und Thailand haben ihr Wirtschaftswachstum hingegen als Chance genutzt und seit 1990 beachtliche Erfolge in der Hungerbekämpfung erzielt.

Den Bann brechen: Bewältigung von Krisen steht im Zentrum des Welthunger-Index 2013

Der Welthunger-Index 2013 zeigt, dass viele der Länder, in denen am meisten gehungert wird, am stärksten vom Krisen betroffen sind. Es reicht nicht, den Menschen dort kurzfristig zur Seite zu stehen, wenn eine Dürre zuschlägt oder die Nahrungsmittelpreise explodieren.

Damit sie dem Kreislauf aus Hunger und Armut entkommen, unterstützt die Welthungerhilfe sie langfristig dabei, widerstandsfähiger zu werden und arbeitet mit ihnen daran, Risiken zu reduzieren.

Künftigen Generationen könnte das 20. Jahrhundert einmal als sprichwörtliche Ruhephase vor dem Sturm erscheinen: Die Zahl der Naturkatastrophen steigt. Meldungen über mögliche Staatsinsolvenzen oder Blasen an Finanzmärkten weisen auf kaum wahrgenommene ökonomische Risiken hin.

Katastrophen gehören zum Alltag

Gleichzeitig erhöht sich die Zahl politischer Unruhen und Bürgerkriege. Für viele Menschen in Entwicklungsländern ist die Beständigkeit von Krisen nichts Neues: Mehr als die Hälfte der ländlichen Bevölkerung in der afrikanischen Sahelzone etwa hat keinen dauerhaft gesicherten Zugang zu ausreichender Ernährung; in Südostasien sind Überschwemmungen nach Tropenstürmen Normalität.

Schlägt eine Katastrophe zu, müssen die Menschen mit den Auswirkungen fertig werden: den Gefahren für ihre Gesundheit, dem Verlust von Eigentum oder der Zerstörung von Ernten. Wenn keine private Versicherung, kein Rettungsfonds einspringt, um Schäden abzudecken und keine Rücklagen vorhanden sind, bleiben den Menschen kaum Möglichkeiten. Sollen sie die Kinder aus der Schule nehmen, weil die Schulgebühren nicht mehr tragbar sind? Die Ernährung reduzieren? Oder die einzige Kuh verkaufen?

Externe Hilfe als letzte Chance

Die Zeiträume zwischen den Katastrophen sind zu kurz und die Ressourcen der Menschen zu knapp, um den Lebensstandard vor der Katastrophe wiederherzustellen. Der nächsten Krise können die Menschen noch weniger entgegensetzen. Externe humanitäre Hilfe bietet für viele die einzige Überlebenschance. Die Menschen bleiben in einer Abwärtsspirale aus Krise, Nothilfe und einer sich verschlechternden Lebenssituation gefangen.

Um diese Dynamik zu brechen, sind neue Denkansätze gefragt. Entscheidend ist, die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) von Menschen und Strukturen zu stärken. Dazu müssen vorhandene Kapazitäten und Mechanismen, die helfen Krisen zu überwinden, ausgebaut werden. Mit Notsituationen besser umgehen

Gleichzeitig müssen die Menschen dabei unterstützt werden, dass sie mit akuten Notsituationen und chronischen Belastungen wie Dürren besser umgehen können, ohne dabei ihre Lebensperspektive zu gefährden. Damit das gelingt, müssen Frühwarnsysteme aufgebaut, Nahrungsmittel gelagert und verarbeitet sowie Bewässerungssysteme gebaut werden. Eine stärkere Dorfgemeinschaft hat ein Auge darauf, dass die Behörden auch in Notsituationen Gelder transparent ausgeben und Hilfe bei den Bedürftigsten ankommt.

Und es muss Neues ausprobiert werden: Landwirte in Haiti haben auf den Anbau von Zwiebeln umgestellt, weil sie damit beim Verkauf einen höheren Gewinn erzielen und so ein Notpolster für schlechte Zeiten aufbauen können. In Kenia betreiben Bauern neben der Viehzucht Gartenbau, um ein weiteres Standbein zu haben.

Quelle: http://www.welthungerhilfe.de/




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